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[75]Über die politischen Wirkungen der dezentralisierten Verwaltung in den Vereinigten Staaten

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Die Zentralisierung ist ein Wort, das man in unseren Tagen ohne Unterlass wiederholt und dessen Sinn im Allgemeinen niemand klarzulegen sucht.

Es gibt jedoch zwei deutlich unterschiedene Arten der Zentralisierung, die man gut kennen muss.

Gewisse Angelegenheiten sind sämtlichen Teilen der Nation gemeinsam, wie die Gestaltung der allgemeinen Gesetze und die Beziehungen des Volkes zum Ausland.

Andere sind Sonderanliegen bestimmter Teile der Nation, wie z. B. die Gemeindeangelegenheiten.

Wird die Macht zur Lenkung der erstgenannten Aufgaben an einem Orte oder in einer Hand konzentriert, so bezeichne ich das als Zentralisierung der Regierung.

Wird die Führung der zweitgenannten Angelegenheiten in gleicher Weise konzentriert, so nenne ich das Zentralisierung der Verwaltung.

Es gibt Punkte, wo die beiden Zentralisierungen zusammenfallen. Betrachtet man aber Sachgebiete, die in ihrer Gesamtheit vornehmlich der einen oder der andern von beiden zugehören, so lassen sie sich unschwer unterscheiden.

Es leuchtet ein, dass die Zentralisierung der Regierung eine gewaltige Macht erhält, wenn sie sich mit der Verwaltungszentralisierung verbindet. Solcherweise gewöhnt sie die Menschen daran, von ihrem Willen vollkommen und beständig abzusehen; nicht nur einmal und in einem Punkte, sondern durchweg und täglich zu gehorchen. Sie bändigt sie alsdann nicht nur durch Gewalt, sondern sie packt [76]sie außerdem bei ihren Gewohnheiten; sie gibt sie der Vereinzelung preis und bemächtigt sich daraufhin jedes Einzelnen in der allgemeinen Masse.

Diese beiden Arten der Zentralisierung stützen sich wechselseitig, sie ziehen sich gegenseitig an; aber ich kann nicht glauben, dass sie untrennbar seien.

Frankreich erlebte unter Ludwig XIV. die größte Zentralisierung der Regierung, die man sich denken kann, da der gleiche Mann die allgemeinen Gesetze erließ und sie auslegte, Frankreich nach außen vertrat und in dessen Namen handelte. »Der Staat bin ich«, sagte er; und er hatte recht.

Und doch gab es unter Ludwig XIV. weit weniger Verwaltungszentralisierung als heutzutage.

Wir sehen heute eine Macht, England, in der die Zentralisierung der Regierung sehr weit getrieben ist; der Staat scheint wie eine einzige Person zu handeln; er bewegt nach seinem Willen gewaltige Massen, er vereinigt alle Macht auf sich, er richtet ihre ganze Wucht wohin er will.

England, das seit fünfzig Jahren so große Dinge vollbrachte, kennt keine Zentralisierung der Verwaltung.

Ich vermag mir für meinen Teil nicht vorzustellen, dass eine Nation ohne starke Regierungszentralisierung leben oder gedeihen kann.

Aber ich glaube, dass eine zentralisierte Verwaltung zu nichts anderem taugt, als die ihr unterworfenen Völker zu schwächen, denn sie vermindert in ihnen ohne Unterlass den Bürgergeist. Die zentralisierte Verwaltung vermag allerdings zu einer gegebenen Zeit und an einer gegebenen Stelle alle verfügbaren nationalen Kräfte zu sammeln, aber sie schadet der Erneuerung der Kräfte. Sie lässt sie am Tage des Kampfes triumphieren und vermindert auf die Dauer [77]ihre Macht. Sie kann wunderbar die vergängliche Größe eines Menschen fördern, aber nicht das dauerhafte Gedeihen eines Volkes.

