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Frank Wehlers (Brief von 2009 an die Journalistin Barbara Köhler und in einem Interview von 1988)
ОглавлениеIch habe Ihnen vor fast einem halben Jahr zugesagt, meine Erfahrungen mit Frau Marie Lente zu schildern. Das habe ich gemacht. Jetzt muss ich erfahren, dass Sie sich diesen Bericht unter Vorspiegelung falscher Voraussetzungen von mir erschlichen haben. Ich dachte, es ginge nur um Marie Lente. Offensichtlich scheint es Ihnen aber um meinen damaligen Genossen Paul Z. gegangen zu sein, der heute niedergemacht werden soll. Ich möchte mich nicht daran beteiligen. Deshalb erlaube ich Ihnen nur, jene von mir gekennzeichneten Abschnitte meiner Lebensgeschichte zu veröffentlichen, in denen es um eine positive Verdeutlichung der Geschichte des Paul Z. geht. Ich lege außerdem Wert auf die Erklärung, dass ich niemals IM des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen war, geschweige denn der IM „Sabbat“. Behauptungen dieser Art sind ohne jede Grundlage. Ich verbiete Ihnen auch, das Interview, das ich seinerzeit vor dem Anschluss der DDR an die BRD Frau Marie Lente gab, ganz oder teilweise – mit Ausnahme der angestrichenen Abschnitte – wiederzugeben.
(Im Folgenden werden die genehmigten Teile aus dem Interview vom 15. Dezember 1988 abgedruckt – die Herausgeberin.)
Frank Wehlers: Genosse Beier hat Sie schon angekündigt. Und auch der Genosse Z. hat gemeint, ich solle das Gespräch mit Ihnen machen.
Marie L.: Wer ist Genosse Beier?
Frank W.: Ein Freund der Familie. Altkommunist.
Marie L.: Und Genosse Z.? Etwa Paul Z.?
Frank W.: Ja. Mit dem bin ich seit Jahren befreundet. Ach, den kenne ich sogar schon seit 1940. Das war und ist ein großartiger Mann, sage ich Ihnen. Manchmal unvorsichtig, fast ein Abenteurer. Na, das ist etwas weitgehend, ich könnte auch sagen, der war extrem mutig. Mit dem habe ich eine ganze Zeit lang, bis Mitte 1944, illegal gelebt. Das war die aufregendste Zeit meines Lebens, vielleicht auch die wichtigste. Den müssen Sie auch befragen. Ich war mit ihm nach dem Krieg im Kulturbund und in der VVN. Wir haben die mit aufgebaut. Läuft das Ding da?
Marie L.: Ja. Ich stelle das Tonband immer sofort an, ja?
Frank W.: Warum überhaupt ein Tonband? Davon war keine Rede.
Marie L.: Wie soll ich meine Gespräche sonst wissenschaftlich auswerten? Andernfalls könnte ich Sie ja zitieren, wie ich will. Das Tonband ist auch ein gewisser Schutz für Sie, für die Echtheit Ihrer Aussagen.
Frank W. Schön finde ich das nicht.
Marie L.: Ich kann Ihre Aussagen ja anonymisieren.
Frank W.: Na gut.
Marie L.: Herr Wehlers, ehe Sie ins Einzelne gehen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir Ihre ganze Lebensgeschichte erzählen würden.
Frank W.: Ich denke, es geht nur um meine politischen Aktivitäten?
Marie L.: Na, ja, vielleicht wird das in Ihrer Lebensgeschichte deutlich?
Frank W.: Gut. Ganz von vorne, von der Geburt?
Marie L.: Wie Sie möchten.
