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[116]6 Hoher Rang des Obersten Gerichtshofes innerhalb der großen Staatsgewalten

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Wenn man nach der Prüfung der Ordnung des Obersten Gerichtshofes im Einzelnen die ihm übertragenen Befugnisse im Ganzen betrachtet, erkennt man ohne weiteres, dass kein Volk je eine so gewaltige gerichtliche Macht begründet hat.

Der Oberste Gerichtshof steht höher als irgendein bekanntes Gericht sowohl durch das Wesen seiner Rechte als auch die Art der zu Richtenden.

In allen gebildeten Nationen Europas zeigte die Regierung stets einen starken Widerwillen dagegen, dass die gewöhnliche Rechtsprechung Fragen entscheide, die sie selbst angehen. Dieser Widerwille ist natürlich umso größer, je unumschränkter die Regierung ist. Wenn hingegen die Freiheit zunimmt, erweitert sich ständig der Kreis der gerichtlichen Befugnisse; aber keine der europäischen Nationen hat bisher daran gedacht, dass eine jede gerichtliche Frage, woher sie auch stamme, den Richtern gemeinen Rechts überlassen werden könnte.

In Amerika hat man diese Lehre in die Wirklichkeit umgesetzt. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten ist der alleinige und einzige Gerichtshof der Nation.

Er ist mit der Auslegung der Gesetze und der Verträge beauftragt; er ist ausschließlich zuständig für die Fragen der Seefahrt und für alle diejenigen, die mit dem Völkerrecht verknüpft sind. Man kann sogar sagen, dass seine Befugnisse fast durchweg politische sind, obwohl sein Wesen völlig gerichtlicher Art ist. Sein einziges Ziel besteht darin, die Gesetze der Union ausführen zu lassen, und die Union [117]regelt nur die Beziehungen der Regierung mit den Regierten und der Nation mit dem Ausland; die Beziehungen der Bürger unter sich unterstehen fast alle der Souveränität der Staaten.

Diesem ersten Grund seiner Bedeutung gesellt sich ein weiterer, noch wichtigerer zu. In den Nationen Europas haben die Gerichtshöfe es nur mit Privatleuten zu tun; der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten jedoch lädt Souveränitätsträger vor seine Schranken. Wenn der Gerichtsdiener die Stufen des Gerichtes hinaufsteigt, um diese wenigen Worte zu verkünden: »Der Staat New York gegen den Staat Ohio«, so fühlt man, dass man sich da nicht im Bereich eines gewöhnlichen Gerichtshofes befindet. Und bedenkt man, dass die eine der Parteien eine Million Menschen vertritt und die andere zwei Millionen, staunt man über die Verantwortung, die auf den sieben26 Richtern lastet, deren Urteil eine so große Anzahl ihrer Mitbürger erfreuen oder betrüben wird.

In den Händen der sieben Bundesrichter ruhen Friede, Wohlfahrt und Bestand der Union selbst. Ohne sie ist die Verfassung ein totes Werk; an sie wendet sich die vollziehende Gewalt, um den Übergriffen der gesetzgebenden Körperschaft zu begegnen; die gesetzgebende Gewalt, um sich gegen die Vorhaben der vollziehenden Gewalt zu verteidigen; die Union, um die Staaten zum Gehorsam zu bringen; die Staaten, um die übertriebenen Ansprüche der Union zurückzuweisen; das öffentliche Interesse gegen das [118]private Interesse; der Geist des Bewahrens gegen die demokratische Unbeständigkeit. Ihre Macht ist außerordentlich groß; es ist die Macht der öffentlichen Meinung. Sie sind allmächtig, solange das Volk bereit ist, dem Gesetz zu gehorchen, sie sind ohnmächtig, sobald es das Gesetz missachtet. Nun ist die Macht der öffentlichen Meinung am schwersten zu handhaben, denn ihre Grenzen lassen sich unmöglich genau angeben. Oft ist es ebenso gefährlich, innerhalb dieser Grenzen zu bleiben, als sie zu überschreiten.

Die Bundesrichter müssen also nicht bloß gute Bürger, gebildete und rechtschaffene Männer sein, Eigenschaften, wie sie für jeden Beamten nötig sind, es muss in ihnen auch ein Staatsmann stecken; sie müssen den Geist ihrer Zeit erkennen, die Hindernisse angreifen, die man meistern kann, und sich aus der Strömung halten können, wenn die Flut mit ihnen die Bundessouveränität und den ihren Gesetzen geschuldeten Gehorsam hinwegzuschwemmen droht.

Der Präsident kann fehlgehen, ohne dass der Staat leidet, denn der Präsident hat nur eine begrenzte Pflicht. Der Kongress kann irren, ohne dass die Union untergeht, denn über dem Kongress herrscht die Wählerschaft, die den Geist ändern kann, indem sie die Mitglieder wechselt.

Wäre der Oberste Gerichtshof aber aus unvorsichtigen oder bestechlichen Männern zusammengesetzt, so hätte der Bundesstaat Anarchie oder Bürgerkrieg zu befürchten.

Man täusche sich übrigens nicht, die eigentliche Ursache der Gefahr liegt nicht in der Konstitution des Gerichtshofes, sondern im Wesen der bundesstaatlichen Regierungen selbst. Wie wir sehen, ist es nirgends nötiger als bei Bundesvölkern, die richterliche Gewalt stark zu machen, denn [119]nirgends sind die Einzelkräfte, die sich gegen den sozialen Körper wenden können, größer und zum Widerstand gegen die materielle Macht der Regierung besser gerüstet.

Je stärker eine Macht aber sein soll, desto umfassender und unabhängiger muss sie sein. Je umfassender und unabhängiger eine Macht, desto größer die Gefahr ihres Missbrauchs. Des Übels Ursprung liegt also nicht in der Konstitution dieser Macht, sondern in der Verfassung des Staates selbst, der das Vorhandensein einer solchen Macht erheischt.

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