Man muss sehr aufpassen, wenn man sagt, ein Staat könne nicht handeln, weil er nicht zentralisiert sei; fast immer meint man, ohne es zu wissen, die Zentralisierung der Regierung. Man erwähnt, Deutschland habe seine Kräfte nie zu voller Wirkung gebracht. Einverstanden. Aber weshalb? Weil die Kraft der Nation nie zentralisiert wurde; weil der Staat niemals seine allgemeinen Gesetze zum Gehorsam bringen konnte; weil die getrennten Teile dieser großen Gesamtheit immer das Recht oder die Möglichkeit hatten, den Trägern der gemeinsamen Oberhoheit ihre Mithilfe zu versagen, selbst in Dingen, die alle Bürger angingen; mit andern Worten, weil es dort keine zentrale Regierung gab. Die gleiche Bemerkung gilt für das Mittelalter: Alles Elend der Feudalgesellschaft rührt daher, dass nicht bloß die Macht der Verwaltung, sondern die des Regierens in unzähligen Händen lag und auf tausenderlei Arten zersplittert war; das Fehlen jeglicher Zentralregierung hinderte damals die Nationen Europas, entschlossen irgendein Ziel zu verfolgen.

Wie wir sahen, gibt es in den Vereinigten Staaten keine Zentralisierung der Verwaltung. Kaum die Spuren einer Hierarchie sind zu finden. Die Dezentralisierung ist dort so weit getrieben, wie es keine europäische Nation ohne tiefes Unbehagen ertrüge, so sehr, dass selbst in Amerika unangenehme Folgen entstehen. In den Vereinigten Staaten besteht aber eine hochgradige Zentralisierung der Regierung. Es wäre leicht nachzuweisen, dass die nationale Macht dort stärker konzentriert ist, als es jemals in [78]irgendeiner der alten europäischen Monarchien der Fall gewesen ist. Nicht nur gibt es in jedem Staat bloß eine Körperschaft, die die Gesetze macht; nicht allein besteht da nur eine Macht, die in ihrem Umkreis politisches Leben zu erzeugen vermag; überdies vermied man im Allgemeinen, zahlreiche Orts- und Grafschaftsversammlungen einzuberufen, aus Angst, diese Versammlungen könnten danach trachten, ihre Verwaltungsbefugnisse zu überschreiten und die Regierung im Handeln zu stören. In Amerika steht der gesetzgebenden Versammlung eines jeden Staates keine Macht gegenüber, die ihr widerstehen könnte. Nichts vermöchte sie auf ihrem Weg aufzuhalten, weder Vorrechte noch örtliche Unantastbarkeit, noch persönlicher Einfluss, nicht einmal die Hoheit der Vernunft, denn sie vertritt die Mehrheit, die sich als einziges Organ der Vernunft ausgibt. Ihr Tun stößt also auf keinerlei Grenzen als die ihres eigenen Wollens. Ihr zur Seite und ihr unterstellt steht der Vertreter der ausführenden Gewalt, der mit Hilfe der materiellen Gewalt die Unzufriedenen zum Gehorsam zwingen muss.

Die Schwäche zeigt sich bloß in manchen Einzelheiten der Regierungstätigkeit.

Die amerikanischen Staaten haben kein stehendes Heer, um die Minderheiten zu unterdrücken, aber die Minderheiten sind hier bis jetzt nie genötigt gewesen, Krieg zu führen, und eine Armee ist noch nicht als nötig empfunden worden. Der Staat bedient sich meist der Gemeinde- oder Grafschaftsbeamten, um auf die Bürger einzuwirken. So setzt zum Beispiel in Neuengland der Gerichtsbeisitzer die Steuern fest; der Steuereinnehmer erhebt sie; der Gemeindeschatzmeister stellt die Einnahmen dem Schatzamt zu, [79]und die Reklamationen, die geltend gemacht werden, gelangen vor die gewöhnlichen Gerichte. Eine solche Art der Steuererhebung ist langsam, umständlich; sie würde die Arbeit einer Regierung mit großen Geldbedürfnissen beständig hemmen. Im Allgemeinen ist es wünschbar, dass die Regierung für alles Lebenswichtige über ihre eigenen von ihr gewählten und durch sie absetzbaren Beamten und über rasche Verfahren verfüge; aber so wie die Zentralgewalt in Amerika organisiert ist, wird es ihr immer leichtfallen, je nach Bedarf kräftigere und wirksamere Mittel des Handelns einzuführen.

