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[17]Aus dem ersten Band Einleitung

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Von all dem Neuen, das während meines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten meine Aufmerksamkeit auf sich zog, hat mich nichts so lebhaft beeindruckt wie die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen. Alsbald wurde mir der erstaunliche Einfluss klar, den diese bedeutende Tatsache auf das Leben der Gesellschaft ausübt; sie gibt dem öffentlichen Geist eine bestimmte Richtung und den Gesetzen ein bestimmtes Wesen; sie gibt den Regierenden neue Grundsätze und den Regierten besondere Gewohnheiten.

Bald erkannte ich, dass diese Tatsache weit über das politische Leben und die Gesetze hinaus von Einfluss ist und dass sie die bürgerliche Gesellschaft nicht weniger beherrscht als die Regierung: sie erzeugt Meinungen, lässt Gefühle entstehen, weckt Gewohnheiten und verwandelt alles, was sie nicht hervorbringt.

So sah ich, je mehr ich mich mit der amerikanischen Gesellschaft beschäftigte, in der Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen immer deutlicher das schöpferische Prinzip, das allen Einzeltatsachen zugrunde zu liegen schien, und ich stieß immer wieder auf diese Gleichheit als auf einen zentralen Punkt, in den alle meine Beobachtungen einmündeten.

[18]Darauf kehrte ich mit meinen Gedanken zu unserem Erdteil zurück, und ich hatte den Eindruck, hier etwas Ähnliches wahrzunehmen. Ich sah, wie die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen, ohne – wie in Amerika – ihre äußersten Grenzen erreicht zu haben, ihnen täglich immer näher rückte; und mir schien die gleiche Demokratie, die über die amerikanische Gesellschaft herrscht, in Europa sich rasch der Herrschaft zu nähern.

Da entschloss ich mich, das vorliegende Buch zu schreiben.

Eine große demokratische Revolution ist bei uns im Gange; alle nehmen sie wahr, aber nicht alle beurteilen sie auf die gleiche Weise. Die einen betrachten sie als etwas Neues, Zufälliges und hoffen, sie noch aufhalten zu können; andere halten sie dagegen für unwiderstehlich, weil sie ihnen als die stetigste, die älteste und die anhaltendste Entwicklung erscheint, die in der Geschichte bekannt ist.

Ich vergegenwärtige mir zunächst kurz, was Frankreich vor siebenhundert Jahren war: ich sehe es unter einige wenige Familien aufgeteilt, die den Grund und Boden besitzen und die Einwohner regieren; die Befehlsgewalt vererbt sich dann von einer Generation auf die andere; die Menschen kennen nur ein Mittel, aufeinander zu wirken, die Gewalt; und man entdeckt nur einen Ursprung der Macht, das Grundeigentum.

An dieser Stelle beginnt sich die politische Macht des Klerus zu entfalten und bald auszubreiten. Der Klerus öffnet seine Reihen jedermann, dem Armen wie dem Reichen, dem Bürger wie dem Adligen; die Gleichheit beginnt über die Kirche in die Regierung einzudringen, und wer bisher als Leibeigener in ewiger Knechtschaft elend [19]dahinlebte, nimmt nun als Priester mitten unter dem Adel Platz und wird sich später oft über Könige erheben.

Als die Gesellschaft mit der Zeit zivilisierter und gefestigter wird, werden auch die verschiedenen Beziehungen zwischen den Menschen verwickelter und mannigfaltiger. Es meldet sich das Bedürfnis nach bürgerlichen Gesetzen. Die Rechtsgelehrten treten auf den Plan; sie kommen aus den dunklen Gerichtssälen und aus der Zurückgezogenheit verstaubter Kanzleien ans Tageslicht und lassen sich im Gerichtshof des Fürsten an der Seite der hermelin- und waffengeschmückten Barone nieder.

Die Könige richten sich in gewaltigen Unternehmungen zugrunde; die Adligen erschöpfen sich in Privatfehden; die Bürger kommen durch den Handel zu Reichtum. Der Einfluss des Geldes auf die Staatsgeschäfte macht sich bemerkbar. Der Handel ist eine neue Quelle der Macht, und die Finanziers werden eine politische Größe, die man verachtet und umwirbt.

Langsam breitet die Bildung sich aus; man sieht, wie der Sinn für Literatur und Künste erwacht; nun wird der Geist ein Element des Erfolges; die Wissenschaft wird ein Hilfsmittel der Regierung, die Intelligenz eine soziale Macht; die Gelehrten dringen in die Leitung der Staatsgeschäfte ein.

Je mehr neue Wege zur Macht sich eröffnen, desto niedriger sinkt die vornehme Geburt im Wert. Im 11. Jahrhundert war der Vorzug des Adels unschätzbar, im 13. Jahrhundert käuflich; 1270 findet die erste Erhebung in den Adelsstand statt, und schließlich dringt die Gleichheit über die Aristokratie selbst in die Regierung ein.

