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Marie Lente (Protokollnotiz über das Gespräch mit Walter Friedrichsen am 18. Dezember 1988, die sie 2009 an Barbara Köhler schickte)
ОглавлениеAus meinem Protokoll nach dem Interview mit Walter Friedrichsen:
Der Besuch bei Walter Friedrichsen hat mich verwirrt. Zunächst dieses bildungsbürgerliche Gehabe – nein, das wird ihm nicht gerecht: Er ist ein Bildungsbürger, versucht auch, mit seinen Kenntnissen zu beeindrucken, will um Himmels Willen nicht als dogmatischer Kommunist erscheinen. Gleichzeitig sieht er sich selbst als Teil der kommunistischen Bewegung, weniger der Partei. Er lebt nach seiner Ehe mit Gabi Z., wie er mir erzählte, allein in einer erstaunlich großen alten Berliner Wohnung in einem Jugendstil-Haus mit einem verwilderten Garten, den alte Akazien und riesige Rhododendron-Büsche etwas düster halten. In seinem Badezimmer gibt es noch blau-weiße Kacheln, die zumindest an Delfter Kacheln erinnern, wenn es nicht sogar welche sind. Sein Wohnzimmer ist mit Biedermeier-Möbeln eingerichtet. Und dann diese schönen alten, verglasten Bücherschränke mit den Hunderten von Büchern, die keine Grenzen offenbaren. Ich muss unbedingt herausfinden, wieso er als Alleinstehender eine so große Wohnung bekommen hat. Ich kenne andere seines Alters, die mit einem Zimmer Vorlieb nehmen müssen, einige in meinem Alter leben noch bei ihren Eltern, sogar geschiedene Paare wohnen noch zusammen, weil sie keine neuen Wohnungen gefunden haben. Und Walter Friedrichsen lebt wie ein Prinz in seinem Schloss – na, sagen wir wie ein illegitimer Fürstenspross.
Zweitens hat mich beeindruckt, wie er mit dem Stasi-Besuch vor meinem Kommen umging. Es schien ihn zu amüsieren, nun mit dem MfS fertig werden zu müssen. Natürlich blieb er vorsichtig. Aber er fühlt sich sicher.
Drittens merkt man ihm deutlich an, welche Mühe er mit seinem Vater Jakob hat, an den er sich nicht einmal mehr erinnern kann, aber dessen politische Arbeit und Tod sein eigenes Leben stark beeinflusst haben. Das hat es in der DDR offensichtlich häufiger dann gegeben, wenn ermordete Widerstandskämpfer zu den Mitgründern des Staates stilisiert werden, wenn auch „nur“ als notgedrungen abwesende Märtyrer.
Viertens war das eigentlich Verwirrende, dass ich zum ersten Mal seit langer Zeit so etwas wie Attraktion verspüre. Walter Friedrichsen versucht, mich aus meiner „Rolle“ als distanzierter Wissenschaftlerin zu lösen, ja, er flirtet mit mir. Und ich bin empfänglich. Natürlich weiß ich aus jahrelanger Erfahrung und aus der Literatur, dass man oder frau sich immer wieder mal mit den Interviewpartnern und Interviewpartnerinnen (über)identifiziert oder sich sogar verliebt haben. Die Ethnologin Margaret Mead ist, glaube ich, eines der bekannteren Beispiele dafür, wie schnell man sich in der Feldforschung verlieben kann. Es ist auch nicht wirklich verwunderlich, weil wir meistens unseren Untersuchungsobjekten sehr nahe kommen. Aber ich hielt mich für gefeit. Ich werde mich also das nächste Mal wieder „auf Distanz bringen“.
Nach dem Gespräch vertraute er mir auf dem Weg zur S-Bahn-Haltestelle, zu der er mich begleitete, an, dass er über Erwin Piscator, den Theater-Regisseur und Intendanten, schreibe, noch sei es nicht sicher, ob es ein Theaterstück, ein Drehbuch, ein Roman oder eine Biographie werde.
Er fragte mich unvermittelt: Wissen Sie übrigens, dass Marlon Brando Student bei Piscator gewesen ist?
Marie L.: (etwas überrascht): Nein, wo denn?