Es ist also nicht das Fehlen einer Zentralregierung in den Vereinigten Staaten, das, wie man oft hört, die Republiken der Neuen Welt zugrunde richten wird; man kann behaupten, dass die amerikanischen Regierungen nicht zu wenig, sondern eher zu stark zentralisiert sind; ich werde es später beweisen. Jeden Tag verschlingen die gesetzgebenden Versammlungen einige Überreste der Regierungsgewalten; sie trachten, diese insgesamt an sich zu reißen, wie es die Konvention getan hatte. Die derart zentralisierte gesellschaftliche Gewalt geht ständig in andere Hände über, weil sie der Macht des Volkes untergeordnet ist. Häufig lässt sie Weisheit und Weitsicht vermissen, weil sie allmächtig ist. Hier besteht für sie die Gefahr. Nicht wegen ihrer Schwäche, sondern gerade wegen ihrer Stärke droht ihr eines Tages der Untergang.

Die Dezentralisierung der Verwaltung erzeugt in Amerika mehrere ganz verschiedenartige Wirkungen.

Wir sahen, dass die Amerikaner die Verwaltung fast ganz von der Regierung getrennt haben; sie scheinen mir dabei die Grenzen gesunder Vernunft überschritten zu [80]haben; denn die Ordnung ist selbst in untergeordneten Dingen von nationaler Bedeutung.15

Da der Staat über keine eigenen Verwaltungsbeamten verfügt, die in fester Stellung auf verschiedene Punkte des Staatsgebietes verteilt sind und denen er gemeinsame Richtlinien geben könnte, sucht er selten allgemeine Verhaltungsregeln aufzustellen. Nun besteht aber ein lebhaftes Bedürfnis nach solchen Regeln. Der Europäer bemerkt oft ihre Abwesenheit. Der Anschein von Unordnung, die an der Oberfläche herrscht, lässt ihn zunächst glauben, es bestehe in der Gesellschaft völlige Anarchie; nur bei gründlicher Prüfung sieht er seinen Irrtum ein.

Gewisse Unternehmungen können, obwohl sie den ganzen Staat angehen, nicht ausgeführt werden, weil keine nationale Verwaltung da ist, die sie leitet. Der Sorge der Gemeinden und Grafschaften überlassen und Beamten anvertraut, deren Amtsdauer begrenzt ist, führen sie zu keinem Ergebnis und schaffen nichts Dauerhaftes.

Die Befürworter der Zentralisierung in Europa behaupten, die Regierungsmacht verwalte die Kleinbezirke besser, als diese sich selbst verwalten könnten; das mag zutreffen, [81]wenn die Zentralgewalt geschult ist und es in den Kleinbezirken an Bildung fehlt, wenn jene unternehmend ist und diese untätig sind, wenn jene gewohnt ist zu handeln und diese gewohnt zu gehorchen. Man begreift sogar, dass diese zweifache Neigung wächst und dass die Tüchtigkeit der einen und die Unfähigkeit der andern sich immer stärker ausprägen, je mehr die Zentralisierung zunimmt.

Ich bestreite aber, dass dies der Fall ist, sobald das Volk gebildet und aufmerksam seine Interessen wahrzunehmen gewohnt ist, wie dies in Amerika geschieht.

Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, dass in diesem Fall die Gesamtstärke der Bürger stets mächtiger als die Regierung sein wird, das soziale Wohlergehen zu fördern.

Es ist, ich gestehe es, schwer, das Mittel anzugeben, durch das man ein dumpfes Volk aufrütteln kann, um ihm die Leidenschaften und die Erkenntnisse zu geben, die es nicht hat; Menschen davon zu überzeugen, dass sie sich um ihre Angelegenheiten kümmern sollen, ist, ich verkenne es nicht, ein schwieriges Unterfangen. Es wäre oft weniger schwer, sie für die Einzelheiten einer Hofetikette zu erwärmen als für die Ausbesserung ihres gemeinschaftlichen Hauses.

Aber ich glaube auch, dass die Zentralverwaltung sich täuscht oder einen täuschen will, wenn sie die freie Mitwirkung der Nächstbeteiligten völlig auszuschalten trachtet.