Während der verflossenen siebenhundert Jahre ist es zuweilen vorgekommen, dass die Adligen dem Volk [20]politische Macht gegeben haben, um so gegen die königliche Autorität zu kämpfen oder ihren Rivalen die Macht zu entreißen.

Häufiger noch sah man, dass die Könige die unteren Klassen an der Regierung teilnehmen ließen, um die Macht der Aristokratie zu schwächen.

In Frankreich zeigten sich die Könige als die geschäftigsten und beharrlichsten Gleichmacher. Waren sie voller Ehrgeiz und mächtig, so versuchten sie das Volk auf das Niveau der Adligen zu erheben; waren sie maßvoll und schwach, so ließen sie zu, dass das Volk sich über sie selbst stellte. Die einen haben die Demokratie durch ihre Fähigkeiten gefördert, die anderen durch ihre Fehler. Ludwig XI. und Ludwig XIV. wollten unterhalb des Throns alles gleichmachen, Ludwig XV. ist schließlich selbst mit seinem Hofstaat in den Staub gestiegen.

Seit die Bürger anfingen, den Grund und Boden nicht mehr als Lehen zu besitzen, und seit der mittlerweile aufgekommene Reichtum an beweglichen Gütern Einfluss und Macht verlieh, gibt es keine Entwicklungen auf dem Gebiet der Künste, keine Vervollkommnungen in Handel und Gewerbe, die nicht neue Bausteine zur Gleichheit unter den Menschen geliefert hätten. Von diesem Augenblick an sind alle Entwicklungen, alle neuen Bedürfnisse, alle Wünsche, die sich befriedigen wollen, nur Schritte auf dem Wege zur allgemeinen Nivellierung. Die Neigung zum Luxus, die Liebe zum Krieg, die Herrschaft der Mode, die künstlichsten wie die tiefsten Leidenschaften des menschlichen Herzens scheinen miteinander darauf hinzuarbeiten, die Reichen arm und die Armen reich zu machen.

[21]Seit die geistige Arbeit zu einer Quelle des Reichtums und der Macht wurde, muss man jede Entwicklung der Wissenschaft, jede neue Erkenntnis, jede neue Vorstellung als einen Keim der dem Volk zubereiteten Macht betrachten. Dichtkunst, Beredsamkeit, Witz, Einbildungskraft, Gedankentiefe, alle die Gaben, die der Himmel nach Belieben austeilt, förderten die Demokratie, und selbst wenn sie sich im Besitze der Gegner der Demokratie befanden, dienten sie doch ihrer Sache, indem sie Zeugnis gaben von der natürlichen Größe des Menschen; alle Errungenschaften der Demokratie breiteten sich mit denen der Zivilisation und der Bildung aus, und die Literatur wurde zu einem jedermann offenen Arsenal, aus dem sich die Schwachen und die Armen täglich bewaffneten.

Durchläuft man die Seiten unserer Geschichte, so findet man in den letzten siebenhundert Jahren keine bedeutenden Ereignisse, die nicht die Entwicklung der Gleichheit gefördert hätten.

Die Kreuzzüge und die Kriege mit England raffen viele Adlige dahin und zersplittern ihre Ländereien; die Einrichtung der Gemeinden führt die demokratische Freiheit im Innern der Feudalmonarchie ein; die Erfindung der Feuerwaffen stellt den Bürger dem Ritter auf dem Schlachtfeld gleich; die Buchdruckerkunst öffnet ihrem Verstand gleiche Hilfsmittel; die Post trägt die Bildung in Hütte wie Palast; der Protestantismus versichert, alle Menschen seien gleicherweise imstande, den Weg zum Himmelreich zu finden. Die Entdeckung Amerikas bietet tausend neue Wege zu einem Vermögen und verschafft dem Abenteurer niederer Herkunft Reichtum und Macht.

Wenn man sich – angefangen beim 11. Jahrhundert – [22]ansieht, was in Frankreich nach jeweils fünfzig Jahren geschehen ist, kann man nicht umhin, zu bemerken, dass sich in der Ordnung der Gesellschaft eine doppelte Revolution vollzieht.

Der Adlige sinkt auf der sozialen Stufenleiter, der Bürger steigt auf. Alle fünfzig Jahre sind sie einander nähergekommen, und bald werden sie sich berühren.

Diese Entwicklung ist keine Besonderheit Frankreichs. Wohin wir unsere Blicke auch wenden, in der gesamten christlichen Welt sehen wir die gleiche Revolution sich unaufhaltsam vollziehen.

Allenthalben sah man die verschiedenen Ereignisse im Leben der Völker zum Nutzen der Demokratie ausschlagen; alle Menschen haben sie mit ihren Anstrengungen gefördert: solche, die sie zu fördern beabsichtigten, und solche, die daran gar nicht dachten; solche, die für sie stritten, und selbst ihre erklärten Gegner; alle wurden durcheinander in die gleiche Bahn gestoßen und alle haben gemeinsam gewirkt, die einen wider Willen, die anderen unbewusst, sie alle blinde Werkzeuge in den Händen Gottes.

