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Die Käferwohnung

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Stephan wohnte erst wenige Tage bei der Großmutter. Als er vor ihrem Haus aus dem Auto gestiegen war, sang der Schnee eine weiße Melodie und tanzte dazu wie die Tontupfen in seinem Notenbuch, so dass Stephan nicht hörte, was die Großmutter zur Begrüßung sagte. Auch ihre Miene konnte er nicht deuten, denn der Kälte wegen verhüllte ein Tuch ihr Kinn und die Stirn. Als er dann im stickigen Zimmer am Fenster stand – jenseits der Straße strich ein Eisenzaun seinen Schatten durch, der rückwärts in den Schnee gesunken war –, verstand er wiederum nicht, was die Großmutter über den Tisch hinweg seiner weinenden Mutter erklärte. Die Mutter trug einen neuen Hut mit gelben Kugeln darauf, die sich wie Küken aneinanderdrängten. Im Fenster sah er die Großmutter doppelt, verschwommen, als ob sie versuchen würde, aus sich selbst zu steigen. Eine blaue, verzeichnete Lampe beleuchtete ihre zitternde Hand, die vielleicht Angst hatte, jemand komme und tadle sie, verhafte sie, drohe ihr mit Folterung. Ihre Füße hielten sich unter dem Tisch umschlungen wie zwei schlafende Katzen.

Stephan spielte jeden Tag im Hof hinter dem Haus; als ob die Brille seiner Großmutter sich vervielfältigt hätte, blinkten Hunderte von Fenstern. Am Abend sah er dahinter gelbe, weiße und rötliche Lichter, dann wurde er zum Nachtessen gerufen. Um den Hals trug die Großmutter die Maria und den Antonius, und Stephan musste die beiden vor dem Zubettgehen küssen; das ekelte ihn, als ob er den Kaugummi, aus dem jemand den Pfefferminzgeschmack längst hinausgebissen und hinausgesogen hatte, mit der Zunge hätte berühren müssen. Da er nun der Großmutter gehörte, musste er jeden Tag auf der Blockflöte «Komm heiliger Geist» und andere fromme Lieder spielen. Sein Vater war Schauspieler und Sänger; er bewunderte ihn heimlich, da die Mutter und die Großmutter ihn vor einem Leben, wie es der Vater führte, warnten. Stephan konnte nicht singen; er stotterte, und dieses Gebrechen war schuld, dass er die Hoffnung aufgegeben hatte, einst ein Mann wie sein Vater zu werden. Im Traum sah er die Großmutter mit rotem, braunem oder blondem Haar in Korridoren, in Konditoreien und vor Kirchentüren. Sie kicherte am Telefon, atmete an des Knaben Ohr, rutschte auf den Knien durch die Küche und leckte an einer weißen Taube. Am Morgen erwachte er, wenn sie ihren Nachttopf in die Toilette leerte. Sie trug stets eine große Ärmelschürze, und die Mieter grüßten mit furchtsamem Lächeln, wenn sie Staub auf der Treppe fand oder lärmende Kinder zurechtwies.

An einem langen Nachmittag hielt sich Stephan im Keller verborgen, da er Angst hatte, die Großmutter würde ihn des milden Wetters wegen vom Balkon aus beim Spielen beobachten. Es tropfte vom Dach, und die Lampen schaukelten über der Straße. Als es dunkel wurde, trat er in den Hof und sah ein Mädchen, das rote Gummistiefel trug und die Stadt verwüstete, die er aus Steinen erbaut hatte. Die Erregung darüber empfand er wie ein Flattern, ein Ausschlagen von starken Fäden, die sich dann schnell zu einem Knäuel drehten und in seinem Hinterkopf steckenblieben; erst jetzt begann er zu schreien und lief auf das fremde Kind zu, das ihn anstarrte. Es hatte Augen wie aus Glas und ein langes Kinn. Während Stephan weinte, wurde ihm bewusst, dass der Knäuel im Kopf nach vorn rutschte, sich auflöste und mit langen Armen über sein Gesicht hing; er fühlte sich gelähmt, als gehöre er diesem Kind, als habe es ein Recht, ihn zu bestrafen oder zu verlangen, dass er vor ihm niederknie. «Weshalb hast du das getan?», fragte er, doch die Frage klang, als versuche sie, sich selbst auszulöschen. Während er auf den Boden kauerte und mit seinen Fingern suchend umherglitt, ging das Mädchen fort.

Hier auf diesem flachen Stein hatte Stephans Mutter gewohnt – dort auf dem gewölbten, fast schwarzen Stein der Vater mit der neuen Frau; beide Steine waren umgefallen, und zu Stephans Entsetzen liefen kleine Tiere darüber. Auf dem spitzen Stein, der nun schief stand, hauste die Großmutter mit ihrem Enkel und schälte Kartoffeln, griff mit geschwärzten Händen ins Feuer, um Holz aufzulegen, schob den heulenden Staubsauger durch die Wohnung und las Heftchen.

Stephan sah hoch oben einen einzigen Stern, ein winziges Funkeln. Ob es Zeit war fürs Nachtessen? Vielleicht hatte die Großmutter das Rufen vergessen, dann war es besser, er ging nun leise ins Haus und zeigte auf der Treppe ein gleichgültiges Gesicht, damit niemand auf den Gedanken komme, er sei verzweifelt.

Am nächsten Tag war es kalt. In einer Ecke lag Schnee wie nasser Zucker. Stephan stieß Steine in die Erde; er baute eine neue Stadt. In der Mitte hob er einen Graben aus; dort durften die Käfer wohnen. Äste teilten diesen Korridor in kleine Zimmer. Mit zwei Fingern wanderte er von einem Raum in den andern und plauderte, wobei ihm gar nicht bewusst wurde, dass er nicht stotterte: «Guten Tag, Großmutter. Sieh, wir wohnen nun hier mit den Käfern. Seit die Käfer eine eigene Wohnung haben, fällt es ihnen nicht mehr ein, in die Häuser zu steigen und die Mutter und den Vater und die neue Frau zu belästigen, und auch für uns ist es besser so; die hohen Häuser können umfallen, aber uns im Graben kann nichts geschehen. Die Tiere sind zwar widerlich, aber wir werden uns an sie gewöhnen.» Er erhob sich, klaubte einen Apfel aus der Hosentasche und aß, während er mit strengem Gesicht hin- und herschritt und seine Stadt im Auge behielt.

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