Frank W.: Also, meine Eltern stammten aus der Arbeiterklasse, waren jüdische Arbeiter aus Berlin. Mein Vater war Schlosser in einer Papierfabrik, meine Mutter war auch Jüdin, sie war Verkäuferin. Sie hatten mich Frank genannt, einen deutschen Namen, keinen alttestamentarischen – erst später fragte ich mich, warum sie das getan hatten, aber da waren sie schon tot. Ich hatte noch vier Geschwister. Sind alle tot. Meine Kindheit verlief, ich möchte sagen, in geordneten Verhältnissen. Bis meine Mutter starb. Sie starb schon vor den Nazis, schon 1927. Mein Vater heiratete nach einem Jahr noch einmal. Wieder eine Jüdin. Sie kam aus einem, möchte ich sagen, streng jüdischen Elternhaus. Richtige Juden waren Vater und Mutter schon nicht mehr gewesen. Im wörtlichen Sinn Assimilierte waren sie auch nicht. Der Sozialismus, damals vor 1914 der alten Sozialdemokratie und später der Unabhängigen SPD und der KPD, war für sie wichtiger geworden als ihr Judentum. So war ich auch aufgewachsen. Aber koscher aßen wir dennoch. Das wurde natürlich strenger mit meiner neuen Mutter. Bei ihr wurde alles sehr nach jüdischer Sitte eingehalten, die Feiertage, vor allem das Passah-Fest, kein anderes Brot im Haus. Wir waren arm, manchmal hatten wir überhaupt nichts zu essen. In der großen Inflation von 1923 haben wir fast alles verloren. Vater wurde arbeitslos, obwohl er Facharbeiter war. Mutter war großartig, die schaffte aus Nichts ein Sonntagsessen oder aus alten Kleidern meine HJ-Uniform. Ja, HJ, Sie haben richtig gehört. Ich vergaß zu sagen, dass ich 1918 kurz vor Kriegsende geboren wurde. Tja, ich war später in der HJ. Die hatten noch nicht begriffen, dass ich ein „Judenbalg“ bin. Mutter war dagegen, Vater meinte später, er habe nicht dagegen gesprochen. Vielleicht weil er als aktiver Kommunist den Faschisten verdächtig war, vielleicht als Schutz für mich oder die Familie. Später, kurz vor seiner Deportation, sagte Vater zu mir: Damals, am Ende der Weimarer Republik, habe ich gelernt, dass es nicht mehr nur um Klassenkampf geht, sondern dass Krieg herrscht, Krieg zwischen den Klassen. Die haben uns den Krieg erklärt. Ja, mein Vater war ein harter Knochen.
(Es folgen fast 20 Seiten, in denen Frank Wehlers unter ständigen Wiederholungen die politischen Verhältnisse in der Weimarer Republik und die Lage der Arbeiterklasse erläutert. Dann bricht Herr W. ab und bittet um Nachfragen. Die ersten Fragen und Antworten hat Frank Wehlers gestrichen. Erst den folgenden Abschnitt hat er zum Abdruck freigegeben – die Herausgeberin.)
Marie L.: Haben Sie persönlich vor 1933 Antisemitismus erlebt? In ihrer unmittelbaren Umgebung?
Frank W.: Ja, die Nazi-Schmierblätter waren voll davon. Kein Tag verging, an dem nicht berichtet wurde über einen Juden, der einen deutschen Arbeiter bis aufs Blut ausgesaugt hätte.
Marie L.: Ich meinte persönlich. Haben Sie persönlich antisemitische Bemerkungen oder Handlungen erlebt? Vor und unmittelbar nachdem Hitler an die Macht kam?
Frank W.: Ja, viel, sehr viel. Ich musste aus meinem Sportverein raus und ging dann in den jüdischen Ruderverein „Poseidon“. Ich war begeisterter Ruderer. Wir durften in Grünau bleiben bis zur Olympiade 1936. Danach mussten wir von diesem Grundstück runter und wurden auf eine Insel in der Nähe von Treptow, ich möchte sagen, verfrachtet. Wir durften keine Lokale mehr anfahren. Da ließ die Begeisterung dann nach.
Marie L.: Ah, ja.
Frank W.: Oder meinen Rausschmiss aus meiner Lehrstelle im letzten Lehrjahr. Das war schlimm. Wir durften ja kein Handwerk mehr erlernen. Ich wollte eigentlich Autoschlosser werden. Ging nicht, dann wurde ich Hilfsarbeiter in ganz verschiedenen Berufen. Auf dem Bau oder als Kohlenschlepper in einer Firma am Alex. Wir hatten alle möglichen Kunden, angefangen bei den Schauspielern Heinz Rühmann oder Theo Lingen bis zu Herrn Himmler, den wir auch beliefern durften. Wenn der Himmler gewusst hätte, wer ihm dort die Kohlen lieferte, wären wir wahrscheinlich nicht am Leben geblieben.
Marie L.: Hm.
Frank W.: Später die Reichskristallnacht 1938. Kamen Leute zu mir und sagten: Es brennt. Ich sagte: Wo? Hier? Ich arbeitete gerade als Wagenwäscher in einer Garage. Da lachten die: Nee. Deine Synagoge. Ich lief in der Mittagspause zum Vater. Der meinte: Wenn die Synagogen brennen, geht es uns auch bald an den Kragen. Er sollte Recht behalten.