Man möge sich eine Zentralgewalt noch so erfahren vorstellen, niemals ist sie fähig, alle Einzelheiten im Leben eines großen Volkes zu erfassen. Sie kann es nicht, weil eine solche Arbeit über die menschlichen Kräfte geht. Will sie durch ihre Dienste allein so viele Bereiche schaffen und [82]arbeiten lassen, so begnügt sie sich entweder mit einem sehr unzureichenden Ergebnis, oder sie erschöpft sich in erfolglosen Bemühungen.

Die Zentralisierung bringt es allerdings leicht fertig, das Tun des Menschen äußerlich einer gewissen Gleichförmigkeit zu unterwerfen, die man schließlich um ihrer selbst willen liebt, ungeachtet der Dinge, die davon betroffen werden; sie gleicht darin genau den Frömmlern, die über der Anbetung des Bildwerkes die Gottheit vergessen, die es darstellt. Der Zentralisierung gelingt es mühelos, die laufenden Geschäfte in geregeltem Gang zu halten; die soziale Polizeiaufsicht in allen Einzelheiten zu lenken; die leichten Unregelmäßigkeiten und kleinen Vergehen zu ahnden; die Gesellschaft in einem Status quo zu erhalten, der eigentlich weder Niedergang noch Fortschritt ist; den sozialen Körper in einer Art von Verwaltungsschlummer zu belassen, den die Verwalter gute Ordnung und öffentliche Ruhe zu nennen pflegen.16 Mit einem Wort, sie zeichnet sich durch Verhindern, nicht durch Tun aus. Geht es darum, die Gesellschaft kräftig aufzurütteln oder sie rasch in Bewegung zu bringen, so versagt ihre Kraft. Sobald sie in ihren Maßnahmen auf die Mitwirkung der Einzelnen angewiesen ist, [83]bemerkt man ganz erstaunt die Schwäche dieser gewaltigen Maschine; sie findet sich plötzlich kraftlos.

Es kommt dann bisweilen vor, dass die zentralisierte Verwaltung in ihrer Not die Bürger zu Hilfe ruft; doch sie erklärt ihnen: ihr handelt, wie ich will, soviel ich will und genau in dem Sinne, den ich will. Ihr befasst euch mit dem Einzelnen, ohne nach der Führung des Ganzen zu streben; ihr arbeitet im Dunkeln, und ihr werdet mein Werk später an den Früchten beurteilen. Unter solchen Bedingungen lässt sich die Mitarbeit des menschlichen Wollens nicht erlangen. Es braucht für sein Streben Freiheit, für seine Taten Verantwortung. Der Mensch ist so geartet, dass er lieber keinen Finger rührt, als in Abhängigkeit einem Ziel zuzuschreiten, das er nicht kennt.

Ich bestreite nicht, dass man oft bedauert, in den Vereinigten Staaten keine der gleichförmigen Vorschriften anzutreffen, die fortwährend über jeden von uns zu wachen scheinen.

Man stößt dort von Zeit zu Zeit auf erhebliche Fälle von Sorglosigkeit und sozialer Nachlässigkeit. Ab und zu zeigen sich grobe Fehler, die zur umgebenden Kultur in krassem Widerspruch stehen.

Nützliche Unternehmungen, die nur dank steter Sorge und strenger Genauigkeit gelingen können, werden oft preisgegeben; denn in Amerika wie anderswo lässt sich das Volk in seinen Anstrengungen vom Augenblick und von plötzlichen Antrieben leiten.

Der Europäer, gewohnt, ständig einen Beamten vorzufinden, der sich so ziemlich in alles einmischt, gewöhnt sich schwer an dieses mannigfaltige Räderwerk der Gemeindeverwaltung. Im Allgemeinen ist zu sagen, dass die kleinen [84]Einzeldinge der sozialen Ordnung, die das Leben angenehm und bequem machen, in Amerika vernachlässigt werden; aber die dem gesellschaftlich lebenden Menschen wesentlichen Sicherheiten bestehen dort wie überall sonst. Die Kraft, die den Staat verwaltet, ist in Amerika weit weniger geordnet, weniger gebildet, weniger erfahren, aber hundertfach stärker als in Europa. Es gibt in der Welt kein anderes Land, in dem sich die Menschen, kurz gesagt, so anstrengen, um es zu sozialem Wohlergehen zu bringen. Ich kenne kein Volk, das so zahlreiche und auch so erfolgreiche Schulen geschaffen hätte; Kirchen, die den religiösen Bedürfnissen der Einwohner besser entsprächen; Gemeindestraßen, die besser unterhalten wären. Man darf also in Amerika nicht Gleichförmigkeit und Beharrlichkeit in den Ansichten, nicht kleinliche Sorge für Einzeldinge, nicht vollkommene Verwaltungsweisen suchen wollen; was man findet, ist das Bild einer Kraft, die freilich etwas roh, aber mächtig ist; Leben mit allerlei Überraschungen des Zufalls, aber auch voller Bewegung und Spannkraft.

