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5 Die politische Gerichtsbarkeit21

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Unter politischer Gerichtsbarkeit verstehe ich die Ausübung richterlicher Funktionen durch eine vorübergehend mit richterlichen Befugnissen ausgestattete politische Körperschaft.

Im absoluten Staat ist es überflüssig, ein besonderes Verfahren für politische Entscheidungen vorzusehen: denn da der Fürst, in dessen Namen man den Angeklagten [108]verfolgt, auch der oberste Gerichtsherr ist, braucht er seinen Schutz nur in der Vorstellung zu suchen, die man von seiner Macht hat. Er könnte höchstens fürchten, dass der Richter nicht einmal den äußeren Schein der Gerechtigkeit wahrt und sein Ansehen befleckt in dem Wunsche, es zu kräftigen.

Aber in den meisten freien Ländern, in denen ja die Mehrheit, anders als der absolute Fürst, keinerlei Einfluss auf die Gerichte hat, ist die richterliche Gewalt zuweilen vorübergehend den Vertretern des Volkes eingeräumt worden. Man hat es vorgezogen, so die Grenzen zwischen den einzelnen Gewalten zu verwischen, um nicht den notwendigen Grundsatz von der Einheitlichkeit der Regierung zu verletzen. Das englische, französische und das amerikanische Recht kennen die politische Gerichtsbarkeit: Es ist interessant, zu untersuchen, welchen Nutzen diese drei Länder daraus gezogen haben.

In England und in Frankreich ist die Pairskammer das höchste Gericht in Strafsachen.22 Die Pairskammer nimmt sich nicht aller politischen Strafsachen an, aber sie kann es.

Neben der Pairskammer steht eine zweite politische Gewalt mit dem Recht der Anklage. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Ländern ist der: In England können die Abgeordneten vor dem Oberhaus anklagen, wen sie wollen; in Frankreich dagegen können sie auf diesem Wege nur die Minister des Königs anklagen.

Im Übrigen kann die Pairskammer in beiden Ländern [109]auf die Angeklagten sämtliche Strafgesetze zur Anwendung bringen.

In den Vereinigten Staaten hat – wie in Europa – der eine Teil der gesetzgebenden Gewalt das Recht der Anklage, der andere das Recht der Entscheidung. Die Repräsentanten klagen den Schuldigen an, der Senat spricht die Strafe aus.

Aber der Senat kann mit der Sache nur durch die Repräsentanten befasst werden, und die Repräsentanten können vor dem Senat nur gegen Beamte Anklage erheben. Der Senat hat also eine engere Zuständigkeit als die Pairskammer in Frankreich, das Anklagerecht der Repräsentanten geht weiter als das unserer Abgeordneten.

Der größte Unterschied zwischen Amerika und Europa liegt jedoch hierin: In Europa können die politischen Gerichte alle Bestimmungen des Strafgesetzbuches selbst zur Anwendung bringen; in Amerika ist, wenn sie einem Schuldigen die Beamteneigenschaft abgesprochen und ihn für unfähig erklärt haben, jemals wieder ein öffentliches Amt zu bekleiden, ihr Recht verbraucht, und die ordentlichen Gerichte treten in Funktion.

Nehmen wir einmal an, der Präsident der Vereinigten Staaten habe Hochverrat begangen.

Dann klagen ihn die Repräsentanten an, die Senatoren setzen ihn ab. Anschließend kommt er vor die Geschworenen, und diese allein können ihm die Freiheit oder das Leben aberkennen.

Diese Betrachtung wirft einiges Licht auf unseren Gegenstand.

Als die Europäer die politische Gerichtsbarkeit einführten, wollten sie die großen Verbrecher erreichen, ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Stellung oder ihrer Macht im Staat. [110]Zu diesem Zweck haben sie alle richterlichen Vorrechte vorübergehend einer großen politischen Körperschaft anvertraut.

Der Gesetzgeber wurde damit zum Richter; er konnte das Verbrechen ermitteln, rechtlich einordnen und bestrafen. Mit den richterlichen Rechten aber hat das Gesetz ihm alle richterlichen Verpflichtungen auferlegt und ihn an die Beobachtung aller Formen der Rechtsprechung gebunden.

Wenn in Frankreich oder England ein politisches Gericht einen Beamten abzuurteilen hat und wenn es ihn verurteilt, so nimmt es ihm damit zugleich sein Amt und erklärt ihn für unwürdig, jemals wieder ein Amt zu bekleiden: Die Amtsenthebung und das Verbot sind aber eine Folge des Urteils, sie sind nicht das Urteil selbst.

In Europa ist die Entscheidung eines politischen Gerichtshofes also mehr ein Akt der Justiz als eine Maßnahme der Verwaltung.

Das Gegenteil gilt für Amerika; es ist leicht, sich davon zu überzeugen, dass hier die politische Entscheidung mehr eine Maßnahme der Verwaltung als ein Akt der Justiz ist.

