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4 Die richterliche Gewalt und ihr Einfluss auf das politische Leben

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Ich habe geglaubt, der richterlichen Gewalt ein besonderes Kapitel widmen zu sollen. Ihre politische Bedeutung ist so groß, dass ich meinte, sie in den Augen des Lesers zu verringern, wenn ich sie nur im Vorbeigehen behandelte.

Es gibt auch anderswo Bundesstaaten als in Amerika; und Republiken gibt es ebenfalls nicht nur in der Neuen Welt; das Repräsentativsystem ist in mehreren europäischen Staaten eingeführt; aber ich glaube, kein Volk der Erde hat bis heute die richterliche Gewalt so organisiert wie die Amerikaner.

Die Organisation des amerikanischen Gerichtswesens erschließt sich dem Verständnis eines Fremden nur schwer. Er sieht, wie bei fast allen politischen Ereignissen die Autorität des Richters angerufen wird, und daraus schließt er natürlich, der Richter sei in den Vereinigten Staaten eine der ersten politischen Mächte. Untersucht er dann die Gerichtsverfassung, so entdeckt er zunächst nur richterliche [94]Zuständigkeiten und richterliche Gewohnheiten. Er gewinnt den Eindruck, die Justiz komme nur durch Zufall mit der Politik in Berührung; aber dieser Zufall kommt täglich vor.

Wenn das Parlament18 von Paris remonstrierte und sich weigerte, ein königliches Edikt zu registrieren, wenn es einen pflichtvergessenen Beamten zur Rechenschaft zog, so trat damit ein politisches Handeln der richterlichen Gewalt klar zutage. Aber Derartiges finden wir in den Vereinigten Staaten nicht.

Die Amerikaner haben der richterlichen Gewalt alle herkömmlichen Kompetenzen bewahrt; die richterliche Gewalt ist streng auf den Bereich beschränkt, in dem sie sich gewöhnlich bewegt.

Das erste Merkmal der richterlichen Gewalt ist bei allen Völkern: Der Richter schlichtet einen Streit. Es muss ein Streit bestehen, sollen die Gerichte tätig werden. Ohne Prozess gibt es keinen Richter. Solange ein Gesetz keinen Anlass zum Streit gibt, hat der Richter keine Möglichkeit, sich damit zu befassen. Der Richter ist zwar da, aber er sieht das Gesetz nicht. Wenn ein Richter im Laufe eines Verfahrens ein Gesetz angreift, das zu diesem Verfahren in Beziehung steht, so dehnt er zwar den Kreis seiner Befugnisse aus, er überschreitet ihn aber nicht, denn er muss zu diesem Gesetz irgendwie Stellung nehmen, um zu einem Urteil in dem Prozess zu gelangen. Spricht sich aber der Richter über ein Gesetz aus, ohne dabei von einem Verfahren [95]auszugehen, so überschreitet er seine Befugnisse und greift in den Bereich der gesetzgebenden Gewalt über.

Das zweite Merkmal der richterlichen Gewalt ist: Sie befindet nur über den konkreten Fall, nicht über allgemeine Grundsätze. Ein Richter, der bei der Entscheidung einer konkreten Frage einen allgemeinen Grundsatz in der Überzeugung verletzt, in gleichgelagerten Fällen werde dieser Grundsatz stets ebenso durchbrochen werden, setzt zwar diesen Grundsatz außer Kraft, bleibt aber dennoch innerhalb seines natürlichen Tätigkeitsbereiches; greift dagegen ein Richter einen allgemeinen Grundsatz unmittelbar an, und verletzt er ihn, ohne einen konkreten Fall im Auge zu haben, so überschreitet er den Bereich, den man übereingekommen ist, ihm einzuräumen: Er wird zu einer Person, die bedeutender, die vielleicht nützlicher ist als ein Justizorgan, aber er hört auf, die richterliche Gewalt zu repräsentieren.