Ich gebe übrigens gerne zu, dass die Dörfer und Grafschaften der Vereinigten Staaten durch eine von ihnen entfernt liegende und ihnen fremde Zentralgewalt besser zu verwalten wären als durch Beamte aus dem eigenen Bezirk. Wenn man es verlangt, so räume ich ein, dass in Amerika mehr Sicherheit herrschen und das soziale Vermögen verständiger und gescheiter verwendet würde, wenn die Verwaltung des ganzen Landes in einer Hand zusammengefasst wäre. In Anbetracht der politischen Vorteile, die die Amerikaner aus der Dezentralisierung ziehen, zöge ich diese dem entgegengesetzten System immer noch vor.

Was liegt schließlich daran, dass eine Autorität stets [85]einsatzbereit da ist, um über die Ungestörtheit meiner Vergnügungen zu wachen, die mir alle Gefahren vorweg beiseiteräumt, ohne dass ich daran zu denken brauche – wenn diese Autorität, die mir die winzigsten Dornen vom Wege entfernt, gleichzeitig meine Freiheit und mein Leben absolut beherrscht, wenn sie jede Regung und das Dasein derart ausschließlich bestimmt, dass alles in Untätigkeit verharren muss, wenn sie selbst untätig ist, dass alles schläft, wenn sie schläft, alles zugrunde geht, wenn sie stirbt?

Es gibt europäische Nationen, in denen der Bewohner sich als eine Art Leibeigener vorkommt, dem die Geschicke seines Wohnortes gleichgültig sind. Die größten Wandlungen in seinem Lande erfolgen ohne seine Mitwirkung; er weiß nicht einmal genau, was vor sich gegangen ist; ihm schwant etwas davon; er hat vom Ereignis zufällig gehört. Und mehr noch, das Los seines Dorfes, die Ordnung in seiner Straße, das Geschick seiner Kirche und seiner Pfarre berühren ihn nicht: Er denkt, dass alle diese Dinge ihn in keiner Weise angehen und dass sie einem mächtigen Fremden, Regierung geheißen, gehören. Er lebt von seinem Besitz wie ein Nutznießer, ohne Besitzsinn und ohne an irgendwelche Verbesserung zu denken. Diese Gleichgültigkeit sich selbst gegenüber geht so weit, dass er, wenn schließlich seine eigene Sicherheit oder die seiner Kinder auf dem Spiele steht, die Arme verschränkt, statt die Gefahr zu beseitigen, nur darauf wartet, dass die ganze Nation ihm zu Hilfe eile. Obwohl dieser Mann seinen freien Willen so vollständig aufgegeben hat, liegt ihm das Gehorchen nicht mehr als jedem anderen. Er unterwirft sich freilich dem Gutdünken eines Schreibers. Aber sobald die Macht sich zurückzieht, gefällt er sich darin, dem Gesetz zu [86]trotzen, wie ein besiegter Feind. Man sieht ihn denn auch unaufhörlich zwischen Knechtschaft und Zügellosigkeit hin und her pendeln.

Sind die Völker an diesem Punkt angelangt, so müssen sie entweder ihre Gesetze und ihre Sitten ändern oder untergehen; denn es ist, als versiege der Quell der bürgerlichen Tugenden: man findet noch Untertanen, man sieht aber keine Bürger mehr.

