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Mein Schweigen

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Ich heiße Mirjam, bin dreizehn Jahre alt und lebe im Erziehungsheim «Zuversicht». Die Erzieherinnen Schmidt, Schmidli und Schmidheini streiten verstohlen und hartnäckig wegen meiner Erziehung; es ist, als nähme eine der andern die Türfalle aus der Hand, aber ich zöge die Tür von innen mit aller Kraft zu, so dass sie niemand öffnen könne. Fräulein Schmidt rüttelt nur; Fräulein Schmidli will die Tür eindrücken oder einschlagen, und Fräulein Schmidheini versucht, die andern zu übertrumpfen und zu überlisten, indem sie heimlich verschiedene Schlüssel ausprobiert. Der Heimleiter und die Psychologin mischen sich manchmal auch ein. Ich fühle mich wie ein leerer Handschuh, in den jeder seinen dicken Finger zwängt. Fräulein Schmidli hat neulich zu mir gesagt, ich lebte nach dem «frühkindlichen Lustprinzip». Ich finde es frech, so etwas zu einer Dreizehnjährigen zu sagen, die das gar nicht versteht; aus Wut habe ich wie ein böser Hund in ihren überlangen Arm gebissen. Gestern ging ich mit Fräulein Schmidt in die Stadt, weil sie mir Schuhe kaufen musste. Auf den Windschutzscheiben der Autos, auf den Brunnenröhren und auf den Tauben hüpften silberne Feuerchen; auch meine Fingernägel, die dumm und rund aussehen, glitzerten. Wie immer, wenn der Wind weht, konzentrierte er sich vor allem auf mich; meine Kleider flatterten wild, während die Kleider der andern Leute kaum zitterten. Es ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass die Nacht nie ganz weicht; Reste von ihr kleben in den Winkeln und schleichen heraus und wachsen.

Ich flüsterte beim Gehen, aber ohne Worte; nur meine Lippen öffneten und schlossen sich, während die Zungenspitze gegen den Gaumen und die Zähne tupfte. Dabei hörte ich das Dröhnen der Automotoren, das Kreischen der Straßenbahn und die Stimme, die manchmal meinen Namen ruft. Vor einem Warenhaus war eine große Plastikrakete aufgestellt; die Menschenmenge, die sich angesammelt hatte, erwartete Wunder, wenn sich die Rakete alle zehn Minuten wackelnd aufrichtete, wobei sich eine Luke öffnete und schloss. Fräulein Schmidt fragte, was ich flüstere, obwohl sie weiß, dass ich nie antworte. Nun bin ich in meinem Zimmer, das ich mit Ruth teile, die älter ist als ich, aber nur noch zwei Gesichter hat; die meisten Menschen haben mehr, und sie gehören ihnen nicht, weil sie sie nicht kennen. Ich zeige nur ein einziges Gesicht, und um dieses Gesicht zu besitzen, brauche ich meine ganze Kraft. Mich dünkt, meine Erzieher brechen den Mut, der mich wie einen Regenschirm aufspannt, aus mir heraus, Stück um Stück.

Ich nehme mein Aufsatzheft und schreibe «Der», «Die» und «Das» in Spiegelschrift auf eine leere Seite, dann zeichne ich ein Kreuz aus Blumen, das mich begeistert; es ist erstaunlich regelmäßig geraten, nur der linke Balken bleibt unvollständig, weil er sich zu weit außen befindet; der Papier­rand hindert mich daran, den Balken fertig zu zeichnen. «Es ist ein Gebinde», denke ich. Ich rahme das Kreuz mit vier schwarzen, dicken Strichen ein und schraffiere die Fläche; nun scheint das Kreuz auf einem Sarg zu liegen. Ich bedaure, dass die sich öffnenden Arme des «Gebindes» nicht gleich lang sind; da der linke Arm verstümmelt ist, kann es mich nicht richtig, das heißt fest, in die Arme schließen.

Die Tür öffnet sich und Fräulein Schmidheini tritt rasch ein, als wolle sie mich ertappen. Ihr Atem bewegt mein ­dünnes Haar. Wie ich erwartet habe, erkundigt sie sich nach meiner Tätigkeit; ich habe das Heft schnell unter eine illustrierte Zeitschrift geschoben, wende den Kopf nach ihr um und betrachte ihre Nase. Das rechte Nasenloch ist kleiner als das linke. Der Satz «Das Schweigen steht wie eine Wand», den ich einmal irgendwo gelesen habe, passt nicht; mein Schweigen gleicht einem elektrisch geladenen Drahtgeflecht, in dem ich gefangen bin.

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