Das dritte Merkmal der richterlichen Gewalt ist: Sie wird nur auf Anruf tätig, juristisch ausgedrückt: nur, wenn sie mit einer Sache befasst wird. Dieses Merkmal ist nicht so allgemeiner Natur wie die beiden anderen. Dennoch glaube ich, dass man es, wenn wir von den Ausnahmen einmal absehen, als der richterlichen Gewalt wesentlich bezeichnen kann. Von Natur befindet sich die richterliche Gewalt in einer Ruhelage; es bedarf eines Anstoßes, damit der Richter tätig wird. Ein Verbrechen wird angezeigt, er bestraft den Schuldigen; man bittet, ein Unrecht wiedergutzumachen, er tut es; man unterbreitet ein Rechtsgeschäft, der Richter legt es aus. Von sich aus aber verfolgt der Richter keine Verbrechen, fahndet nicht nach begangenem Unrecht und ermittelt keine Tatsachen. Die richterliche Gewalt würde dieser passiven Natur des Richteramtes zuwiderhandeln, [96]wollte sie von sich aus die Initiative ergreifen und sich zum Zensor der Gesetze aufschwingen.

Die Amerikaner haben der richterlichen Gewalt diese drei Kennzeichen bewahrt. Der amerikanische Richter entscheidet nur in einem anhängigen Verfahren. Er beurteilt stets nur den konkreten Fall; und er wird nur tätig, wenn er mit einer Sache befasst wird.

Der amerikanische Richter gleicht also vollständig den richterlichen Organen anderer Völker. Dennoch besitzt er eine ungeheure politische Macht.

Woher kommt das? Er wird im gleichen Bereich tätig, er bedient sich der gleichen Mittel wie andere Richter; wieso besitzt er eine Macht, die diese nicht haben?

Der Grund liegt allein in folgender Tatsache: Die Amerikaner erkennen den Richtern das Recht zu, ihre Entscheidungen weit mehr auf die Verfassung als auf die Gesetze zu stützen. Mit anderen Worten, ein amerikanischer Richter braucht ein Gesetz nicht anzuwenden, das er für verfassungswidrig hält.

Ich weiß, dass auch die Gerichtshöfe anderer Länder dieses Recht zuweilen für sich in Anspruch genommen haben; aber es ist ihnen niemals zugestanden worden. In Amerika erkennen es alle Gewalten an; keine Partei, kein Mensch macht es den Richtern streitig. Das erklärt sich aus dem Wesen der amerikanischen Verfassung.

In Frankreich ist die Verfassung ein unabänderbares Ganzes – oder man hält sie doch dafür. Keine Gewalt könnte an ihr etwas ändern: das ist die überlieferte Theorie.19

[98]In England erkennt man dem Parlament das Recht der Verfassungsänderung zu. Dort ändert sich daher die Verfassung unaufhörlich, oder besser: Sie existiert gar nicht. Das Parlament ist gesetzgebende und verfassunggebende Körperschaft zugleich.20

[99]In Amerika sind die politischen Grundanschauungen einfacher und vernünftiger.

Eine Verfassung gilt in Amerika nicht für unabänderbar wie in Frankreich; sie kann nicht – wie in England – durch gewöhnliche Organe des Staates abgeändert werden. Sie bildet ein besonderes Ganzes, das den Willen des Volkes repräsentiert und den Gesetzgeber wie den schlichten Bürger verpflichtet, das aber durch den Willen des Volkes unter bestimmten Umständen und in den vorgeschriebenen Formen abgeändert werden kann.

Die Verfassung kann in Amerika also wechseln; solange sie aber in Kraft steht, ist sie die Grundlage aller Gewalten. In ihr allein liegt die oberste Gewalt beschlossen.

Es liegt auf der Hand, inwiefern diese Unterschiede die rechtliche Stellung und die rechtlichen Befugnisse der [100]richterlichen Gewalt in den drei genannten Ländern beeinflussen.

Könnten die Gerichte in Frankreich ein Gesetz unangewendet lassen, weil sie es für verfassungswidrig halten, so würde die verfassunggebende Gewalt in Wirklichkeit bei ihnen liegen, da sie allein berechtigt wären, eine Verfassung auszulegen, deren Wortlaut nicht geändert werden kann. Sie würden sich so an die Stelle des Volkes setzen und – soweit die der richterlichen Gewalt immanente Schwäche das zulässt – den Staat beherrschen.

