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3.3 Die zukünftige politische Zusammensetzung des Bundesrats

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Die Wählerverluste der vier Regierungsparteien bei den eidgenössischen Wahlen 2019 sowie die Nichtwahl der Grünen-Präsidentin Regula Rytz als Vertreterin der viertstärksten Partei führten im Anschluss an die Bundesratswahlen Ende 2019 zu einer intensiven Debatte über die zukünftige Regierungszusammensetzung. Mit der Bestätigung der amtierenden Bundesräte (2 FDP, 2 SP, 2 SVP, 1 CVP) bei den Gesamterneuerungswahlen 2019 wurde die seit 60 Jahre geltende Zauberformel mit je zwei Sitzen für die drei stärksten Parteien und einem Sitz für die wählermässig viertstärkste Partei endgültig aufgehoben. Es stellt sich damit die Frage, nach welchen Kriterien die Schweizer Regierung in Zukunft parteipolitisch zusammengesetzt werden soll. Kaum bestritten wird, dass auch zukünftig eine Konkordanzregierung in Form einer Mehrparteienkoalition die Geschicke des Landes lenken soll und nicht eine Ein- oder Zweiparteienregierung, wie sie in mehrheitsdemokratischen Konkurrenzsystemen üblich ist.

Die Regierungskonkordanz lässt sich begrifflich in politische Konkordanz und arithmetische Konkordanz unterscheiden (Bochsler und Sciarini 2006: 107). Die politische Konkordanz verlangt, dass eine Regierung ihre Entscheidungen möglichst im gütlichen Einvernehmen und nach einer breit abgestützten Kompromisssuche trifft (Bühlmann et al. 2019; Lijphart 1977). Dieser Politikstil, der sich durch eine hohe Konsensbereitschaft, die Berücksichtigung von Minderheiten, starke Loyalitäten und gegenseitiges Entgegenkommen zur kooperativen Konfliktregelung auszeichnet, hat in der Nachkriegszeit das politische Eliteverhalten in der Schweiz stark geprägt. Der SP wurde bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren vorgeworfen, durch ihre oppositionelle Referendumspolitik und gleichzeitige Regierungsbeteiligung ein Doppelspiel zu betreiben und damit dem konkordanten Politikstil zu schaden. Diese Kritik bezog sich in jüngerer Zeit vor allem auf die SVP, was 2007 auch ein Grund für die Nichtwiederwahl von Bundesrat Christoph Blocher (SVP/ZH; 2004–2007) war. Vor diesem Hintergrund hat der Genfer Politikwissenschaftler Pascal Sciarini vor einigen Jahren die Forderung nach einer «kleinen Konkordanz» aufgestellt.3839 Er spricht sich für eine parteipolitisch eingeschränkte Regierungszusammensetzung im Sinn einer «inhaltlichen (d.h. politischen) Konkordanz» aus: Die Schweizer Koalitionsregierung soll sich demgemäss nur noch aus drei Parteien zusammensetzen, wobei entweder die SP oder SVP in die Opposition gehen soll. Mit einer Mitte-rechts- oder Mitte-links-Koalition würde nicht nur der konkordante Regierungsstil gestärkt, sondern auch eine kohärentere Regierungspolitik erreicht, wobei sich die drei Regierungsparteien mit einem Koalitionsvertrag auf ein gemeinsames politisches Regierungsprogramm zu verpflichten hätten. Dies wiederum fördert einerseits die Gefahr von Blockaden des Entscheidungsprozesses durch eine Vielzahl von Referenden durch eine starke Oppositionspartei. Andererseits setzt es die Schaffung von starken institutionellen Anreizen für die Bildung einer politisch homogeneren Dreiparteienregierung und den Wechsel von der Regierung in die Opposition voraus, weshalb Sciarini eine institutionelle Reform hin zu einem parlamentarischen System fordert.

Da kurz- bis mittelfristig ein Systemwechsel nicht zur Diskussion steht und von keiner Partei gefordert wird (siehe Kapitel 8), beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die Debatte über die Umsetzung der arithmetischen Konkordanz. Unter dieser wird die proportionale Zusammensetzung der Regierung (Proporzregierung) und damit die möglichst anteilsmässige Verteilung der sieben Mandate gemäss den Parteiwählerstärken auf die gesamte Regierung verstanden. Mit Recht wurde darauf hingewiesen, dass die zukünftige Verteilung der Bundesratssitze nicht einer rein arithmetischen Proporzlogik folgen werde.40 Da es hier um eine eminent machtpolitische Frage gehe, 41 versuche jede Partei ihre eigenen Ansprüche maximal durchzusetzen. Umso wichtiger ist es, im Detail aufzuzeigen, welche Regeln und Verfahren zu gerechten Ergebnissen im Interesse möglichst vieler führen – und welche Absprachen opportunistisch nur einzelne Interessen bevorteilen.

