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2 Das Prinzip der Volkssouveränität

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Will man von den politischen Gesetzen der Vereinigten Staaten sprechen, so muss man stets mit dem Dogma der Volkssouveränität beginnen.

Das Prinzip der Volkssouveränität, das mehr oder weniger fast allen menschlichen Institutionen zugrunde liegt, bleibt in der Regel dort begraben. Man gehorcht ihm, ohne es zu erkennen, und wenn es doch einmal ans Tageslicht tritt, so lässt man es eilends wieder in die heilige Finsternis zurücksinken.

Der Wille des Volkes ist eines der Schlagworte, die die Aufrührer aller Zeiten und die Despoten aller Epochen am freigebigsten missbraucht haben. Die einen wollten den Ausdruck des Volkswillens in den von Handlangern der Macht erkauften Stimmen sehen; andere in den Stimmen einer interessierten oder verängstigten Minderheit; ja, man hat ihn selbst im Schweigen der Völker deutlich ausgesprochen gefunden und hat aus der Tatsache des Gehorsams das Recht zum Befehlen abgeleitet.

In Amerika ist die Volkssouveränität nicht, wie bei manchen Völkern, versteckt oder unfruchtbar geblieben, sie wird hier vielmehr durch die Sitte anerkannt, von den [55]Gesetzen feierlich verkündet; sie breitet sich in Freiheit aus und erreicht ungehindert ihre letzten Konsequenzen.

Wenn es auf Erden ein Land gibt, in dem man hoffen darf, das Dogma der Volkssouveränität in seinem wahren Wert würdigen, in seiner Wirkung auf das Staatsleben studieren und seine Vorteile wie seine Gefahren abwägen zu können, so ist dieses Land Amerika.

Ich habe bereits gesagt, dass das Prinzip der Volkssouveränität von Anfang an das schöpferische Prinzip für die Entstehung der meisten englischen Kolonien in Amerika gewesen ist.

Damals aber war es noch weit entfernt davon, die Regierung der Gesellschaft in dem Maße zu beherrschen, wie das heute der Fall ist. Zwei Hindernisse, ein äußeres und ein inneres, hielten seinen Siegeszug damals noch auf.

Das Dogma der Volkssouveränität konnte sich noch nicht öffentlich in den Gesetzen aussprechen, weil die Kolonien noch gezwungen waren, dem Mutterlande zu gehorchen; so blieb ihm nur übrig, in den Provinziallandtagen und besonders den Gemeinden im Verborgenen zu wirken; hier breitete es sich insgeheim aus.

Die amerikanische Gesellschaft war damals noch nicht reif, die Volkssouveränität in allen ihren Konsequenzen anzunehmen.

Lange Zeit besaßen die Bildung in Neuengland, der Reichtum südlich des Hudson – wie im vorigen Kapitel dargelegt – eine Art aristokratischen Einfluss, der die Ausübung der Staatsgewalt in wenige Hände zu konzentrieren suchte. Man war noch weit davon entfernt, dass alle öffentlichen Beamten gewählt, alle Bürger Wähler waren. Überall war das Wahlrecht noch an gewisse Grenzen gebunden, [56]einem Zensus unterworfen. Dieser Zensus war im Norden sehr geringfügig, im Süden beträchtlicher.

Die Revolution brach aus. Das Dogma von der Volkssouveränität griff von der Gemeinde auf die Regierung über; alle Klassen setzten sich dafür ein; man kämpfte und siegte in seinem Namen; die Volkssouveränität wurde oberstes Gesetz.

Eine fast ebenso schnelle Wandlung vollzog sich im Inneren der Gesellschaft. Das Erbfolgerecht brach schließlich allen lokalen Einfluss.

