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2.2 Die Schweiz in der klassischen Typologie von parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystemen

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Eine der wichtigsten Fragen bei der Analyse eines politischen Systems ist diejenige nach der konstitutionellen Herrschaftsorganisation. Welche Rolle hat der Verfassungsgeber für die einzelnen Staatsgewalten vorgesehen, wie werden sie bestellt und wie ist ihr institutionelles Verhältnis zueinander? Damit beschäftigt sich vor allem die ältere, am verfassungssystematischen Ansatz orientierte Regierungslehre (Friedrich 1966; Loewenstein 1975; Steffani 1979, 1983, 1997). Sie interessiert sich primär für die formal geregelte Institutionenordnung von demokratischen Regierungssystemen. Damit sind die in der Verfassung festgeschriebenen Normen der Machtverteilung, -kontrolle und -begrenzung, also die institutionelle Ausgestaltung des Exekutive-Legislative-Verhältnisses gemeint. Die daraus entwickelten Typologien unterscheiden primär zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Systemen (Steffani 1979, 1983). Während das parlamentarische System durch die gegenseitige Abhängigkeit von Legislative und Exekutive geprägt ist, zeichnet sich das präsidentielle System durch die Unabhängigkeit von Regierung und Parlament aus.

Auch wenn in der Literatur Einteilungskriterien und Gewichtung teilweise leicht variieren, können drei Merkmale als die bedeutsamsten zur Unterscheidung der Regierungssysteme betrachtet werden: Gewaltenverschränkung versus Gewaltentrennung von Regierung und Parlament; Parlaments- versus Volkswahl der Regierung; Kollegial- versus Ein-Personen-Exekutive. Vor allem die beiden ersten Merkmale gelten als grundlegend (Lijphart 1992, 2012; Steffani 1979, 1983). Die Dichotomie zwischen parlamentarischem und präsidentiellem System führt zwar zu Schwierigkeiten bei der Einordnung der Schweiz. Anhand dieser drei Merkmale kann aber trotzdem eine erste Zuordnung der Schweiz vorgenommen werden.

– Gewaltenverschränkung versus Gewaltentrennung von Regierung und Parlament: Das erste Kriterium zur Unterscheidung von alternativen Typen demokratischer Verfassungssysteme ist die institutionelle Verschränkung von Regierung und Parlament. Die Exekutive ist in parlamentarischen Systemen vom Vertrauen der Legislative abhängig: Das Parlament kann per Misstrauensvotum die Exekutive abwählen. Umgekehrt hat die Regierung das Recht zur Auflösung des Parlaments und zur Ausschreibung von Neuwahlen. In präsidentiellen Systemen hingegen ist die Regierung für eine in der Verfassung festgelegte Dauer gewählt und kann von der Legislative nicht vorzeitig zum Rücktritt gezwungen werden. Die Schweiz entspricht gemäss diesem Kriterium eher dem präsidentiellen Regierungstyp. Zwar wird das objektive Gewaltentrennungsprinzip auf Bundesebene durch die Parlamentswahl des Bundesrats durchbrochen. Allerdings wird in der Praxis eine relativ starke Gewaltentrennung dadurch gewährleistet, dass die Bundesversammlung den Bundesrat nicht durch einen vorzeitigen Misstrauensantrag stürzen kann und der Bundesrat nicht über die Mittel verfügt, um das Bundesparlament vorzeitig aufzulösen.11

– Parlaments- versus Volkswahl der Regierung: Das zweite zentrale Unterscheidungsmerkmal bildet das Wahlverfahren der Regierung. Während in parlamentarischen Systemen die Exekutive von der Legislative gewählt wird, entscheidet im Präsidialtypus der Souverän mittels direkter Volkswahl über die Regierungszusammensetzung. In diesem Punkt unterscheiden sich die politischen Systeme der Schweiz auf Bundes- und Kantonsebene. So wählt die Vereinigte Bundesversammlung (National- und Ständerat in gemeinsamer Sitzung) die Mitglieder des Bundesrats für die festgelegte Dauer von vier Jahren (Art. 175 Abs. 3 BV), und nach jeder Gesamterneuerung der Volkskammer (Nationalrat) findet auch eine Gesamterneuerungswahl des Bundesrats statt. Damit entspricht das Wahlorgan der Regierung auf Bundesebene demjenigen in parlamentarischen Systemen.12