Ich weiß wohl, dass, wenn wir den Richtern das Recht absprechen, Gesetze für verfassungswidrig zu erklären, wir damit indirekt den Gesetzgeber ermächtigen, die Verfassung zu ändern; denn es gibt dann kein legales Mittel, ihn davon abzuhalten. Aber besser, wir gestehen die verfassungsändernde Gewalt Männern zu, die, wenn auch unvollkommen, den Willen des Volkes repräsentieren, als anderen, die nur sich selbst repräsentieren.

Noch unvernünftiger wäre es in England, den Richtern das Recht zu geben, sich dem Willen des Gesetzgebers zu widersetzen. Denn das Parlament, das die Gesetze erlässt, beschließt ja auch die Verfassung, und man kann keinesfalls ein Gesetz verfassungswidrig nennen, das die drei Gewalten zusammen erlassen haben.

Keine dieser beiden Überlegungen gilt aber für Amerika.

In den Vereinigten Staaten verpflichtet die Verfassung den Gesetzgeber wie den schlichten Bürger. Sie ist das oberste Gesetz und kann daher nicht durch ein einfaches Gesetz abgeändert werden. Es ist also billig, dass die Gerichte den Gehorsam gegenüber der Verfassung höherstellen als den Gehorsam gegenüber einem einfachen Gesetz. [101]Das liegt im Wesen der richterlichen Gewalt: Es ist gewissermaßen das natürliche Recht des Richters, unter den verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen diejenigen auszuwählen, die ihn am strengsten binden.

Auch in Frankreich ist die Verfassung oberstes Gesetz und können die Richter sie zur Grundlage ihrer Entscheidungen nehmen; würden sie aber dieses Recht ausüben, so würden sie ein anderes, noch höheres verletzen: das des Staates, in dessen Namen sie handeln. Hier muss ihr Recht dem Recht des Staates weichen.

In Amerika, wo das Volk seine Richter jederzeit durch eine Verfassungsänderung wieder zum Gehorsam zwingen kann, besteht diese Gefahr nicht. Hier stimmen also Rechtstheorie und politische Praxis überein, so dass die Richter und das Volk zu ihrem Recht kommen.

In Amerika kann der Richter, der ein Gesetz für verfassungswidrig hält, dieses Gesetz auch dann unangewendet lassen, wenn dagegen Einspruch erhoben wird. Dieses Recht ist wohl das einzige, das ausschließlich den amerikanischen Richtern zusteht, aber gerade dieses Recht hat eine große politische Wirkung.

Es gibt in der Tat nur sehr wenige Gesetze, die so beschaffen sind, dass sie sich der richterlichen Kontrolle für längere Zeit entziehen; denn es gibt nur wenige Gesetze, die nicht irgendein privates Interesse berühren, die nicht so zu Streitigkeiten führen und vor die Gerichte kommen.

Mit dem Tage, an dem der Richter sich weigert, ein Gesetz in einem Verfahren anzuwenden, verliert es einen Teil seiner moralischen Kraft. Diejenigen, die das Gesetz benachteiligt, wissen jetzt, dass sie die Möglichkeit haben, ihm den Gehorsam zu verweigern: Die Verfahren häufen [102]sich, und das Gesetz wird wirkungslos. Dann kann zweierlei geschehen: Das Volk ändert seine Verfassung, oder die Gesetzgebung widerruft das Gesetz.

Die Amerikaner haben also ihren Gerichten eine ungeheure politische Macht anvertraut; aber weil sie die Richter gleichzeitig dazu verpflichteten, die Gesetze nur mit richterlichen Mitteln anzugreifen, haben sie die Gefahren dieser Macht weitgehend gebannt.