Solche Nationen sind für die Eroberung reif. Wenn sie nicht von der Weltbühne verschwinden, so deshalb, weil sie von Nationen umgeben sind, die ihnen ähnlich oder unterlegen sind; weil in ihnen noch eine Art schwer fassbarer Regungen für das Vaterland übrig blieb, irgendein gefühlsmäßiger Stolz auf den Namen, den es trägt, eine verschwommene Erinnerung an ihren vergangenen Ruhm, die, ohne sich klar mit etwas zu verbinden, genügen, um ihnen nötigenfalls einen Willen zur Erhaltung einzupflanzen.

Zu Unrecht würde man sich dabei beruhigen, dass gewisse Völker sich wunderbar aufrafften, um ein Vaterland zu verteidigen, in dem sie gewissermaßen als Fremde lebten. Man schaue recht genau hin, und man wird sehen, dass fast immer die Religion ihr Hauptantrieb war.

Dauer, Ruhm oder Gedeihen der Nation waren für sie geheiligte Dogmen geworden, und mit der Verteidigung ihres Vaterlandes kämpften sie zugleich für jene Gottesstadt, deren Bürger sie alle waren.

Die türkischen Bevölkerungen haben an den öffentlichen Angelegenheiten nie irgendwelchen Anteil genommen; gleichwohl haben sie gewaltige Dinge vollbracht, solange ihnen die Siege der Sultane als Triumph der Religion [87]Mohammeds erschienen. Heute schwindet die Religion dahin; der Despotismus allein bleibt ihnen, sie gehen unter.

Wenn Montesquieu17 dem Despotismus eine ihm eigene Kraft zusprach, so hat er ihm, wie ich glaube, eine unverdiente Ehre erwiesen. Der Despotismus kann aus sich allein nichts Dauerhaftes schaffen. Man erkennt bei genauem Zusehen, dass es die Religion und nicht die Furcht ist, der die absoluten Regierungen ihre lange Blüte verdanken.

Was immer man tun möge, wirkliche Macht unter den Menschen wird man nur im freien Wettstreit der Kräfte antreffen. Nun vermag aber in der Welt einzig die Vaterlandsliebe oder die Religion die Gesamtheit der Bürger im Streben nach einem gleichen Ziel für längere Zeit zu einigen.

Die Wiederbelebung des erlöschenden Glaubens hängt nicht von den Gesetzen ab; aber die Gesetze entscheiden darüber, ob die Menschen an den Geschicken ihres Landes Anteil nehmen. Von den Gesetzen hängt es ab, dieses verschwommene Heimatgefühl, eine Regung, die immer im menschlichen Herzen wohnt, zu erwecken und zu lenken, und, indem man es mit den Gedanken, Leidenschaften, Gewohnheiten des Alltags verbindet, aus ihm ein klares und dauerhaftes Gefühl zu machen. Und man sage nicht, es sei zu spät, dies zu versuchen; die Völker altern nicht auf die gleiche Art wie die Menschen. Jede neue Generation, die in ihrem Schoß geboren wird, gleicht einem neuen Volk, das sich der Hand des Gesetzgebers anvertraut.

Was ich in Amerika am meisten bewundere, sind nicht [88]die aus der Verwaltung entstehenden Wirkungen der Dezentralisation, es sind vielmehr ihre politischen Wirkungen. In den Vereinigten Staaten spürt man allerorten das Vaterland. Es ist vom Dorf bis zur ganzen Union ein Gegenstand liebevoller Sorge. Dem Einwohner gilt jedes Anliegen des Landes so viel wie sein eigenes. Der Ruhm der Nation ist der seine; in ihren Erfolgen glaubt er sein eigenes Werk zu erkennen, und er ist stolz darauf; und er freut sich über das allgemeine Wohlergehen, das ihm zugutekommt. Er hegt für sein Vaterland ein gleiches Gefühl wie für seine Familie, und auch um den Staat kümmert er sich aus einer Art von Eigenliebe.

Der Europäer sieht im öffentlichen Beamten häufig nur die Macht; der Amerikaner erblickt in ihm das Recht. So kann man sagen, dass in Amerika der Mensch nie dem Menschen, sondern der Gerechtigkeit oder dem Gesetz gehorcht.