– Kollegial- versus Ein-Personen-Exekutive: Das dritte Kriterium zur Unterscheidung demokratischer Regierungssysteme definiert Lijphart (1992: 3) wie folgt: «Parliamentary systems have collective or collegial executives whereas presidential systems have one-person, non-collegial executives.»13 Bekanntlich wird die Schweiz im internationalen Vergleich als Paradebeispiel eines Kollegialsystems mit mehreren gleichberechtigten Regierungsmitgliedern bezeichnet. Gemäss den Prämissen des Kollegialprinzips werden sie alle im gleichen Verfahren für dieselbe Amtsperiode gewählt, erfüllen gemeinsam und gleichberechtigt ihre Aufgaben und treten gegen aussen geschlossen auf.14

Ausgehend von diesen drei Definitionsmerkmalen lässt sich eine erste Zuordnung der Schweiz in die klassische Dichotomie demokratischer Regierungsformen vornehmen. Das Regierungssystem der Schweiz auf Bundesebene zeigt in einem Punkt Eigenschaften eines präsidentiellen Systems (Gewaltentrennung von Regierung und Parlament ohne gegenseitiges Auflösungsrecht). Die Parlamentswahl der Regierung sowie das ausgeprägte Kollegialitätsprinzip15 auf Regierungsstufe gelten hingegen als typisch für ein parlamentarisches Regierungssystem.16 Die Lösung für Staaten wie die Schweiz ist die Ergänzung der klassischen Dichotomie um eine hybride Klasse. In Tabelle 2.1 findet sich die Typologie parlamentarischer, präsidentieller und hybrider Regierungssysteme mit ausgewählten empirischen Beispielen. Die historischen Länderbeispiele weisen darauf hin, dass die Kantone im Gegensatz zum Bund17 in Bezug auf diese Konstellation über ein politisches Regierungssystem verfügen, das in seiner Form nicht völlig einzigartig ist, sondern sich auch im Ausland wiederfindet. So gilt Uruguay während der sogenannten Colegiado-Phase von 1952 bis 1967, in der sich die vom Volk für eine bestimmte Legislaturperiode gewählte Kollegialregierung aus neun Mitgliedern der beiden grössten Parteien zusammensetzte, als «the purest example of a collegial presidency» (Lijphart 1984: 85). Auch die Republik Zypern von 1960 bis 1963 lässt sich mit ihrer direkt vom Volk gewählten Kollegialbehörde in den ersten Jahren der Unabhängigkeit derselben Kategorie zuordnen (Shugart und Carey 1992: 21). Das Beispiel Uruguays, das sich mit seinem Institutionengefüge stark am schweizerischen Vorbild der kollegialen Exekutivgewalt und der Einführung der direkten Demokratie orientiert hat, weist gleichzeitig darauf hin, dass dieselben Institutionen in verschiedenen Kontexten zu ganz unterschiedlichen Entwicklungen und Resultaten in der Praxis führen können. Dies verdeutlicht die Grenzen der Übertragung von in einem Land erfolgreicher Institutionenarrangements auf andere Länder (Altman 2008).