Es ist richtig, dass die Entscheidung des Senats in richterlicher Form ergeht; daher sind die Senatoren an die Feierlichkeit und die Formalitäten des Verfahrens gebunden. Sie ist auch richterlich in ihren Gründen; denn der Senat ist in der Regel verpflichtet, seine Entscheidung auf eine Norm des gemeinen Rechts zu stützen. Aber durch ihren Gegenstand ist sie eine Maßnahme der Verwaltung.

Wäre es das Hauptziel des amerikanischen Gesetzgebers gewesen, eine politische Körperschaft wirklich mit großer richterlicher Gewalt auszustatten, so würde er ihre Zuständigkeit nicht auf den Kreis der Beamten beschränkt haben, [111]denn die gefährlichsten Feinde des Staates sind schwerlich unter den Beamten zu suchen: das gilt besonders für die Republiken, in denen die Gunst der Parteien oft die oberste Macht ist und man oft besonders stark ist, wenn man legal gar keine Macht ausübt.

Hätte der amerikanische Gesetzgeber der Gesellschaft das Recht einräumen wollen, selbst und wie der Richter großen Verbrechen durch die Furcht vor der Strafe entgegenzuwirken, so hätte er den politischen Gerichten die Anwendung aller Strafgesetze gestattet; er hat ihnen aber nur eine unvollständige Waffe an die Hand gegeben, die gerade die gefährlichsten Verbrecher nicht trifft. Denn das Verbot, ein öffentliches Amt zu bekleiden, kümmert den wenig, der die Gesetze selbst umstoßen will.

Der Hauptzweck der politischen Gerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten besteht darin, die politische Macht dem, der sie missbraucht, zu nehmen und zu verhindern, dass er sie wieder erlangt. Das aber ist offensichtlich eine Verwaltungsmaßnahme in der Form eines Urteils.

Damit haben die Amerikaner ein Mischgebilde geschaffen. Sie haben die Verwaltungsmaßnahme der Amtsenthebung mit den Garantien der politischen Gerichtsbarkeit versehen und zugleich dieser ihre größten Härten genommen.

Halten wir das fest, so schließt sich der Ring; wir verstehen jetzt, warum die amerikanischen Verfassungen alle Zivilbeamten der Gerichtsbarkeit des Senats unterstellen, die Militärbeamten aber, deren Verbrechen doch noch mehr zu fürchten sind, davon ausnehmen. In der Zivilverwaltung haben die Amerikaner sozusagen keine widerruflichen Beamten. Die einen sind unabsetzbar, die anderen leiten ihre [112]Stellung aus einem Mandat her, das man nicht aufheben kann. Um ihnen die Macht nehmen zu können, muss man sie alle daher der Gerichtsbarkeit unterstellen. Das Militär aber untersteht dem Staatsoberhaupt, das seinerseits ein Zivilbeamter ist. Trifft man das Staatsoberhaupt, so trifft man zugleich das Militär.23

Vergleicht man nun das europäische und das amerikanische System in ihren wirklichen oder möglichen Folgen, so entdeckt man nicht weniger große Unterschiede.

In Frankreich und England betrachtet man die politische Gerichtsbarkeit als Ausnahmewaffe, deren sich der Staat nur zur Rettung aus äußerster Gefahr bedienen darf.

Es lässt sich nicht abstreiten, dass die politische Gerichtsbarkeit, wie Europa sie kennt, das erhaltende Prinzip der Gewaltenteilung verletzt und die Freiheit und das Leben der Menschen ständig bedroht.

In Amerika dagegen berührt sie die Gewaltenteilung nur mittelbar; sie bedroht die Existenz der Bürger in keiner Weise; sie schwebt nicht – wie in Europa – über den Köpfen aller, denn sie trifft nur diejenigen, die sich ihrer Strenge mit der Übernahme eines öffentlichen Amts zuvor unterworfen haben.

Sie ist zugleich weniger fürchterlich und weniger wirksam. Daher haben die Gesetzgeber der Vereinigten Staaten die politische Gerichtsbarkeit nicht als äußerstes Rettungsmittel aus höchster Staatsnot betrachtet, sondern als ein gewöhnliches Hilfsmittel der Regierung.

Unter diesem Gesichtspunkt ist sie vielleicht für den [113]Staat in Amerika von größerer Bedeutung als in Europa. Man sollte sich wirklich nicht von der scheinbaren Milde der amerikanischen Gesetze in allem, was die politische Gerichtsbarkeit betrifft, gefangen nehmen lassen. Vor allem muss man klar erkennen, dass sich in den Vereinigten Staaten die Körperschaft, die die politischen Entscheidungen trifft, aus den gleichen Elementen zusammensetzt und dass sie den gleichen Einflüssen unterliegt wie die Körperschaft, die mit der Anklage betraut ist, was den Rachegelüsten der Parteien eine fast unwiderstehliche Triebkraft verleiht. Wenn die politischen Richter in den Vereinigten Staaten nicht so schwere Strafen verhängen können wie in Europa, so sind bei ihnen doch auch die Chancen für einen Freispruch geringer. Die Verurteilung ist zwar weniger furchtbar, dafür tritt sie aber mit größerer Gewissheit ein.