Könnte der Richter die Gesetze abstrakt und losgelöst vom Fall angreifen, könnte er von sich aus tätig werden und den Gesetzgeber beaufsichtigen, so würde er auf der politischen Bühne eine große Rolle spielen; Vorkämpfer oder Gegner einer Partei, würde er alle Leidenschaften, die das Land zerreißen, dazu aufrufen, Partei zu nehmen. Da aber der Richter ein Gesetz nur in einer unauffälligen Verhandlung über einen konkreten Rechtsfall angreift, verbirgt er die Bedeutung des Angriffs zum Teil vor den Augen der Öffentlichkeit. Sein Urteil betrifft nur ein Einzelinteresse; das Gesetz ist nur wie durch Zufall verletzt.

Im Übrigen tritt ein Gesetz, das so beurteilt wird, damit noch nicht außer Kraft: Lediglich sein moralisches Gewicht ist vermindert, an seiner Wirksamkeit als geltendes Recht ändert das nichts. Erst allmählich wird es den immer wiederholten Schlägen der Rechtsprechung endlich erliegen.

Darüber hinaus ist klar: Indem man es dem Privatinteresse anheimstellte, die Kontrolle des Gesetzes herbeizuführen, und indem man die Verhandlung über das Gesetz engstens mit der Verhandlung gegen einen Menschen verknüpfte, schuf man die Gewähr dafür, dass die Gesetzgebung nicht leichtfertig angegriffen wird. In diesem System [103]ist die Gesetzgebung nicht mehr den täglichen Angriffen der Parteien ausgesetzt. Macht man auf die Fehler des Gesetzgebers aufmerksam, so gehorcht man einem wahren Bedürfnis: Man geht von einem wirklichen und beurteilbaren Fall aus, denn er soll ja zur Grundlage eines Verfahrens dienen.

Ich weiß nicht, ob diese Art des Vorgehens der amerikanischen Gerichte, abgesehen von der günstigen Wirkung auf die öffentliche Ordnung, nicht auch für die Freiheit am vorteilhaftesten ist.

Wenn der Richter den Gesetzgeber nur mit offenem Visier angreifen kann, so wird er zuweilen davor zurückschrecken; zu anderen Zeiten kann der Parteigeist ihn treiben, es täglich zu wagen. Daher würden die Gesetze immer dann angegriffen werden, wenn die gesetzgebende Gewalt schwach, man würde sie ohne Murren hinnehmen, wenn die gesetzgebende Gewalt stark ist; d. h., man würde die Gesetze oft gerade dann angreifen, wenn es am vorteilhaftesten wäre, ihnen zu gehorchen, und würde sich ihnen fügen, wenn es leicht geworden ist, im Namen des Gesetzes Unterdrückung zu üben.

Der amerikanische Richter aber wird ohne sein Zutun auf die politische Ebene gezogen. Er beurteilt das Gesetz nur, weil er einen Prozess entscheiden muss, und er kann nicht vor einer Entscheidung ausweichen. Die politische Frage, die er lösen soll, vermischt sich mit dem Interesse der Parteien, und er kann sich nicht weigern, sie zu lösen, ohne sich einer Rechtsverweigerung schuldig zu machen. Indem er so die ihm als Richter auferlegten strengen Pflichten wahrnimmt, erfüllt er zugleich seine Pflicht als Bürger. Es ist richtig, dass diese Art der richterlichen Kontrolle, wie [104]sie die Gerichte über die Gesetzgebung ausüben, sich nicht unterschiedslos auf alle Gesetze erstrecken kann; denn es gibt Gesetze, die niemals zu jener Art von klar formuliertem Streit, die man Prozess nennt, Anlass geben. Ja, selbst wenn ein solcher Streit möglich ist, so ist es doch wohl denkbar, dass er nicht dem Menschen widerfährt, der die Gerichte gern damit befassen möchte.

Die Amerikaner haben diesen Mangel oft bemerkt, aber sie haben das richterliche Prüfungsrecht gleichwohl nicht vollständiger ausgestaltet, in der Besorgnis, ihm durch Ausdehnung auf alle Fälle eine gefährliche Wirksamkeit zu verleihen.

In ihren engen Grenzen stellt die den amerikanischen Richtern eingeräumte Befugnis, über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen zu urteilen, eines der mächtigsten Bollwerke dar, die jemals gegen die Tyrannei gesetzgebender Körperschaften errichtet worden sind.

Über die Demokratie in Amerika

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