Für die Berechnung der arithmetischen Konkordanz im Sinn einer möglichst proportionalen Vertretung der Parteien in der Regierung stehen verschiedene mathematische Sitzzuteilungsverfahren zur Verfügung, wie sie bei Proporzwahlen zur Anwendung kommen. Die in der Wahlsystemforschung weltweit gängigsten und bekanntesten Verfahren sind diejenigen von D’Hondt (bzw. Hagenbach-Bischoff), 42 Sainte-Laguë und Hare-Niemeyer (Nohlen 2014). Während das Hagenbach-Bischoff- bzw. D’Hondt-Verfahren systematisch kleinere gegenüber grösseren Parteien benachteiligt, verhalten sich das Hare-Niemeyer- (Quotenverfahren mit Restausgleich nach grössten Bruchteilen) und das Sainte-Laguë-Verfahren (Divisorverfahren mit Standardrundung) neutral in Bezug auf die Wählerstärke der Parteien (bzw. begünstigen im Vergleich zum Hagenbach-Bischoff-Verfahren in der Tendenz kleinere Parteien gegenüber grösseren).43 Insbesondere das Sainte-Laguë-Verfahren beschränkt die Abweichungen von der Proportionalität auf ein Minimum. Als Berechnungsgrundlage können entsprechend den verschiedenen Vorschlägen der Parteien entweder die Wählerstärken der Parteien gemäss den Nationalratswahlen, die Sitzanteile der Parteien im Nationalrat oder die Sitzanteile der Fraktionen in der Bundesversammlung (National- und Ständerat) zugrunde gelegt werden. Zusätzlich können auch noch die Folgen bei einer Erhöhung der Anzahl Bundesräte von sieben auf neun berücksichtigt werden (siehe auch Kapitel 8). Anhand der eidgenössischen Wahlergebnisse von 2019 liefert Tabelle 3.1 eine Übersicht über die resultierende Sitzzahl für die einzelnen Parteien in der Regierung gemäss den unterschiedlichen Zuteilungsverfahren und Berechnungsgrundlagen.


Die Grünen (GPS) erhalten bei allen Zuteilungsverfahren ausser beim heutigen Status quo einen Bundesratssitz zugesprochen.44 Das gilt im Übrigen auch für die CVP mit Ausnahme der von ihrem damaligen Generalsekretär Martin Rosenberg begründeten alten Zauberformel. Die SVP erhält bei allen Varianten mindestens zwei Sitze; bei dem für den Nationalratsproporz verwendeten Hagenbach-Bischoff-Verfahren sogar drei Sitze.45 Bemerkenswerterweise entspricht der von Bundesrat Christoph Blocher (SVP/ZH; 2004–2007) unterbreitete Vorschlag nicht dieser für die SVP vorteilhaften Variante, sondern folgt dem Ergebnis des Sainte-Laguë- und des Hare-Niemeyer-Verfahrens. Das Sainte-Laguë-Verfahren verlangt zuerst einen Zuteilungsdivisor. Das ist der Prozentanteil, der benötigt wird, um mindestens einen Bundesrat zu stellen, also 100 geteilt durch 7 = 14,29. Die Faktoren auf der Zeile «Sainte-Laguë» in Tabelle 3.1 zeigen, wie oft der Zuteilungsdivisor von den Parteien erreicht wird (z.B. für die SVP 1,76 Mal). Die SVP erhält demnach zwei Sitze, die SP, FDP, Grüne und CVP je einen Sitz. Sechs Sitze sind nun verteilt und es stellt sich die Frage, welche Partei den siebten Sitz erhält. «Um den siebten Bundesratssitz wird es nun immer Debatten gegeben», resümierte Altermatt unlängst.46 Die SVP entfällt gemäss Sainte-Laguë als Nutzniesserin, da ihr Faktor für zwei Sitze bereits aufgerundet wurde. Dasselbe gilt für die CVP und die Grünen. Auch die FDP käme nicht infrage, da sie einen geringeren Wähleranteil als die SP aufweist, die in der ersten und eindeutigen Sitzzuteilungsrunde ebenfalls einen Sitz erhalten würde. So konzentriert sich die Vergabe des siebten Sitzes auf die Frage, ob die GLP einen ersten oder die SP einen zweiten Sitz erhält. Mathematisch ist die Antwort eindeutig, da die höchste Dezimalstelle über die Vergabe des siebten Sitzes entscheidet: Während die GLP mit einem Faktor von 0,55 Anspruch auf einen ersten Sitz hat, liegt derjenige für den zweiten SP-Sitz nur bei 0,18.