Als die Europäer die politische Gerichtsbarkeit einsetzten, war es ihr Hauptziel, die Schuldigen zu bestrafen; das Hauptziel der Amerikaner ist, ihnen die Macht zu nehmen. Die politische Gerichtsbarkeit hat in Amerika eine vorbeugende Funktion. Daher muss man den Richter dort nicht an bestimmte strafrechtliche Tatbestände binden.

Es gibt nichts Schrecklicheres als die Unbestimmtheit der amerikanischen Gesetze, wenn sie die im eigentlichen Sinne politischen Verbrechen definieren. So heißt es in Abschnitt 4, Art. 1 der Verfassung der Vereinigten Staaten: »Verbrechen, die eine Verurteilung des Präsidenten rechtfertigen, sind Hochverrat, Bestechung und andere schwere Verbrechen und Vergehen.« Die meisten Verfassungen der einzelnen Staaten drücken sich noch unbestimmter aus. »Die öffentlichen Beamten«, heißt es in der Verfassung von Massachusetts, »werden wegen strafbarer Führung [114]und schlechter Verwaltung bestraft.«24 »Alle Beamten, die durch schlechte Verwaltung, Bestechung oder andere Vergehen den Staat gefährdet haben«, heißt es in der Verfassung von Virginia, »können von der Deputiertenkammer angeklagt werden.« Es gibt Verfassungen, die gar kein Verbrechen anführen, um so die öffentlichen Beamten mit unbeschränkter Verantwortlichkeit zu belasten.25

Besonders fürchterlich aber sind die hier einschlägigen amerikanischen Gesetze, wie ich zu behaupten wage, eben durch ihre Milde.

Wir haben gesehen, dass in Europa die Amtsenthebung und das Verbot, künftig ein Amt zu bekleiden, die Folgen der Strafe sind, in Amerika aber die Strafe selbst. Daraus ergibt sich: In Europa haben die politischen Gerichte ungeheure Befugnisse, von denen sie zuweilen keinen Gebrauch zu machen wissen; und so strafen sie aus Angst, zu hart zu strafen, manchmal gar nicht. In Amerika aber schrickt man nicht vor einer Strafe zurück, die der Menschheit keinen Seufzer entlockt: Einen politischen Gegner zum Tode zu verurteilen, um ihm die Macht zu entreißen, ist in aller Augen scheußlicher Mord; seinen Gegner dieser Macht für unwürdig zu erklären und sie ihm zu nehmen, ohne Leben und Freiheit anzutasten, kann die billige Lösung des Streits scheinen.

Aber dieser Spruch, so leicht zu fällen, ist doch, wenn er einen einfachen Mann trifft, das größte Unglück. Die bedeutenden Verbrecher werden seiner nutzlosen Strenge zweifellos die Stirn bieten; der kleine Mann wird in ihm [115]ein Urteil sehen, das seine Stellung vernichtet, seine Ehre befleckt und ihn zu schmachvollem Nichtstun verdammt, das schlimmer ist als der Tod.

Die politische Gerichtsbarkeit übt auf das Staatsleben in den Vereinigten Staaten einen Einfluss aus, der umso größer ist, als er nicht so furchtbar scheint. Sie wirkt nicht unmittelbar auf die Regierten ein, aber sie gibt der Mehrheit die vollkommene Herrschaft über die Regierenden; sie verleiht dem Gesetzgeber keine ungeheure Macht, die er nur im Zeitpunkt einer Krise ausüben, sondern eine mäßige und geordnete Macht, deren er sich täglich bedienen kann. Ist die Macht nicht so groß, so ist andererseits ihr Gebrauch noch einfacher, der Missbrauch noch leichter.

Als die Amerikaner der politischen Gerichtsbarkeit die richterlichen Strafen entzogen, sind sie, meiner Ansicht nach, mehr den furchtbarsten Folgen der Tyrannei der gesetzgebenden Gewalt zuvorgekommen als der Tyrannei schlechthin. Ich bin nicht sicher, ob – im Ganzen betrachtet – die politische Gerichtsbarkeit, wie man sie in den Vereinigten Staaten auffasst, nicht doch die fürchterlichste Waffe ist, die jemals den Händen der Mehrheit anvertraut worden ist.

Wenn die amerikanischen Republiken anfangen werden zu verfallen, so glaube ich, wird man das leicht erkennen können: Man muss nur schauen, ob die Tätigkeit der politischen Gerichtsbarkeit zunimmt.

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