Die stufenweise Entwicklung der Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen ist also ein von der Vorsehung gewolltes Ereignis, denn sie hat dessen wesentliche Merkmale: sie ist allgemein, sie ist beständig, und sie entzieht sich immer neu der menschlichen Einwirkung; alle Begebenheiten und alle Menschen dienen der Entwicklung der Gleichheit.

Kann man wirklich annehmen, eine so weit ausholende gesellschaftliche Bewegung sei durch die Anstrengungen einer Generation aufzuhalten? Meint man, die Demokratie werde, nachdem sie das Feudalsystem zerstört und die [23]Könige überwunden hat, bei den Bürgern und den Reichen zögern? Wird sie jetzt einhalten, da sie so stark geworden ist, ihre Gegner so schwach?

Wohin gehen wir also? Niemand vermag es zu sagen; denn uns fehlen schon die Vergleichspunkte: Die gesellschaftlichen Bedingungen sind heute in der christlichen Welt einander mehr angeglichen, als sie es jemals zu irgendeiner Zeit in irgendeinem Land der Erde waren; so versperrt uns die Größe dessen, was geschieht, den Blick auf das, was noch geschehen kann.

Das vorliegende Buch ist völlig unter dem Eindruck einer Art religiösen Schauders geschrieben, den der Anblick dieser unwiderstehlichen Revolution im Herzen des Verfassers hervorgerufen hat, dieser Revolution, die seit Jahrhunderten über alle Hindernisse hinweg ihren Weg fortsetzt und die wir heute inmitten der Trümmer, die sie geschaffen hat, immer noch weiter vordringen sehen.

Gott muss nicht unbedingt selbst sprechen, damit wir untrügbare Zeichen seines Willens wahrnehmen; wir brauchen nur den gewöhnlichen Gang der Natur und die beständige Tendenz der Ereignisse zu beobachten; ich weiß, ohne dass der Schöpfer seine Stimme erhebt, dass die Gestirne im Raum den Bahnen folgen, die sein Finger gezogen hat.

Wenn lange Beobachtungen und ernstliches Nachdenken die Menschen unserer Tage zu der Erkenntnis bringen würden, dass die stufenweise und fortschreitende Entwicklung der Gleichheit zugleich die Vergangenheit und die Zukunft ihrer Geschichte ist, dann würde diese einzige Entdeckung der Entwicklung den heiligen Charakter des Willens unseres höchsten Gebieters verleihen. Die [24]Demokratie aufhalten zu wollen, erschiene dann als ein Kampf gegen Gott selbst, und die Nationen könnten sich nur mit der Gesellschaftsordnung abfinden, die ihnen die Vorsehung zuweist.

Die christlichen Völker scheinen mir heute ein erschreckendes Schauspiel zu bieten; die Bewegung, die sie davonträgt, ist schon zu stark, als dass man sie aufhalten könnte, und sie ist noch nicht reißend genug, dass man daran verzweifelte, sie zu lenken: Die christlichen Völker halten ihr Schicksal in ihren Händen; aber bald wird es ihnen entgleiten.

Die Demokratie belehren, ihre religiösen Überzeugungen nach Möglichkeit beleben, ihre Sitten reinigen, ihre Bewegungen in eine Ordnung bringen, nach und nach ihre Unerfahrenheit durch die Einsicht in die Staatsgeschäfte, ihre blinden Neigungen durch die Kenntnis ihrer wahren Interessen ersetzen, ihre Regierung Zeit und Ort anpassen: das ist es, was den Menschen, die heute an der Spitze des Staates stehen, als oberste Pflicht auferlegt ist.

Eine durchaus neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft.

Aber daran denken wir kaum: Mitten in einem reißenden Strom stehend, heften wir die Augen hartnäckig auf einige Trümmer, die man noch am Ufer wahrnimmt, während uns die Strömung mit sich führt und uns rücklings dem Abgrund zutreibt.

In keinem der europäischen Völker hat die große soziale Revolution, die ich eben beschrieben habe, schnellere Fortschritte gemacht als bei uns; sie ist hier aber immer dem Zufall gefolgt.

Niemals haben die Staatsoberhäupter daran gedacht, ihr [25]den Weg zu bereiten; sie hat sich gegen ihren Willen oder ohne ihr Wissen vollzogen. Die mächtigsten, klügsten und moralisch höchststehenden Klassen der Nation haben gar nicht versucht, sie in ihre Gewalt zu bekommen, um sie zu lenken. So blieb die Demokratie ihren ungezügelten Neigungen überlassen; sie wuchs heran wie die Kinder ohne väterliche Aufsicht, die sich in den Straßen unserer Städte selbst erziehen und nur die Fehler und die Probleme der Gesellschaft kennen. Noch schien man ihre Existenz nicht zu bemerken, als die Demokratie sich unversehens der Herrschaft bemächtigte. Da nun unterwarf sich jeder sklavisch ihren kleinsten Wünschen; man betete sie an als das Sinnbild der Macht; als in der Folge ihre eigenen Ausschweifungen die Demokratie geschwächt hatten, fassten die Gesetzgeber, anstatt zu versuchen, sie zu belehren und zu läutern, den törichten Entschluss, sie zu beseitigen, und dachten, statt ihr beizubringen, wie man regiert, allein daran, sie von der Regierung auszuschließen.