Gemäss dem Hare-Niemeyer- und dem Sainte-Laguë-Verfahren lautet die neue Parteienformel bei den arithmetisch proportionalsten Umrechnungsverfahren also 2–1–1–1–1–1. Diese Verteilung weist zunächst den Vorteil auf, dass sie den Mehrheitsverhältnissen im Nationalrat entspricht und dafür sorgt, dass weder der rechtsbürgerliche Block (FDP und SVP) noch das rot-grüne Lager (SP und GPS) über eine absolute Mehrheit im Bundesrat verfügen würde. Im Sinn der «politischen Konkordanz» entspricht sie darüber hinaus mit dem Einbezug aller relevanten Kräfte den Anforderungen an ein funktionierendes Konkordanzsystem und erleichtert wechselnde Allianzen. Im Weiteren folgt sie auch der Konkordanzlogik einer starken Machtteilung, indem keine grosse Partei überproportional viel Macht erhält. Dieses Berechnungsverfahren wird in den letzten Jahren auch immer häufiger bei Kantons- und Gemeindewahlen eingesetzt. Zudem können auch jüngere Entwicklungen wie die Verluste der etablierten Regierungsparteien ebenso berücksichtigt werden wie die jüngeren Erfolge der grünen Oppositionsparteien GPS und GLP. Gemäss dem Verfahren von Hare-Niemeyer und Sainte-Laguë wären schliesslich wieder rund 90 Prozent der Wählerschaft mit ihrer Partei im Bundesrat vertreten, womit das zentrale Repräsentationskriterium mehr als erfüllt wäre. Gegen diese Lösung könnte eingewendet werden, dass die GLP nicht einmal die Hälfte des Wähleranteils der SP aufweist und trotzdem gleich viele Sitze im Bundesrat erhielte. Zudem bestünde mit einem GLP-Sitz die Regierung neu aus insgesamt sechs Parteien, was zu mehr Konflikten und Instabilität innerhalb der Regierung führen könnte. Um eine zu starke parteipolitische Fragmentierung der Exekutive zu verhindern, könnte deshalb ein Mindestquorum von z.B. 10 Prozent Wählerstärke bei den Nationalratswahlen als Voraussetzung für einen Sitz in der Regierung vereinbart werden. Dies hätte bei allen Zuteilungsverfahren zur Folge, dass auf die SVP und die SP je zwei Sitze entfielen, während FDP, CVP und die Grünen je eine Vertretung stellen würden. Im Ergebnis entspräche es genau dem Vorschlag der Grünen, den sie nach den eidgenössischen Wahlen 2019 für eine neue Sitzverteilung im Bundesrat im Sinn einer Modifikation der alten Zauberformel eingebracht hatten. Sie forderten vor allem den Einzug in die Regierung auf Kosten des zweiten FDP-Sitzes.47 Von der neuen Regierungszusammensetzung würde auch die CVP profitieren: Als Medianpartei avancierte sie zur entscheidenden Mehrheitsbeschafferin für Links und Rechts. Faktisch schlagen die Grünen diejenige Formel vor, bei der die beiden grössten Parteien je zwei Sitze erhalten, während die dritt- bis fünftgrössten Parteien Anrecht auf je ein Bundesratsmitglied haben. Da aber nur die SVP als grösste Partei deutlich mehr Wähleranteile aufweist als die nahezu gleichauf liegenden zweit-, dritt- bzw. viertgrössten Parteien, resultiert jene 2–2–1–1–1-Parteiformel aus keinem mathematischen Zuteilungsverfahren ohne Mindestquoren. Es ist zwar die FDP, die – knapp vor der SP – mathematisch betrachtet am wenigsten Anrecht auf einen zweiten Sitz hat. Gleichzeitig haben die Grünen den grössten Anspruch auf einen eigenen Sitz. Folgt man dieser Zuteilungslogik, hat aber eben auch die SP deutlich weniger Anrecht auf einen zweiten Sitz als die GLP auf einen ersten Regierungssitz. Würde hingegen ein Mindestquorum von beispielsweise 10 Prozent Wähler- bzw. Sitzanteil für Parteien bzw. Fraktionen vereinbart, um einen Bundesratssitz zu erhalten, dann würde aus allen mathematischen Zuteilungsverfahren die «grüne Zauberformel» resultieren.

