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Vom Gemeindegeist in Neuengland

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Es gibt in Amerika nicht bloß Gemeindeeinrichtungen, sondern auch einen Gemeindegeist, der sie trägt und belebt.

In Neuengland vereinigt die Gemeinde zwei Vorzüge in sich, die überall, wo man sie antrifft, lebhafte [70]Aufmerksamkeit erregen; es sind dies Unabhängigkeit und Macht. Ihre Tätigkeit ist freilich auf einen in sich geschlossenen Kreis begrenzt, aber innerhalb dessen ist sie in ihrem Tun frei. Diese Unabhängigkeit verliehe ihr allein schon wirkliche Bedeutung, wenn diese ihr nicht schon durch die Bevölkerungszahl und die Größe ihres Gebietes gesichert wäre.

Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Neigungen der Menschen im Allgemeinen in die Richtung gehen, in der sich die Macht befindet. Die Vaterlandsliebe bleibt in einem eroberten Lande nicht lange lebendig. Der Einwohner von Neuengland hängt an seiner Gemeinde nicht so sehr deswegen, weil er dort geboren ist, sondern weil er in ihr eine freie und starke Gemeinschaft sieht, zu der er gehört und die zu leiten sich lohnt.

In Europa kommt es oft vor, dass die Regierenden selber den Mangel an Gemeindegeist bedauern; denn alle stimmen darin überein, dass der Gemeindegeist ein wichtiges Element der Ordnung und der öffentlichen Ruhe bildet; aber sie wissen nicht, wie man ihn hervorbringt. Sie fürchten die Aufteilung der gesellschaftlichen Macht und für den Staat die Gefahren der Anarchie, wenn sie die Gemeinde stark und unabhängig werden lassen. Wo aber der Gemeinde die Stärke und die Unabhängigkeit entzogen wird, kann es immer nur Verwaltete, nie aber Bürger geben.

Zudem ist eine wichtige Tatsache zu beachten: es liegt im Wesen der Gemeinde Neuenglands, dass sie rege Teilnahme weckt, ohne dass neben ihr etwas besteht, das die ehrgeizigen Leidenschaften des menschlichen Herzens kräftig auf sich lenkt.

Die Grafschaftsbeamten werden nicht gewählt, und ihre Macht ist beschränkt. Der Staat hat nur untergeordnete [71]Bedeutung; er führt ein unauffälliges und stilles Dasein. Um sich an seiner Verwaltung zu beteiligen, sind nicht viele Menschen gewillt, den Ort ihrer Geschäfte zu verlassen und Unruhe in ihr Leben zu bringen.

Die Bundesregierung verleiht ihren Trägern Macht und Ruhm; die Zahl der Menschen jedoch, die daran teilnehmen können, bleibt sehr klein. Die Präsidentschaft ist ein hohes Amt, das einem erst in vorgeschrittenem Alter zufallen kann. Zu den andern höheren Bundesämtern bringt es einer gewissermaßen mehr durch Zufall und nachdem er sich in einer andern Laufbahn einen Namen gemacht hat. Ein Ehrgeiziger kann sie sich nicht als festes Ziel vornehmen. Das Begehren nach Ansehen, der Drang realer Interessen und der Hang nach Macht und Betrieb münden alle bei der Gemeinde als dem Mittelpunkt des Daseins; diese Leidenschaften, die so häufig Unruhe in die Gesellschaft tragen, wandeln sich, sobald sie im Bereich der Häuslichkeit und sozusagen im Schoß der Familie befriedigt werden können.

Seht, mit welcher Kunst die amerikanische Gemeinde darauf ausgeht, die Macht gleichsam zu zersplittern, um auf diese Weise viele Leute am öffentlichen Leben teilnehmen zu lassen. Wie vielerlei Ämter, wie viele verschiedene Beamte vertreten im Rahmen ihrer Aufgaben die mächtige Körperschaft, in deren Namen sie handeln, abgesehen von den Wählern selbst, die von Zeit zu Zeit zu Regierungshandlungen aufgerufen werden! Wie viele Menschen beuten die Gemeindegewalt zu ihren Gunsten aus und haben für sich selbst einen Vorteil davon.

Das amerikanische System, das die Gemeindegewalt auf viele Bürger verteilt, schreckt anderseits auch nicht davor [72]zurück, die Gemeindepflichten zu vervielfachen. Mit Recht hält man in den Vereinigten Staaten die Vaterlandsliebe für eine Art Kult, an dem die Menschen umso mehr hängen, je länger sie ihn ausüben. Auf diese Weise ist das Gemeindeleben gewissermaßen ständig gegenwärtig; täglich wird es durch die Erfüllung einer Pflicht oder durch die Ausübung eines Rechtes spürbar. Dieses politische Leben versetzt die Gesellschaft in eine andauernde und zugleich friedsame Bewegung, die sie rege erhält, ohne sie zu beunruhigen.

Der gleiche Grund, der in den Bergbewohnern die Liebe zur Heimat weckt, verbindet die Amerikaner mit ihrem Gemeinwesen. Ihr Vaterland trägt ausgeprägte und deutliche Züge; es hat gleichsam mehr Profil als anderswo.

Das Leben der Gemeinden Neuenglands ist im Allgemeinen glücklich. Ihre Regierung ist Ausdruck ihrer Neigung wie ihrer Wahl. Der tiefe Friede und der Wohlstand, in denen Amerika lebt, lassen nur geringe Erschütterungen des Gemeindelebens zu. Die Besorgung der Gemeindegeschäfte ist leicht. Außerdem ist die politische Erziehung des Volkes abgeschlossen, oder besser gesagt, das Volk ist, als es das Land besiedelte, schon aufgeklärt angekommen. In Neuengland gibt es nicht einmal die Erinnerung an Rangunterschiede und daher auch in der Gemeinde keine Gruppen, die einander zu unterdrücken trachten; die Ungerechtigkeiten, die nur Einzelne treffen, verschwinden in der allgemeinen Zufriedenheit. Falls sich in der Regierung Mängel zeigen, und solche lassen sich gewiss aufweisen, fallen sie nicht sehr auf, denn die Regierung ist das Werk der Regierten, und wenn sie einigermaßen gut arbeitet, wird sie mit einer Art väterlichen Stolzes behütet. Man [73]kann sie übrigens mit nichts vergleichen. England herrschte einst über die Gesamtheit der Kolonien, immer aber beließ es die Leitung der Gemeindegeschäfte dem Volke. Die Volkssouveränität in der Gemeinde ist daher nicht nur ein alter, sondern sie ist ein ursprünglicher Zustand.

Der Einwohner Neuenglands fühlt sich mit seiner Gemeinde verbunden, weil sie stark und unabhängig ist; er kümmert sich um sie, weil er zur Lenkung ihrer Geschäfte beiträgt; er liebt sie, weil er sich über sein Los nicht zu beklagen hat; sein Ehrgeiz und seine Zukunft wurzeln in ihr; er befasst sich mit allen Ereignissen des Gemeindelebens; in diesem begrenzten, ihm zugänglichen Umkreis beginnt er die Gesellschaft zu regieren; er gewöhnt sich an die Formen, ohne die die Freiheit nur durch Revolutionen fortschreitet; er lässt sich von ihrem Geist durchdringen, er gewöhnt sich an die Ordnung, er versteht das Ineinandergreifen der Befugnisse, und endlich eignet er sich klare und praktische Gedanken an über das Wesen seiner Pflichten und über das Maß seiner Rechte.

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