Der Erfolg war, dass sich die demokratische Revolution im äußeren Gefüge des Staates vollzog, ohne in den Gesetzen, Vorstellungen, Gewohnheiten und Sitten den Wandel zu bewirken, der nötig gewesen wäre, um die Revolution fruchtbar zu machen. So haben wir die Demokratie, aber ohne das, was ihre Fehler mildern und ihren natürlichen Vorzügen zum Durchbruch verhelfen könnte; schon sehen wir das Schlechte, das sie mit sich führt, aber noch bemerken wir das Gute nicht, das sie hervorbringen kann.

Als die königliche Gewalt, gestützt auf die Aristokratie, die Völker Europas friedlich regierte, genoss die Gesellschaft in all ihrem Elend manches Glück, von dem wir uns [26]heute nur schwer eine Vorstellung machen und das wir nur noch schwer würdigen können.

Die Macht einiger Untertanen errichtete unübersteigbare Schranken gegen die Tyrannei des Fürsten; und die Könige schöpften, im Bewusstsein der nahezu göttlichen Würde, die sie in den Augen des Volkes besaßen, eben aus der Achtung, die sie auslösten, den Willen, ihre Macht nicht zu missbrauchen.

Durch einen ungeheuren Abstand vom Volke getrennt, nahm der Adel an dessen Schicksal jenes wohlwollende und gelassene Interesse, das der Hirte seiner Herde entgegenbringt; und betrachtete er auch den Armen nicht als seinesgleichen, so wachte er doch über dessen Schicksal wie über einen ihm von der Vorsehung anvertrauten Schatz.

Da das Volk noch keine Vorstellung von einer anderen als der bestehenden Gesellschaftsordnung hatte und da es gar nicht auf den Gedanken kam, es könne sich jemals seinen Herren angleichen, nahm es ihre Wohltaten entgegen und beschäftigte sich nicht mit ihrer Berechtigung. Waren sie milde und gerecht, so liebte das Volk seine Herren, aber auch ihrer Härte unterwarf es sich widerspruchslos und ohne Selbsterniedrigung als einem unvermeidlichen Übel aus Gottes Hand. Gewohnheit und Sitten hatten im Übrigen der Tyrannei Grenzen gesetzt und selbst inmitten der Gewalt ein gewisses Recht begründet.

Da der Adlige gar nicht auf den Gedanken kam, man wolle ihm Vorrechte nehmen, die er für legitim hielt, da auf der anderen Seite der Knecht seinen niederen Stand als einen Ausfluss der unwandelbaren Ordnung der Natur betrachtete, versteht man, dass sich zwischen diesen beiden vom Schicksal so ungleich bedachten Klassen ein gewisses [27]gegenseitiges Wohlwollen herausbilden konnte. Man sah damals in der Gesellschaft Ungleichheit und Elend, aber die Seelen waren nicht erniedrigt.

Nicht der Gebrauch der Macht oder die Gewohnheit zu gehorchen erniedrigt den Menschen, sondern nur der Gebrauch einer Macht, die er für illegitim, und der Gehorsam gegenüber einer Macht, die er für angemaßt und tyrannisch hält.

Auf der einen Seite gab es damals Vermögen, Macht, Muße und mit ihnen das Bedürfnis nach Luxus, die Verfeinerung des Geschmacks, die Freuden des Geistes und die Pflege der Künste; auf der anderen Seite Arbeit, Grobheit und Unwissenheit.

Aber in dieser unwissenden und ungehobelten Menge traf man auf kraftvolle Leidenschaften, hohe Gefühle, tiefen Glauben und ursprüngliche Tugenden.

Ein so beschaffener Gesellschaftskörper konnte Dauer entfalten, Macht und vor allem Ruhm.

Da aber vermischen sich die Stände; die zwischen den Menschen errichteten Schranken fallen; man zerschneidet den Grundbesitz, die Macht teilt sich auf, die Bildung breitet sich aus, und das geistige Vermögen der Menschen gleicht sich einem allgemeinen Niveau an; die Gesellschaftsordnung wird demokratisch, und die Herrschaft der Demokratie setzt sich schließlich in den Institutionen und Sitten friedlich durch.