Walter F.: Jaaa, nicht nur Marlon Brando, sondern auch Toni Curtis, Walter Matthau, Rod Steiger und viele andere amerikanische Schauspieler. Und Harry Belafonte und Tennessee Williams oder auch Beatrice Arthur von den heutigen „Golden Girls“. Das war, als Piscator nach seiner Rückkehr (mit leiserer Stimme, obwohl wir uns im Freien bewegten) oder besser: seiner Flucht aus der Sowjetunion – er wurde als Trotzkist bedroht – zunächst nach Frankreich und schließlich in die USA, nach New York, gegangen war. Dort gründete er den Dramatic Workshop an der New School for Social Research, wo auch viele andere Emigranten unterkrochen. (Kleine Pause) Das waren noch Zeiten, noch vor dem McCarthy-Ausschuss für unamerikanische Umtriebe. Piscator hat die McCarthy-Zeit noch erlebt und ist dann 1951 wieder nach Deutschland gegangen. Nach Westberlin! (Walter F. hätte, wenn wir drinnen geblieben wären, seinen Blick an die Decke auf eine imaginäre Wanze gerichtet) Piscator hat dort in den 1960er Jahren Rolf Hochhuths „Stellvertreter“ und Peter Weiß‘ „Die Ermittlung“ über den Frankfurter Ausschwitz-Prozess an der Freien Volksbühne uraufgeführt. (Wieder eine kleine Pause)
Jaaa, da hatte das politische Theater noch eine Bedeutung! Und das war im Westen!
Marie L.: Interessant.
Walter F.: Nun tun Sie mal nicht so neutral. Das ist doch große Geschichte! Da ging es noch um was!
Marie L.: Hmhm.
Nach einer kleinen Pause sagte er – immer noch außerhalb der Reichweite der Leute von „Horch und Guck“ – doch noch etwas zu Paul Z., und zwar etwas, das mich wirklich erstaunte oder mit ambivalenten Gefühlen für den mir noch unbekannten Paul Z. erfüllte: Der habe sich immer sehr um ihn gekümmert, habe fast eine väterliche Rolle übernommen, da er seinen Vater aus dem Widerstand kannte. Aber damit nicht genug: Paul habe nach 1945 ein Verhältnis mit seiner – Walter Friedrichsens – Mutter gehabt, es sei eine erotische Beziehung gewesen, die zwei der vier Ehen von Paul Z. überdauerte. Das war mir neu. Ich wusste ja bereits, dass Paul Z. sich später in Walter Friedrichsens Frau Gabi verliebt hatte und sie nach ihrer Scheidung von Walter auch heiratete. Leider habe ich es nicht übers Herz gebracht, ihn zu fragen, was es für ihn – Walter – bedeutete, dass Paul Z. so eng mit „den Frauen“ seines eigenen Lebens verbunden war.
Neben den Interviews arbeitete ich weiter im Parteiarchiv und merkte, wie ich immer wieder nach Akten suchte, in denen Frank Wehlers, aber auch Paul Z. und später auch Walter Friedrichsen vorkamen. Das war nicht selten der Fall, da Frank Wehlers und Paul Z. zu den Aktivisten der ersten Stunde gehörten, zu den Gründungsmitgliedern des Kulturbundes und der VVN 1947 spielte. Walter Friedrichsen war noch als Junge oder Jugendlicher und FDJ-Funktionär Mitglied der VVN kurz vor ihrer Auflösung 1953 gewesen und danach führendes Mitglied im „Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer“.
Ich beschloss, den Herrn von der Stasi noch einmal auf meine Liste mit potentiellen Interviewpartnern anzusprechen und bat ihn beim nächsten Treffen, auch Paul Z. auf diese Liste zu setzen. Er brummte nur, schrieb aber Paul Z. auf meinen Zettel.
Es war kurz vor Weihnachten 1988, ich fuhr zu meiner Mutter rüber nach Bochum, mehr aus Pflichtgefühl, denn aus Neigung – ich hatte inzwischen noch 13 andere Personen aus der VVN interviewt, aber mir ging Walter Friedrichsen nicht aus dem Sinn und seine merkwürdige Beziehung zu Paul Z., der mit seiner Mutter ein jahrelanges Verhältnis hatte und der ihm später seine Frau „ausspannte“, den er aber dennoch über Gebühr lobte – zumindest als das Tonband lief.
Als ich am 4. Januar nach Berlin zurückkehrte, lernte ich durch reinen Zufall einen Schriftsteller aus der DDR kennen, der kein Blatt vor den Mund nahm. Er hieß Robert Junge und erzählte mir, dass die verbotene polnische oppositionelle Gewerkschaft Solidarność mit der Regierung über eine „Aufteilung der Macht“ verhandele, wie er sagte. Er fügte lachend hinzu: „Es grummelt die Welt im Osten.“ Ich hatte Ähnliches schon von Kollegen aus Bremen gehört, wo die Solidarność ihr Koordinierungsbüro hat. Aber ich konnte das nicht glauben, immerhin war die Solidarność nach dem Kriegsrecht nicht wieder zugelassen worden und war der Feind Nr. 1 der polnischen Regierung. War die Solidarność so stark geworden? Sie soll ja mehrere Millionen Mitglieder haben. Davon konnte man in der DDR nur träumen.
Erst etwas später begriff ich, dass dieser Robert Junge der Mann jener Frau war, die mich wegen des Miniplakats zur Rosa-Luxemburg- und Karl-Liebknecht-Demo angesprochen hatte.