Marie L.: Und vor 1933? Haben Sie da persönlich Antisemitismus erlebt? Wie war das in der Schule? Klassenkameraden?
Frank W.: Ja. Nein, wissen Sie, in der Arbeiterklasse gab es sowas kaum. Das war eher bei den Reichen.
Marie L.: Wie, Sie haben vor 1933 keinen Antisemitismus - ?
Frank W.: Na, ich muss sagen. Ich war ja Jungkommunist, da spielte sowas keine Rolle.
Marie L.: Wussten denn ihre Genossen damals, vor 1933, dass Sie aus einer jüdischen Familie stammten?
Frank W.: Wenn ich es mir richtig überlege, habe ich denen das wahrscheinlich nicht gesagt. Da war anderes wichtig, also die politische Arbeit, der Arbeitersport und sowas.
Marie L.: Aber Sie sagten vorhin, dass man in Ihrer Familie koscher aß. Hat sich da keiner Ihrer Schulfreunde oder von den KJVDlern [1] gewundert oder lustig gemacht oder Ähnliches?
Frank W.: Ach, die habe ich gar nicht zu mir nach Hause geholt. Mutter war ja doch ein bisschen traditionell, ganz anders als der Vater. Mutter schon. Zu Hause war es auch zu eng. Wir haben eher auf der Straße gespielt.
Marie L.: Und in der Schule?
Frank W. (ärgerlich): Na, was sollten die schon mitgekriegt haben. Es gab doch keine Schulspeisung. Ich habe nur zu Hause koscher gegessen. Mutter zuliebe.
(Es folgen von Frank Wehlers nicht genehmigte Abschnitte, in denen er von den Motiven für seinen HJ-Eintritt, von dem Rausschmiss aus seiner Schule, aus der HJ berichtet und von sozialdemokratischen Genossen während der Reichspogromnacht und ihren Vorwürfen nach dem Hitler-Stalin-Pakt. Erlaubt sind dann wieder die folgenden Passagen.)
Frank W.: Ja, der Genosse Paul Z. Der hat mich damals tief beeindruckt. Er ist ja fast so alt wie ich, aber noch heute von einer Energie, die alles um ihn herum erfasst. Und der konnte reden – ich habe ihm immer begeistert zugehört. Fast beneidet habe ich ihn, wie er Dinge auf den Punkt brachte, mit welcher Überzeugungskraft er auch Nichtkommunisten begegnete. Ich habe ihn immer mit wehenden schwarzen Haaren in Erinnerung, obwohl Bilder zeigen, dass sein Haar schon damals grau war. Aber so war er.
Marie L.: Wie haben Sie ihn kennengelernt?
Frank W.: Ach, das war während der schlimmsten Nacht meines Lebens. Sie wissen, was die Fabrikaktion ist?
Marie L.: Ja, aber erzählen Sie es trotzdem.
Frank W.: Da wurden im Februar 1943 in einer Nacht 100.000 Juden aus den Fabriken geholt, verhaftet und deportiert. In ganz Deutschland. Noch heute frage ich mich, wie im Nachhinein die Kollegen in den Betrieben darüber dachten – die hatten das doch mitgekriegt. Persönlich hatte ich Glück, aber mein Vater und meine Familie nicht. Alle tot. (Nach einer Pause:) Ich war gewarnt worden und überlebte im Versteck bei einer kommunistischen Familie.
Marie L.: Wer hat Sie gewarnt?
Frank W.: Tja, mein Chef. Ich glaube, dass da schon Paul Z. beteiligt war, der besuchte mich am nächsten Morgen. – Warum schreiben Sie eigentlich mit? Das Tonband läuft doch schon?
Marie L.: Damit ich später besser nachfragen kann, sonst vergesse ich meine Fragen, die mir bei Ihrer Erzählung kommen. Jetzt will ich Sie nicht unterbrechen.
Frank W. (erneut): Schön finde ich das nicht.
Marie L.: Ich kann es ja lassen.
Frank W.: Wissen Sie was? Wir lassen es für heute ganz. Irgendwie geht mir das alles zu weit. Ich möchte nichts Falsches sagen. Ich werde mich bei der Partei erkundigen, ob das alles rechtens ist. Dann können wir ja weiter sehen.
(Marie Lente murmelt etwas Unverständliches, dann wird das Tonband abgestellt.)