Am Ende dieser Entwicklung denke ich mir eine Gesellschaft, in der alle das Gesetz als ihr Werk betrachten, es lieben und sich ihm widerspruchslos fügen, in der die Autorität der jeweiligen Regierung zwar für notwendig, aber nicht für göttlich gehalten wird, und in der die Liebe zum [28]Staatsoberhaupt nicht eine Leidenschaft, sondern ein besonnenes und ruhiges Gefühl ist. Da jedermann Rechte hat und sicher ist, seine Rechte auch durchzusetzen, würde sich dann zwischen allen Klassen ein gesundes Vertrauen und eine gewisse gegenseitige Nachgiebigkeit einstellen, die vom Hochmut so weit entfernt ist wie von der Erniedrigung.

Das mit seinen wahren Interessen vertraute Volk würde dann begreifen, dass man, um die Vorteile des Staates zu genießen, die staatsbürgerlichen Lasten auf sich nehmen muss. Der freie Zusammenschluss der Bürger könnte dann an die Stelle der persönlichen Macht des Adels treten, und der Staat wäre vor Tyrannei und Willkür sicher.

Ich bin mir darüber klar, dass die Gesellschaft in einem solchen Staat durchaus nicht unbeweglich sein wird; aber die Bewegungen des Gesellschaftskörpers können hier geordnet und fortschrittlich sein; trifft man hier weniger Glanz an als in einer Aristokratie, so wird man hier doch auch weniger Elend finden; hier wird es weniger höchsten Genuss geben, dafür allgemeineren Wohlstand; Gelehrsamkeit wird weniger groß, Unwissenheit seltener sein; die Gefühle werden weniger kraftvoll und die Gewohnheiten gemäßigter sein; man wird mehr Fehler, aber weniger Verbrechen beobachten.

Begeisterung und Glaubenseifer werden fehlen; für Bildung und Erfahrung aber werden die Bürger zuweilen große Opfer bringen; da einer so schwach ist wie der andere, wird jeder in gleichem Maße auf die Hilfe seiner Mitbürger angewiesen sein; und da er weiß, dass er sich auf diese nur verlassen kann, wenn er auch ihnen seine Unterstützung gewährt, wird er mühelos zu der Einsicht gelangen, dass [29]sein eigenes Interesse für ihn mit dem Interesse der Allgemeinheit zusammenfällt.

Die Nation wird, im Ganzen genommen, weniger glanzvoll, weniger ruhmreich, vielleicht sogar weniger stark dastehen; aber die Mehrheit der Bürger wird sich hier größeren Wohlstandes erfreuen, und das Volk wird sich friedliebend zeigen, nicht weil es glaubt, es könne ihm nicht noch besser gehen, sondern weil es einsieht, dass es ihm gutgeht.

Ist auch in einer solchen Ordnung der Dinge vielleicht noch nicht alles gut und ersprießlich, so würde sich doch die Gesellschaft wenigstens alles zu eigen gemacht haben, was die Ordnung an Ersprießlichem und Gutem zu bieten hat, und die Menschen würden, indem sie für immer auf die Vorteile verzichteten, die eine Aristokratie zu gewähren vermag, von der Demokratie alles Gute ergriffen haben, das diese ihnen darreichen kann.

Was aber haben wir, als wir die Gesellschaftsordnung unserer Vorfahren aufgaben und ihre Institutionen, Vorstellungen und Sitten unterschiedslos verwarfen, was haben wir stattdessen gewonnen?

Das Ansehen der königlichen Gewalt ist dahin, ohne dass die Majestät der Gesetze an seine Stelle getreten wäre; heutzutage verachtet das Volk die Autorität, aber es fürchtet sie, und die Furcht erreicht vom Volke mehr, als vorzeiten Achtung und Liebe erlangten.

Ich sehe, wie wir die individuellen Machtträger vernichtet haben, die selbständig gegen die Tyrannei anzukämpfen imstande waren; stattdessen sehe ich, wie die Regierung allein in alle die Vorrechte eintritt, die Familien, Körperschaften oder Einzelnen entrissen wurden: auf die [30]manchmal drückende, oft aber erhaltende Macht weniger Bürger ist so die Schwäche aller gefolgt.

Die Aufteilung der Vermögen hat den Abstand verringert, der den Armen vom Reichen trennte; aber nun, da sie sich näherrücken, haben sie offenbar neue Gründe gefunden, sich zu hassen, und indem sie einander mit furchtsamen und neidvollen Blicken messen, verdrängen sie sich gegenseitig von der Macht; keiner von beiden hat auch nur die Vorstellung von Rechten, und dem einen wie dem anderen erscheint die Gewalt als die einzige Erklärung der Gegenwart und die einzige Sicherung der Zukunft.

Der Arme hat die meisten Vorurteile seiner Vorfahren beibehalten, aber ohne ihren Glauben, ihre Unwissenheit ohne ihre Tugend; er hat die Lehre vom Privatinteresse zur Richtlinie seines Handelns gemacht, ohne ihre wissenschaftliche Grundlage zu kennen, und sein Egoismus ist ebenso bar aller Bildung, wie es einst seine Ergebenheit war.