Aufgrund der hybriden Position des schweizerischen Regierungssystems in der bestehenden Klassifikation des präsidentiellen und parlamentarischen Strukturtyps erstaunt es kaum, dass die Zuordnung der Schweiz seit je schwierig und umstritten ist. In dieser Frage herrschen unterschiedliche Ansichten bei in- und ausländischen Experten und Expertinnen, und es stehen sich auch innerhalb der schweizerischen Regierungslehre teilweise widersprüchliche Positionen gegenüber. Während Steffani (1979: 43) in seiner für die deutschsprachige Politikwissenschaft prägenden Typologie die Schweiz aufgrund der fehlenden politischen Abberufbarkeit der Regierung durch das Parlament eindeutig dem präsidentiellen Systemtyp zuordnet, 18 behandelt sie Lijphart (2012: 94) in seinem einflussreichen Grundlagenwerk als parlamentarisches Regierungssystem. Anders wiederum Riklin und Ochsner (1984: 79), die die Schweiz als einen nicht zuzuordnenden Sonderfall betrachten, bei dem es sich sowohl um ein «nicht parlamentarisches» als auch um ein «nicht präsidentielles» Regierungssystem handle. Gerade umgekehrt argumentiert Linder (2012: 216), der festhält: «Die schweizerische Verfassung stellt einen Mischtypus mit Elementen beider Systeme dar.» Für Linder (2012: 217) teilt das schweizerische System mit dem parlamentarischen Typus die Art der Wahl der Regierung, während die Unabhängigkeit in den Beziehungen zwischen der Regierung und dem Parlament mit der ausgeprägt geringen Fraktionsdisziplin der Regierungsparteien in starker Analogie zum präsidentiellen System steht. Auch Lijphart (2012: 108) bezeichnet die Schweiz schliesslich an anderer Stelle als eine hybride Regierungsform mit gleichzeitig sowohl präsidentiellen als auch parlamentarischen Zügen, wobei sie stärker Letzteren zuneigen würde.

Die relativ spät erfolgte Ausdifferenzierung der Typologie von Regierungssystemen mit der Einführung der Mischform des semipräsidentiellen Typs (Duverger 1980) ist für Länder wie Frankreich hilfreich gewesen, lieferte für den Schweizer Fall aber keine zusätzlichen Erkenntnisse. Hingegen hat sich die darauf aufbauende und vor allem in der angelsächsischen Politikwissenschaft einflussreiche Weiterentwicklung von Shugart und Carey (1992) als ertragreich erwiesen. Die beiden Autoren gehen von den beiden Kriterien «Kompetenzen des Präsidenten über das Regierungskabinett» sowie «Trennung von Parlament und Kabinett» aus. Daraus erstellen sie eine fünf Formen umfassende Typologie von Regierungssystemen: parlamentarischer und präsidentieller Typ, zwei Ausprägungsformen des Semi-Präsidentialismus (präsident-parlamentarisch; premier-präsidentiell) und System der versammlungsunabhängigen Regierung («assembly-independent regime»). Letzteres zeichnet sich dadurch aus, dass die Regierung durch das Parlament gewählt wird, von diesem aber nicht abberufen werden kann. Zudem hat das Staatsoberhaupt keine Macht über das Regierungskabinett. Insbesondere verfügt es nicht über die Kompetenz, die anderen Regierungsmitglieder zu führen, zu ernennen oder zu entlassen. Zusammengefasst handelt es sich dabei um ein demokratisches Regime, das einerseits eine maximale institutionelle Trennung in Bezug auf das «Überleben» von Regierung und Parlament kennt. Andererseits verfügt die Regierungschefin bzw. der Regierungschef über keinerlei präsidentielle Autorität gegenüber dem Regierungskabinett, sondern ist nur ein gleichberechtigtes Mitglied einer Kollegialbehörde. Diese Beschreibung eines versammlungsunabhängigen Regierungssystems trifft genau auf die Schweiz zu und wird in der Literatur auch unter dem Begriff des Direktorialsystems als zwar wenig bekannter, aber durchaus eigenständiger Typus eines Regierungssystems aufgeführt (Kriesi 1998, 2008; Loewenstein 1975). Eine Direktorialdemokratie zeichnet sich also durch eine Kollegialregierung mit gleichberechtigten Mitgliedern (Direktorium) aus. Diese übt gleichzeitig die Funktionen des Staatschefs bzw. der Staatschefin, der Premierministerin bzw. des Premierministers und des Kabinetts aus. Ihre Mitglieder übernehmen damit die doppelte Aufgabe der gemeinsamen Staatsführung und der Leitung einzelner Ministerien. Das Präsidium rotiert jährlich zwischen den Regierungsmitgliedern und ist nicht mit zusätzlichen Kompetenzen, sondern primär mit symbolischen Repräsentationsverpflichtungen verknüpft.

