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Der Dornenbaum

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Iselin fühlte dringend die Notwendigkeit, sich in eine Geschichte zu begeben, sich vom Leben mitnehmen zu lassen, um sich ausweisen zu können. Er machte die notwendigen Schritte, arbeitete und sparte und kaufte ein verfallenes Haus auf unwegsamem Gelände, das er ausbesserte. Er nahm eine magere, blonde Frau mit schwarzem Haaransatz zu sich, die ihn «Iselin» nannte, obwohl er einen hübschen Vornamen hatte, und die alte Kleider umänderte, die Iselin auf dem Flohmarkt in der Stadt verkaufte.

Iselin suchte erst einen Arzt auf, als die Schmerzen in seinem Körper sich zu einem Dornenbaum ausgewachsen hatten. Zwei Wochen musste er auf den Bescheid warten, dann begab er sich wieder in die Klinik. Er saß im weißen Untersuchungsraum auf einem Stuhl; seine langen Hände lagen auf den Knien, und die groben Schuhe waren schmutzig. Flüchtig dachte er an das merkwürdige Scharreisen neben seiner Haustür, das die Form einer Seejungfrau hatte, und an die Schwalben, die in der Garage nisteten. «Ihr Blut ist phan­tastisch!», rief plötzlich der Arzt und blätterte im Untersu­chungsbericht. «Es ist nicht nötig, dass Sie sich dem Messer ausliefern oder Pillen schlucken; ich verschreibe Ihnen eine Salbe gegen die Geschwulst am Hals. Sind Sie nicht froh?» – «Sehr froh», bestätigte Iselin und wartete, bis der Arzt sein hinterhältiges Kritzeln im Krankenbericht einstellen würde. Als er sich verabschiedete, erschrak er über den Blick der ältlichen Arztgehilfin, die stumm beobachtete, wie er die falsche Tür öffnete; hinter der Tür saß ein Kind in einem Laufgitter und zerriss Brot.

Jeden Tag bedachte er von nun an, dass der Arzt sein Blut «phantastisch» genannt hatte; er versuchte sich einzureden, sein Blut sei der Retter, der die Krankheit wegspüle. Doch nach einiger Zeit wurde die Vorstellung, dass dieses Blut (rot plätschernd, hellrot lachend) ihn betrüge, zur Gewissheit. Noch später argwöhnte er, das Wort «phantastisch» sei überhaupt kein Grund zur Beruhigung, sondern sei im Gegenteil dem abgründigen Zynismus des Arztes, der einen Spitzbart trug, zuzuschreiben. Iselin war nun überzeugt, dass er nur zum Schein, nur versuchsweise (wie spielerisch) daran gezweifelt hatte, dass der Arzt ihn belog.

Der Frau gegenüber erwähnte er den Besuch beim Arzt nicht. Ihr fiel auf, dass er an jenem Abend, als er später als sonst aus der Stadt zurückkehrte, gezielt auf eine Biene spuckte, die auf dem Weg vor dem Haus krabbelte; früher hatte er dergleichen nie getan.

Eines Morgens riss die Haut auf Iselins geschwollenem Hals. Er fühlte sich schwach und legte sich oft mit den Schultern aufs Bett, was die Frau ärgerte, die nun die Kleider selber in der Stadt verkaufen musste. Einmal bewegte Iselin den kleinen, weißen Mund, der wie das Zeichen für «Schmerz» zwischen Nase und Kinn stand, und sagte mit der hohen, fliegenden Stimme, die ihm eigen war: «Lies mir etwas vor.» – «Lies selber», antwortete die Frau. Der Pfarrer des Dorfes besuchte ihn im roten Pullover und lachte: «Nicht so schlimm, mein Lieber; es gibt Schlimmeres! Heute beschäftigen uns: A – eine schwere Flugzeugkatastrophe in den USA, und B – eine Panne am Versuchsreaktor in München.» Iselins große Ohren am geschorenen Kopf zuckten, und der Pfarrer wartete einige Minuten, bevor er ihn verließ.

Später sah Iselin hinter dem Fenster, an dem sein Bett stand, einen rosendunklen Wolkenstrauß lodern; der Nachtwind blies ihn aus, doch Iselin blickte noch immer hinauf. Als die Frau die Fensterläden mit heftigen Bewegungen schloss, klagte er, er könne sich nicht ausweisen. «Du hast einen Pass!», schrie sie. Er flüsterte auch, er habe Angst vor den Zöllnern, die die kalte Bettflasche in seinem Bett fänden (wobei ihn nicht die Tatsache, dass er eine Bettflasche unter der Decke versteckt hielt, beunruhigte; schlimm fand er, dass dieselbe kalt war), doch da war die Frau schon aus dem Zimmer gegangen, um nie mehr zurückzukehren. Um Mitternacht erwachte Iselin und hatte das deutliche Empfinden, der Dornenbaum in seinem Körper schlürfe sein Blut, schlucke es gierig bis zum letzten Tropfen. Iselin wunderte sich nicht, dass das Blut, das der Arzt «phantastisch» genannt hatte, dem durstigen Baum gut schmeckte, und er wartete mit aufmerksamer Freude, bis er ganz leergetrunken wäre und schlapp wie ein Schlauch daläge.

Als der Pfarrer das abseitsstehende Haus aus einer Lau­ne heraus – oder weil ihm die junge, blonde Frau gefallen hatte – wieder aufsuchte, war Iselin seit fünf Tagen tot.

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