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Vom Leben der Gemeinde
ОглавлениеDas Prinzip der Volkssouveränität beherrscht, wie ich früher sagte, das politische System der Angloamerikaner. Auf jeder Seite dieses Buches wird man einige neue Anwendungen dieses Grundsatzes kennenlernen.
In den Nationen, in denen die Lehre der Volkssouveränität herrscht, ist jeder Einzelne ein gleiches Glied der Herrschaft, und er nimmt in gleicher Weise an der Staatsregierung teil.
[67]Demnach erscheint jeder dem anderen an Bildung, Tugend, Kraft gleichgestellt.
Warum ordnet er sich dann der Gesellschaft unter, und welches sind die natürlichen Grenzen dieses Gehorsams?
Er gehorcht der Gesellschaft nicht, weil er geringer ist als ihre Leiter oder weniger als ein anderer fähig, sich selbst zu regieren; er gehorcht der Gesellschaft, weil ihm der Zusammenschluss mit seinen Mitmenschen nützlich erscheint und weil er weiß, dass eine solche Vereinigung ohne regelnde Gewalt nicht bestehen kann.
In allem, was die gegenseitigen Pflichten der Bürger angeht, ist er demnach Untertan. In allem, was nur ihn angeht, ist er Herr; er ist frei und schuldet Gott allein Rechenschaft für sein Tun. Daher der Grundsatz, dass der Einzelne der beste und alleinige Richter in seinen persönlichen Angelegenheiten ist und dass die Gesellschaft sich in seine Handlungen nur einmischen darf, wenn sie sich durch sein Tun verletzt fühlt oder wenn sie seine Mitarbeit benötigt.
Diese Lehre besitzt in den Vereinigten Staaten allgemeine Geltung. An anderer Stelle werde ich darlegen, welchen Einfluss sie auf den Gang der täglichen Geschäfte hat; jetzt spreche ich nur von den Gemeinden.
Als Ganzes und im Verhältnis zur Zentralregierung ist die Gemeinde lediglich ein Einzelwesen wie ein anderes, auf das die dargelegte Lehre Anwendung findet. Somit ist die Gemeindefreiheit in den Vereinigten Staaten vom Dogma der Volkssouveränität selbst abgeleitet; alle amerikanischen Republiken haben diese Unabhängigkeit mehr oder weniger anerkannt; aber die Umstände haben bei den Völkern Neuenglands ihre Entwicklung besonders begünstigt.
[68]In diesem Bundesgebiet ist das politische Leben aus den Gemeinden selbst hervorgegangen; man könnte fast sagen, dass jede von ihnen als unabhängige Nation entstanden ist. Als die englischen Könige nachher ihren Anteil an der Souveränität beanspruchten, begnügten sie sich damit, die Zentralgewalt an sich zu ziehen. Sie beließen die Gemeinde in dem Zustand, in dem sie sie fanden; jetzt sind die Gemeinden Neuenglands untertan; aber ursprünglich waren sie es nicht oder kaum. Ihre Macht wurde ihnen also nicht übertragen; vielmehr sind sie es, die einen Teil ihrer Unabhängigkeit dem Staat abgetreten haben; das ist eine wichtige Unterscheidung, die sich der Leser gegenwärtig halten muss.
Die Gemeinden sind dem Staat in der Regel nur dann unterstellt, wenn es sich um ein Interesse handelt, das ich als sozial bezeichne, d. h., das sie mit anderen teilen.
In allem, was nur die Gemeinden betrifft, bleiben diese unabhängige Körper; und es gibt, wie ich glaube, unter den Einwohnern Neuenglands keinen, der dem Staat das Recht zugestände, sich in reine Gemeindeangelegenheiten einzumischen.
Wir sehen, wie die Gemeinden Neuenglands verkaufen und kaufen, vor Gericht angreifen oder sich verteidigen, ihren Gemeindevoranschlag herauf- oder herabsetzen, ohne dass irgendeine Verwaltungsbehörde daran dächte, Einspruch zu erheben.
Die Gemeinden haben die sozialen Verpflichtungen zu erfüllen. Benötigt der Staat Geld, so steht es der Gemeinde nicht frei, ihren Beitrag zu bewilligen oder ihn zu verweigern. Will der Staat eine Straße anlegen, darf die Gemeinde ihm ihr Gebiet nicht sperren. Erlässt er eine Polizeiverordnung, muss die Gemeinde sie vollziehen. Will er den [69]Unterricht im ganzen Staatsgebiet nach einem einheitlichen Plan organisieren, hat die Gemeinde die vom Gesetz vorgeschriebenen Schulen zu errichten. Wenn von der Verwaltung in den Vereinigten Staaten die Rede sein wird, werden wir sehen, wie und durch wen die Gemeinden in all diesen verschiedenen Fällen zum Gehorsam gezwungen werden können. Ich halte hier lediglich die Tatsache des Zwanges fest. Diese Verpflichtung ist eng begrenzt; indem die Staatsregierung sie auferlegt, schreibt sie lediglich ein Prinzip vor; dessen Ausführung ist völlig der Gemeinde als Rechtsperson übertragen.
So wird die Steuer zwar durch die gesetzgebende Versammlung festgesetzt, aber die Gemeinde verfügt und erhebt sie. Das Errichten einer Schule wird befohlen, aber die Gemeinde baut, bezahlt und leitet sie.
In Frankreich erhebt der staatliche Steuereinnehmer die Gemeindesteuern; in Amerika zieht der Steuereinnehmer der Gemeinde die Staatssteuer ein.
Bei uns stellt die Zentralregierung ihre Beamten der Gemeinde zur Verfügung; in Amerika leiht die Gemeinde ihre Beamten an die Staatsregierung aus. Schon das lässt ermessen, in welchem Grade sich die beiden Gesellschaften voneinander unterscheiden.