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Marie Lente (Brief von 2008 an Barbara Köhler mit dem Protokoll des Treffens mit Walter Friedrichsen vom 16. Januar 1989)

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Aus Marie Lentes Protokoll, geschrieben nach dem Gespräch mit Walter Friedrichsen, das sie 2008 mit einer Vorbemerkung versehen hatte:

Ja, er beugte sich zu mir herüber und küsste mich. Es fällt mir schwer, Ihnen so etwas Intimes zu schreiben, aber Sie würden, wie ich Ihnen schon sehr allgemein schrieb, ohne diese Intimitäten nur die Hälfte verstehen. Jetzt muss ich also konkret werden. Ich war so gefangen von ihm, von seiner Erzählung, von seiner inneren Wut und Verzweiflung, vielleicht auch von meiner eigenen Einsamkeit, dass ich mich nicht abwandte, sondern umgekehrt ihn küsste, und sogar anders als er mich – leidenschaftlicher. Er war erstaunt, aber nicht untätig. Halb sank ich hin, halb zog ich ihn. Es wurde eine unerwartet schöne Nacht. Wir haben nach der ersten Leidenschaft, die ganze Nacht geredet (natürlich nur eine halbe Nacht, weil ich um Mitternacht in Westberlin sein musste) in der leichtsinnigen Hoffnung, dass die Stasi Wanzen nicht auch noch in seinem Schlafzimmer angebracht hatte. Denn, sagte Walter, da hätten sie über Jahre nichts gehört außer meinem Schnarchen.)

In dieser halben Nacht erfuhr ich mehr von ihm, als während meiner beiden ersten Interviews: Er redete und redete – darüber, dass er nach seinen ersten drei Büchern mit dem Schreiben aufgehört und sich dem Theater sowie dem Film zugewandt hatte, viel mit kritischen Geistern der DDR zusammenarbeitete – er beschrieb mir eine ganze Reihe sehr genau in ihren opportunistischen, aber auch ihren kritischen Seiten, er wusste präzise, wo und wann die DDR ihre Künstler verloren hatte, nämlich auf dem 11. Plenum des ZK vom 16. bis zum 18. Dezember 1965, als ausgerechnet die interessantesten Filme, Bücher und Musikstücke wegen ihres „Nihilismus“ und ihrer „Unmoral“ namentlich von Walter Ulbricht und Erich Honecker kritisiert wurden, besonders die „Negermusik“. Nur Christa Wolf hätte sich als junge Kandidatin des ZK dagegen gewehrt. [2] Walter sagte, ich zitiere wörtlich aus dem Gedächtnis:

Walter F.: Das war der Tiefschlag für die Künste der DDR, von dem haben sie sich nur schwer erholt. Wir haben uns fast alle angepasst, haben versucht, die Zensur zu unterlaufen und verschlüsselten Aktuelles oder verlegten die Politik in antike Konflikte, schlachteten dafür die Ilias und die Odyssee aus.

Walter F. wäre nicht Walter F. gewesen, wenn er nicht hinzugefügt hätte: Aber zu der Zeit war es im Westen auch nicht viel anders. Künstler und manche bekannten Künstlerinnen wurden auch dort von konservativen Spießern kritisiert oder gar mit Aufführungsverboten belegt, wie Brecht, oder fanden keine Publizierungsmöglichkeiten, wie das eben im Kapitalismus so läuft – über den Markt.

Ich antwortete, es würde langsam Zeit, damit aufzuhören, nur aus dem Vergleich zwischen Ost und West unsere Begründungen zu suchen.

Ja, sagte er, es wird Zeit, dass neue Generationen die Macht übernehmen. Fangen wir bei uns an – und er wandte sich mir zu.

Verwischt

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