Auch hat er von sich selbst eine oft übertriebene, immer aber heilsame Meinung. Furchtlos vertraut er seinen eigenen Kräften, die ihm allem gewachsen zu sein scheinen. Ein Privatmann fasst den Plan irgendeines Unternehmens; selbst wenn dieses Unternehmen in unmittelbarer Beziehung zur Wohlfahrt der Gesellschaft stünde, fiele ihm nie ein, sich an die öffentliche Hand zu wenden, um von dort Hilfe zu erlangen. Er gibt seinen Plan bekannt, bietet sich zur Ausführung an, holt sich andere Privatleute als Helfer und kämpft hartnäckig gegen alle Hindernisse. Oft gelingt es ihm allerdings nicht so gut, wie wenn der Staat es an seiner Stelle täte. Auf die Dauer aber übertrifft das Ergebnis all dieser individuellen Unternehmungen bei weitem das, was der Staat auszurichten vermöchte.

Da die Verwaltungsbehörde im gleichen Rang wie die [89]Verwalteten steht und sie gleichsam selbst vertritt, erregt sie weder Neid noch Hass. Da ihre Mittel des Handelns beschränkt sind, fühlt jeder, dass er nicht auf sie allein bauen kann.

Wenn also die Verwaltungsbehörde innerhalb des Bereiches ihrer Befugnis eingreift, bleibt sie nicht, wie in Europa, auf sich allein angewiesen. Man glaubt die Bürger ihrer Pflichten nicht enthoben deswegen, weil der Vertreter der Öffentlichkeit handelt. Im Gegenteil, man leitet, unterstützt und verteidigt ihn.

Dadurch, dass die Kräfte der Einzelnen sich dem Handeln der Gemeinschaft verbinden, bringt man oft etwas zustande, das die gesammeltste und tatkräftigste Verwaltung durchzuführen außerstande wäre.

Ich könnte für das hier Gesagte viele Tatsachen anführen; aber ich ziehe es vor, nur eine einzige herauszugreifen und die zu wählen, die ich am besten kenne.

In Amerika verfügen die Behörden nur über eine kleine Anzahl von Mitteln, um Verbrechen aufzudecken und Verbrecher zu verfolgen.

Eine Verwaltungspolizei besteht nicht; Pässe sind unbekannt. Die Gerichtspolizei in Amerika lässt sich mit der unsrigen nicht vergleichen; Vertreter des Staatsanwaltes gibt es nur wenige, sie können die Verfolgung nicht immer einleiten; die Untersuchung erfolgt rasch und in mündlichem Verfahren. Und doch glaube ich, dass in keinem Lande das Verbrechen so selten der Strafe entgeht.

Das kommt daher, dass jedermann interessiert ist, beim Beschaffen der Beweise und beim Ergreifen des Verbrechers mitzuwirken.

Während meines Aufenthaltes in den Vereinigten [90]Staaten sah ich die Bewohner einer Grafschaft, in der ein schweres Verbrechen begangen worden war, aus eigenem Antrieb Ausschüsse bilden, um den Schuldigen zu verfolgen und ihn vor Gericht zu stellen.

In Europa ist der Verbrecher ein Unglücklicher, der kämpft, um seinen Kopf vor den Vertretern der Staatsgewalt zu retten; die Bevölkerung schaut gewissermaßen dem Ringen zu. In Amerika ist er ein Feind des Menschengeschlechtes, und er hat die ganze Menschheit gegen sich.

Die Provinzialeinrichtungen halte ich bei allen Völkern für nützlich, aber bei keinem besteht ein echteres Bedürfnis nach solchen Einrichtungen als bei jenen, die eine demokratische Ordnung haben.

In einer Aristokratie ist man immer sicher, dass eine gewisse Ordnung in der Freiheit gewahrt wird.

Da die Regierungen viel zu verlieren haben, ist die Ordnung für sie von großer Bedeutung.

Auch lässt sich sagen, dass in einer Aristokratie das Volk vor den Auswüchsen des Despotismus geschützt ist, denn immer finden sich organisierte Kräfte, die zum Widerstand gegen den Despoten bereit sind.

Eine Demokratie ohne Provinzialbehörden besitzt keinerlei Schutz gegen solche Übel.

Wie soll man die Menge, die nicht gelernt hat, sich der Freiheit im Kleinen zu bedienen, dazu bringen, sie im Großen zu ertragen?

Wie soll man der Tyrannei in einem Lande widerstehen, wo jeder schwach ist und wo die Menschen durch kein gemeinsames Interesse geeint sind?