Die Gesellschaft ist ruhig, aber nicht etwa, weil sie sich ihrer Kraft und ihres Wohlstandes bewusst ist, sondern weil sie sich im Gegenteil für kraftlos und hinfällig hält; sie hat Angst, bei der leisesten Anstrengung zugrunde zu gehen: Jeder fühlt das Übel, aber keiner findet den Mut und die Tatkraft, die nötig sind, um die Lage zu bessern; man hat Wünsche, Klagen, Sorgen und Freuden, die nichts Sichtbares hervorbringen, nichts Dauerhaftes, wie die Leidenschaften der Greise, die nur in der Ohnmacht enden.

So haben wir aufgegeben, was die alte Gesellschaftsordnung Gutes zu bieten hatte, ohne dafür den Nutzen einzutauschen, den uns die gegenwärtige schenken könnte; wir haben eine aristokratische Gesellschaft zerstört und wollen [31]uns, wohlgefällig inmitten der Trümmer des alten Gebäudes verweilend, hier offenbar für immer niederlassen.

Was sich in der geistigen Welt abspielt, ist nicht minder bejammernswert.

In ihrer freien Entfaltung behindert oder aber ihren ungezügelten Leidenschaften haltlos ausgeliefert, hat die Demokratie in Frankreich alles umgestürzt, was ihr im Wege stand, hat erschüttert, was sie nicht vollständig vernichtete. Sie hat sich der Gesellschaft nicht Schritt für Schritt bemächtigt, um hier friedlich ihre Herrschaft zu begründen; sie ist inmitten der Unordnung und der Erregung des Kampfes unaufhörlich weitergeschritten. Jeder verliert, durch die Hitze des Kampfes angestachelt und durch die Ansichten und die Ausschreitungen seiner Gegner weit über die natürlichen Grenzen seiner eigenen Ansichten hinausgetrieben, jeder verliert so den Gegenstand seiner Bemühungen aus dem Auge und führt eine Sprache, die seinen wahren Gefühlen und seinen geheimen Neigungen schlecht entspricht.

Daher die seltsame Verwirrung, deren Zeugen wir zu sein gezwungen sind.

Vergeblich suche ich in meiner Erinnerung, ich finde nichts, was mehr verdient, unseren Schmerz und unser Mitleid zu rühren, als was sich vor unseren Augen abspielt; es scheint, als habe man heute das natürliche Band zerrissen, das die Meinungen mit den Neigungen, das Tun mit dem Denken verbindet; der Einklang, der sich zu allen Zeiten zwischen den Gefühlen und den Vorstellungen des Menschen wahrnehmen ließ, scheint zerstört zu sein, und man ist fast geneigt zu sagen, dass alle Gesetze moralischer Verantwortlichkeit aufgehoben sind.

[32]Noch trifft man unter uns Christen voll Glaubenseifer, deren fromme Seele sich von den Wahrheiten des anderen Lebens zu nähren liebt; diese werden sich zweifellos für die menschliche Freiheit, den Grund aller menschlichen Größe, einsetzen. Das Christentum, nach dem alle Menschen vor Gott gleich sind, kann nichts dagegen haben, auch alle Bürger vor dem Gesetz gleich zu sehen. Aber durch ein Zusammentreffen seltsamer Umstände findet sich die Religion zur Stunde in Machtgruppen verflochten, die die Demokratie stürzen, und so stößt sie oft die Gleichheit, die sie doch liebt, von sich und verwünscht die Freiheit wie einen Gegner, während sie doch, nähme sie die Freiheit bei der Hand, ihre Bemühungen heiligen könnte.

Neben diesen frommen Menschen sehe ich andere, deren Blicke mehr auf die Erde denn auf den Himmel gerichtet sind; Anhänger der Freiheit nicht allein, weil sie in ihr den Ursprung der vornehmsten Tugenden erblicken, sondern vor allem, weil sie sie als die Quelle der größten Güter betrachten, sind sie von dem aufrichtigen Wunsche beseelt, die Herrschaft der Freiheit zu sichern und ihre Wohltaten den Menschen nahezubringen: ich kann mir denken, dass diese Menschen sich beeilen werden, die Religion zu Hilfe zu rufen, denn sie müssen wissen, dass man die Herrschaft der Freiheit nicht ohne die der Sitten, und die Sitten nicht ohne den Glauben begründen kann; aber sie haben die Religion in den Reihen ihrer Gegner gesehen, das genügt ihnen: So greifen die einen die Religion an, und die anderen wagen sie nicht zu verteidigen.

In den verflossenen Jahrhunderten haben niedrige und käufliche Seelen die Sklaverei angepriesen, während unabhängige Geister und edle Herzen ohne Hoffnung [33]kämpften, um die menschliche Freiheit zu retten. Heute aber begegnet man oft von Natur edlen und stolzen Menschen, deren Ansichten ihren Neigungen stracks zuwiderlaufen und die die Knechtschaft und Niedrigkeit, die sie selbst nie kennengelernt haben, verherrlichen. Im Gegensatz zu ihnen gibt es andere, die von der Freiheit so sprechen, als könnten sie wirklich ermessen, was sie Heiliges und Großes enthält, und die mit großem Stimmaufwand Rechte für die Menschheit in Anspruch nehmen, die sie selbst nie anerkannt haben.