In dem Augenblick, da diese Wirkung der Gesetze und der Revolution sich vor aller Augen zu enthüllen begann, stand der Sieg der Demokratie schon unwiderruflich fest. Faktisch besaß sie bereits die Macht. Ja, es war nicht einmal mehr erlaubt, gegen sie zu kämpfen. Die oberen Klassen schickten sich ohne Murren und kampflos in ein nicht mehr vermeidbares Übel. Und es geschah, was stürzenden Machtgruppen in der Regel geschieht: Der individuelle Egoismus ergriff ihre Glieder; da man die Macht den Händen des Volkes nicht mehr entreißen konnte und da man die Menge nicht genügend verabscheute, um ihr mit Genugtuung zu trotzen, dachte man nur noch daran, um jeden Preis ihr Wohlwollen zu erringen. Menschen, deren Interessen dadurch empfindlich getroffen wurden, stimmten nun um die Wette den demokratischsten Gesetzen zu. Auf diese Weise stachelten die oberen Klassen zwar nicht die Leidenschaften des Volkes gegen sich auf; aber sie selbst beschleunigten so den Sieg der neuen Ordnung. Seltsames Schauspiel! Der demokratische Ansturm ist dort besonders unwiderstehlich, wo die Aristokratie am tiefsten verwurzelt war.

Der Staat Maryland, einst gegründet von [57]Großgrundbesitzern, verkündete als Erster das allgemeine Wahlrecht11 und führte in die gesamte Regierung radikal-demokratische Formen ein.

Rührt ein Volk erst einmal an den Wahlzensus, so kann man sicher sein, dass er über kurz oder lang ganz verschwinden wird. Das ist eins der unwandelbaren Gesetze, die das Leben der Staaten beherrschen.

Je mehr man das Wahlrecht erweitert, umso größer wird das Bedürfnis, es noch weiter auszudehnen; denn jedes neue Zugeständnis stärkt die Kräfte der Demokratie, und ihre Forderungen wachsen mit der neuen Macht. Der Ehrgeiz derer, die unterhalb des Zensus bleiben, fühlt sich umso mehr beleidigt, je größer die Zahl derer wird, die ihn erreichen. Schließlich wird die Ausnahme zur Regel; ein Zugeständnis folgt auf das andere, und es gibt kein Halten mehr, bis das allgemeine Wahlrecht erreicht ist.

Heute hat das Prinzip der Volkssouveränität in Amerika alle denkbaren Entwicklungsstufen durchlaufen. Es hat alle Fiktionen abgestreift, mit denen man es anderswo zu umkleiden liebt; wir sehen, wie es sich nach und nach aller Formen bedient, die die Situation erheischt. Bald beschließt das Volk in seiner Gesamtheit die Gesetze wie in Athen; bald repräsentieren Abgeordnete das Volk, die aus allgemeiner Wahl hervorgegangen sind und im Namen des Volkes unter seiner fast unmittelbaren Aufsicht handeln.

Es gibt Länder, in denen eine gleichsam außerhalb der Gesellschaft stehende Gewalt diese beherrscht und sie zwingt, eine bestimmte Richtung einzuschlagen.

Es gibt andere Länder, in denen die Macht so aufgeteilt [58]ist, dass sie in der Gesellschaft verankert ist und zugleich sich über sie erhebt.

Ganz anders in den Vereinigten Staaten; hier haben wir Selbstverwaltung und Selbstherrschaft. Alle Gewalt geht vom Volke aus; man begegnet kaum einem Menschen, der den Gedanken wagen oder gar aussprechen würde, die Gewalt sei anderswo zu suchen. Durch die Wahl der gesetzgebenden Körperschaft nimmt das Volk an der Gesetzgebung, durch die Wahl der Beamten der ausführenden Gewalt an ihrer Ausführung teil; man kann sagen, dass das Volk sich wirklich selbst regiert, so gering und so begrenzt ist der Anteil der Verwaltung, so sehr ist die Verwaltung sich ihres Ursprungs aus dem Volke bewusst und gehorcht der Gewalt, in der sie wurzelt. Das Volk beherrscht die politische Welt Amerikas wie Gott das Universum. Das Volk ist Anfang und Ende aller Dinge; alles geht vom Volke aus, alles in ihm auf.

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