Die, welche vor maßloser Freiheit Angst haben, und die, welche die absolute Gewalt fürchten, müssen daher in [91]gleicher Weise die stufenweise Entwicklung der provinziellen Freiheiten anstreben.

Im Übrigen bin ich überzeugt, dass keine Nationen mehr in Gefahr sind, unter das Joch zentralisierter Verwaltung zu geraten als diejenigen, deren Sozialordnung demokratisch ist.

Dazu tragen mehrere Ursachen bei, darunter die folgenden:

Diese Völker sind immerzu geneigt, die gesamte Regierungsgewalt in den Händen der unmittelbaren Volksvertretung zu vereinigen, denn jenseits des Volkes erkennt man bloß noch gleiche, in einer allgemeinen Masse verschwindende Menschen.

Ist nun aber der gleiche Träger der Macht bereits mit allen Regierungsmerkmalen ausgestattet, so fällt es ihm sehr schwer, sich nicht in die Einzelheiten der Verwaltung einzumischen, und an Gelegenheit, dies zu tun, fehlt es auf die Dauer nicht. Wir haben dies schon bei uns beobachten können.

In der Französischen Revolution gab es zwei entgegengesetzte Bewegungen, die man nicht miteinander verwechseln darf: die eine war der Freiheit, die andere dem Despotismus günstig.

In der alten Monarchie erließ der König allein das Gesetz. Unter dieser souveränen Gewalt bestanden noch einige halbzerstörte Verwaltungseinrichtungen der alten Provinzen. Diese Einrichtungen waren untereinander ohne Zusammenhang, schlecht geordnet, oft sinnlos. In den Händen der Aristokratie waren sie manchmal Werkzeuge der Unterdrückung gewesen.

Die Revolution richtete sich sowohl gegen das [92]Königtum wie gegen die Provinzialeinrichtungen. Aus einem gleichen Hass heraus verwechselte sie alles Vorangegangene, die absolute Gewalt ebenso wie das, was deren Härten mildern konnte; sie war republikanisch und zentralistisch in einem.

Dieses Doppelwesen der Französischen Revolution ist eine Tatsache, deren sich die Freunde der absoluten Gewalt sehr überlegt bemächtigten. Wenn ihr seht, wie sie für die zentralisierte Verwaltung eintreten, glaubt ihr, sie arbeiten für den Despotismus? Durchaus nicht, sie verteidigen eine der großen Errungenschaften der Revolution. So kann man für das Volk sein und Feind der Volksrechte bleiben; heimlich ein Diener der Tyrannei und nach außen ein Freund der Freiheit.

Ich habe die beiden Nationen besucht, bei denen die Ordnung der Provinzialfreiheiten zu höchster Stufe gediehen war, und ich habe die Stimmen der Parteien gehört, in welche diese Nationen sich spalteten.

In Amerika begegnete ich Männern, die insgeheim die Zerstörung der demokratischen Einrichtungen ihres Landes betrieben. In England fand ich andere, die die Aristokratie heftig angriffen. Keinen einzigen traf ich an, der die Provinzialfreiheit nicht für ein großes Gut gehalten hätte.

In beiden Ländern schrieb man die Übel des Staates einer Unzahl verschiedener Ursachen zu, nie aber der Gemeindefreiheit.

Ich hörte, wie die Bürger die Größe oder die Wohlfahrt ihres Vaterlandes auf eine Menge von Gründen zurückführten; alle jedoch hörte ich die Provinzialfreiheit in die vorderste Reihe rücken und sie an die Spitze aller anderen Vorteile stellen.

[93]Wenn Menschen, die in ihren Ansichten so stark auseinandergehen, dass sie weder in ihren religiösen noch in ihren politischen Theorien übereinstimmen, in einer einzigen Sache gleicher Meinung sind, in jener, die sie als deren tägliche Zeugen am besten beurteilen können – soll ich da glauben, dass diese Tatsache falsch sei?

Nur solche Völker, die wenige oder keine Provinzialeinrichtungen haben, leugnen deren Nützlichkeit; nur die also, welche die Sache nicht kennen, reden von ihr schlecht.

Über die Demokratie in Amerika

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