Ich sehe tugendhafte und friedliebende Menschen, die vermöge ihrer reinen Sitten, ihrer zurückhaltenden Gewohnheiten, ihres Wohlstandes und ihrer Bildung ganz von selbst an der Spitze der sie umgebenden Bevölkerung stehen. Voll aufrichtiger Vaterlandsliebe sind sie bereit, für ihr Land große Opfer zu bringen; dennoch findet die Zivilisation in ihnen oft Gegner: sie verwechseln die Missbräuche der Zivilisation mit ihren Wohltaten, und in ihrer Vorstellung ist der Begriff des Bösen unauflöslich eins mit dem Begriff des Neuen.

Daneben sehe ich wieder andere, die es sich im Namen des Fortschritts angelegen sein lassen, den Menschen zu veräußerlichen, und die das Vorteilhafte finden wollen, ohne sich mit dem Rechten zu befassen, die Wissenschaft ohne den Glauben und den Wohlstand unabhängig von der Tugend: diese haben sich als die Vorkämpfer der neuen Zivilisation erklärt und setzen sich frech an ihre Spitze; sie maßen sich einen Platz an, den man ihnen preisgibt, den aber ihre Unwürdigkeit ihnen versagt.

Wo stehen wir also?

Die religiös gebundenen Menschen bekämpfen die [34]Freiheit, und die Freunde der Freiheit greifen die Religion an; edle und hochherzige Geister preisen die Knechtschaft, niedrige und sklavische Seelen rühmen die Unabhängigkeit; anständige und gebildete Bürger sind Feinde allen Fortschritts, während sittenlose Leute ohne Vaterlandsliebe sich zu Vorkämpfern der Zivilisation und der Bildung erklären!

Haben alle Jahrhunderte ausgesehen wie das unsere? Hat der Mensch immer, wie wir heute, eine Welt vor Augen gehabt, in der sich nichts zusammenfügt, in der die Tugend ohne Genie ist, das Genie ohne Ehre; in der sich der Sinn für Ordnung mit Tyrannenwillkür verbindet, der heilige Kult der Freiheit mit Missachtung der Gesetze; in der das Gewissen nur eine zweifelhafte Klarheit auf die menschlichen Handlungen wirft; eine Welt, in der offenbar nichts mehr verboten, nichts erlaubt ist, nichts anständig, nichts schändlich, nichts wahr, nichts falsch?

Soll ich annehmen, der Schöpfer habe den Menschen gemacht, damit er sich ohne Ende in den geistigen Nöten, die uns umringen, abmühe? Ich kann es nicht glauben: Gott hält für die europäischen Staaten eine beständigere und ruhigere Zukunft bereit; ich kenne seine Pläne nicht, aber an sie zu glauben werde ich nicht deshalb aufhören, weil ich sie nicht erforschen kann, und ich will lieber an meinem Verstand zweifeln als an seiner Gerechtigkeit.

In einem Land der Erde hat die große soziale Revolution, von der ich spreche, offenbar ungefähr ihre natürlichen Grenzen erreicht; sie hat sich dort einfach und mühelos vollzogen, oder man kann vielmehr sagen, dieses Land genießt die Ergebnisse der Revolution, die sich bei uns vollzieht, ohne sie selbst erlebt zu haben.

[35]Die Auswanderer, die sich am Anfang des 17. Jahrhunderts in Amerika niederließen, entkleideten gewissermaßen das demokratische Prinzip von all dem, wogegen es in den alten europäischen Staaten gekämpft hatte, und verpflanzten es in reiner Gestalt an die Küsten der Neuen Welt. Dort konnte es in Freiheit gedeihen und Hand in Hand mit den Sitten sich friedlich in den Gesetzen entwickeln.

Ich halte es für unbezweifelbar, dass wir früher oder später genau wie die Amerikaner zur Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen kommen werden. Ich schließe daraus keineswegs, dass wir eines Tages aus der gleichen Gesellschaftsordnung die gleichen politischen Folgen ziehen müssen, die sie gezogen haben. Ich glaube bei weitem nicht, dass die Amerikaner die einzige Regierungsform gefunden haben, die sich die Demokratie geben kann; aber es genügt, dass in beiden Ländern der Entstehungsgrund der Gesetze und Sitten der gleiche ist, damit wir sehr interessiert daran sind, zu erfahren, was auf diesem Boden in jedem der Länder gewachsen ist.