Als weitere Berechnungslage wurde anstelle der Stärke der Parteien dasjenige der politischen Lager (Blöcke) vorgeschlagen:48 Das rechte (SVP) und das linke Lager (GPS, SP) erhielten gemäss dieser Variante je zwei Sitze und der (bürgerliche) Mitte-Block (CVP, FDP, GLP) mit einem Wähleranteil von 34,3 Prozent insgesamt drei Sitze. Diese 2–3–2-Formel gilt schon heute. Da die beiden Pole seit rund 20 Jahren relativ stabile Wähleranteile von je 25 bis 30 Prozent aufweisen, stellt sich mit Blick auf zukünftige Wahlergebnisse vor allem die Frage, wie die Sitze innerhalb der einzelnen Blöcke verteilt werden, d.h., ob die FDP einen Sitz an die GLP und die SP einen Sitz an die Grünen abgeben muss, was am gerechtesten wäre. Wäre dies der Fall, entspräche das Ergebnis wiederum genau dem Verfahren nach Sainte-Laguë. Gegen diese Berechnungsgrundlage gibt es jedoch drei Einwände: Erstens ist die Zuordnung der Parteien zu den einzelnen Lagern nicht eindeutig.49 Zweitens zeichnen sich Koalitionsbildungen im Parlament und im Bundesrat typischerweise nicht durch starre Lager, sondern durch wechselnde und flexible Allianzen aus. Je nach Sachfragen ergeben sich unterschiedliche Mehrheiten- und Minderheitenkonstellationen. Dadurch könnten die CVP als klassische Mittepartei und die GLP als eine sich der Zuordnung auf dem eindimensionalen Links-rechts-Kontinuum bisweilen entziehende Partei fallweise zu eigentlichen «Königsmacherinnen» avancieren. Drittens könnten die Konflikte innerhalb der drei Lager in Zukunft zunehmen: Weil die Sitze nicht mehr automatisch auf die einzelnen Parteien verteilt würden, käme es innerhalb der drei Gruppen womöglich vermehrt zu Kampfwahlen.50

CVP-Parteipräsident und Nationalrat Gerhard Pfister (CVP/ZG) schlug vor, die Stärke der Fraktionen in der Bundesversammlung, d.h. die Anzahl Sitze einer Fraktion im National- und Ständerat, als Berechnungsgrundlage für die Bundesratszusammensetzung heranzuziehen.51 Bei 246 Parlamentsmitgliedern entsprechen rund 35 Sitze der für einen Regierungssitz notwendigen Stärke. Der Vorteil für die CVP läge darin, dass ihre Mitte-Fraktion (CVP, EVP, BDP) für längere Zeit einen Bundesratssitz gesichert hätte, bildet die CVP mit 13 Mitgliedern denn auch die stärkste Kraft im Ständerat. Da die SP neun Sitze im Ständerat hat, die GLP aber keinen einzigen, würde zudem je nach verwendetem Zuteilungsverfahren die SP ihren zweiten Sitz behalten, während die GLP leer ausginge. Würde die Zuteilungslogik der alten Zauberformel zudem mit der Sitzzahl der Fraktionen in beiden Kammern als Berechnungsgrundlage verwendet, erhielte die CVP bzw. die Mitte-Fraktion sogar zwei Sitze. Die FDP-Fraktion hätte hingegen nur noch Anspruch auf einen Sitz, während die Grünen ohne Bundesratsvertretung blieben.

Schliesslich haben verschiedene Exponenten der SP in jüngerer Zeit die Forderung nach einer gleichmässigeren Vertretung der Parteien und Regionen mit neun statt sieben Bundesratssitzen aufgestellt.52 Damit könnte auch eine Nichtwiederwahl von amtierenden Bundesratsmitgliedern verhindert werden. Bei einer Aufstockung auf neun Sitze hätte die SP ihre zwei Sitze gesichert; gleichzeitig erhielte die GLP einen Sitz in der Regierung zugesprochen. Bei einer Zuteilung gemäss dem Hagenbach-Bischoff-Verfahren würde die SVP gar drei Regierungsmitglieder stellen, während sich die FDP mit nur einer Vertretung begnügen müsste.

Zusammenfassend zeigt sich, dass nahezu alle Zuteilungsverfahren und Berechnungsgrundlagen zu einer Umverteilung einzelner Regierungssitze führen. An erster Stelle steht die Abgabe eines Bundesratssitzes von der FDP an die Grünen. Etwas weniger zwingend ist der Verzicht der SP auf ihren zweiten Sitz zugunsten der GLP. Während die arithmetische Betrachtungsweise der Verteilung der Regierungssitze gemäss den Parteien- oder Fraktionsstärken einen Tausch zwischen FDP und Grünen besonders nahelegt, sprechen einzelne Zuteilungsverfahren wie Hagenbach-Bischoff, der generell geringe Wähleranteil der GLP als auch ihre fehlende Hausmacht im Ständerat eher dagegen, den Grünliberalen einen Sitz auf Kosten der SP zuzusprechen. Die Einigung auf Mindestkriterien wie z.B. die Erreichung eines Mindestwähleranteils bei den Nationalratswahlen sowie eine Mindestvertretung im Ständerat könnten die nötige Klarheit und Erwartungssicherheit schaffen.

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