Historisch geht das direktoriale Regime auf die zwischen 1795 und 1798 bestehende letzte Regierungsform der Französischen Revolution und den darauffolgenden Einmarsch der französischen Truppen in das heutige Gebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft zurück. Die französischen Revolutionstruppen unter der Herrschaft von Napoleon verordneten 1798 die zentralstaatliche Verfassung der Helvetik.19 Darin wurde das Regierungssystem des kollegialen Direktoriums festgeschrieben. Die Organisation der Regierung in der Helvetischen Republik (1798–1803) war damit nichts anderes als eine Kopie des kollegialen Direktoriums, wie es in der französischen Revolutionsverfassung von 1795 festgeschrieben worden war, das aber in Frankreich nur kurze Zeit praktiziert wurde. Diese Regierungsform konnte zudem auch an das Vorbild der vom Schultheiss geführten kollegialen Exekutive im Kleinen Rat der Stadtkantone anknüpfen. Die exekutive Gewalt auf Bundesebene setzte sich damals aus einem fünfköpfigen Direktorium gleichberechtigter Regierungsmitglieder zusammen.20 Bei der Gründung des modernen Bundesstaats von 1848 griffen die Verfassungsväter in modifizierter Form auf diese Regierungsform zurück, die sich zwischenzeitlich auch in einigen Regenerationskantonen bewährt hatte (Kölz 1992).

Tabelle 2.2 liefert eine Übersicht über die erweiterte Typologie demokratischer Regierungssysteme, wie sie von Shugart und Carey (1992) hergeleitet, von Kriesi (2008: 11) leicht verändert und vom Verfasser noch einmal angepasst wurde (Vatter 2020: 40).21 Mit dem neu eingeführten Systemtyp von Shugart und Carey (1992) besteht nun die Möglichkeit, die Schweiz begrifflich eindeutig als versammlungsunabhängiges Direktorialsystem einzuordnen.

Die verfassungssystematische Typologie unterscheidet anhand der beiden Hauptkriterien der Bestellung und Abberufung der Regierung. Sie macht deutlich, dass im versammlungsunabhängigen Direktorialsystem in Bezug auf das zentrale Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative ein ambivalentes und dynamisches Verhältnis besteht, das sich je nach Zeitpunkt in der Legislaturperiode verändert. Zu Beginn der Legislaturperiode, d.h. zum Zeitpunkt der Regierungsbildung, hängt die Exekutive wie in parlamentarischen Systemen von der Legislative ab und wird von ihr bestellt. Da die Regierung aber vom Parlament für eine festgelegte Periode von vier Jahren gewählt wird, besteht zwischen den beiden Gewalten eine befristete Unabhängigkeit. Der Bundesrat kann deshalb während der Legislaturperiode wie in präsidentiellen Systemen nicht mehr abgewählt werden. Zudem kann weder das Parlament dem Bundesrat die Vertrauensfrage stellen noch die Regierung das Parlament auflösen. Je nach Zeitpunkt der Legislaturperiode gibt es damit eine unterschiedliche Dominanz der parlamentarischen oder der präsidentiellen Systemwirkung. Daraus sowie aus der Besonderheit der gleichberechtigten Kollegialregierung resultiert die Bezeichnung als versammlungsunabhängiges Direktorialsystem. Sie ist zwar aus einer international vergleichenden Perspektive weniger geläufig. Aber sie trägt den Besonderheiten des schweizerischen Regierungssystems weit besser Rechnung als eine in Teilen immer unzutreffende Zuordnung in die Dichotomie der beiden klassischen Grundtypen von parlamentarischen und präsidentiellen Systemen. Ergänzend findet sich als vierte und neue Variante das Regierungssystem mit einem bzw. einer vom Volk gewählten Ministerpräsidenten oder Ministerpräsidentin ohne feste Amtsperiode, der oder die über die Kompetenz verfügt, das Parlament aufzulösen, sich aber gleichzeitig dem Misstrauensvotum des Parlaments stellen muss. Diese Regierungsform ist nicht nur theoretischer Art, sondern wurde in Israel zwischen 1996 und 2003 praktiziert, bevor das Land wieder zum parlamentarischen System zurückkehrte. Sie wurde zudem von Experten auch schon für Länder wie Italien (Barbera 1990) und die Niederlande (Lijphart 1984) vorgeschlagen. Barbera (1990) bezeichnet dieses System mit einem vom Volk direkt gewählten Regierungschef als «neoparlamentarisch», weshalb hier dieser Begriff verwendet wird.

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