Ich habe Amerika nicht nur betrachtet, um eine – übrigens durchaus legitime – Neugierde zu befriedigen; ich wollte dort Belehrung schöpfen, die wir nutzen können. Wer annimmt, ich wollte ein Loblied auf Amerika anstimmen, täuscht sich sehr; wer dieses Buch liest, wird sich überzeugen, dass ich das durchaus nicht beabsichtigte; ebenso wenig hatte ich vor, die Regierungsform der Amerikaner im Allgemeinen anzupreisen; denn ich gehöre zu denen, die glauben, dass es in den Gesetzen kaum jemals etwas absolut Gutes gibt; ich habe nicht einmal daran gedacht, zu entscheiden, ob die soziale Revolution, die ich für [36]unwiderstehlich halte, für die Menschheit vorteilhaft oder verderblich ist; ich habe diese Revolution als eine vollzogene oder doch sich vollziehende Tatsache genommen und habe mir unter den Völkern, die sie bei sich erlebt haben, dasjenige ausgesucht, bei dem sie die Entwicklung am vollständigsten und am friedlichsten durchgemacht hat, um hier klar ihre natürlichen Folgen zu untersuchen und womöglich die Mittel zu finden, wie man sie für die Menschen fruchtbar machen kann. Ich gestehe, dass ich in Amerika mehr gesehen habe als Amerika; ich habe dort ein Bild der reinen Demokratie gesucht, ein Bild ihrer Neigungen, Besonderheiten, ihrer Vorurteile und Leidenschaften; ich wollte sie kennenlernen, und sei es nur, um wenigstens zu erfahren, was wir von ihr zu erhoffen oder zu befürchten haben.

Im ersten Teil dieses Werkes habe ich versucht, die Richtung aufzuzeigen, die in Amerika die ihren Neigungen überlassene, ja fast hemmungslos ihren Instinkten preisgegebene Demokratie den Gesetzen auf natürliche Weise gab, den Gang, den sie der Regierung aufzwang, und ganz allgemein die Macht, die sie auf das Leben der Gesellschaft ausübt. Ich wollte wissen, was sie an Gutem und Schlechtem hervorbringt. Ich habe untersucht, welcher Vorkehrungen sich die Amerikaner zu ihrer Lenkung bedienen, welche anderen sie versäumt haben, und mich bemüht, die Ursachen herauszufinden, die es der Demokratie gestatten, die amerikanische Gesellschaft zu regieren.

In einem zweiten Teil beabsichtigte ich den Einfluss darzustellen, den die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen und die demokratische Regierung in Amerika auf das bürgerliche Leben, auf die Gewohnheiten, [37]Vorstellungen und Sitten ausübt; aber ich verliere allmählich die Lust, diesen Plan auszuführen.5

Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, dem Leser deutlich zu machen, was ich in Amerika gesehen habe, ich weiß nur ganz sicher, dass dies mein aufrichtiger Wunsch war und dass ich an keiner Stelle – es sei denn unbewusst – der Versuchung erlegen bin, die Tatsachen den Ideen anzupassen, statt die Ideen an den Tatsachen zu bilden.

Wo ein Punkt durch schriftliche Dokumente belegt werden konnte, habe ich mich bemüht, auf die Originaltexte und die glaubwürdigsten und anerkanntesten Werke zurückzugreifen.6

[38]Ich habe meine Quellen in Anmerkungen bezeichnet, und jeder kann sie nachprüfen. Wo es sich um Ansichten, politische Gewohnheiten oder Beobachtungen von Sitten handelte, habe ich versucht, die besten Sachkenner um Rat zu fragen. Bei zweifelhaften oder besonders wichtigen Dingen habe ich mich nicht mit einem Gewährsmann zufriedengegeben, sondern mich immer auf die Gesamtheit der Zeugnisse bezogen.

Ich muss den Leser bitten, dass er mir hierin aufs Wort glaubt. Ich hätte oft zur Unterstützung meines Vortrags Autoritäten anführen können, die dem Leser bekannt sind oder die es verdienten, ihm bekannt zu sein; ich habe es nicht getan. Der Fremde erfährt oft am gastlichen Herd unter dem Siegel der Verschwiegenheit wichtige Wahrheiten, die er vielleicht der Freundschaft entlockte; niemand fürchtet die Indiskretion des Gastes, da er ja wieder abreist. Ich habe jede dieser vertraulichen Mitteilungen sofort, nachdem ich sie empfangen hatte, eingetragen, aber sie werden meine Mappe niemals verlassen; ich will lieber dem Erfolg meines Berichtes schaden als meinen Namen der Liste jener Reisenden anfügen, die für die empfangene großzügige Gastfreundschaft Verdruss und Peinlichkeiten über den Gastgeber bringen.

[39]Ich weiß, dass – trotz aller meiner Sorgfalt – nichts einfacher ist, als dieses Buch zu kritisieren, wenn überhaupt jemand daran denkt, es zu kritisieren.

Wer es gründlich liest, wird, denke ich, in dem gesamten Werk einen Hauptgedanken finden, der es in allen seinen Teilen zusammenhält. Aber die Gegenstände, die ich zu behandeln hatte, sind sehr mannigfaltig, und wer der Gesamtheit der Tatsachen, die ich anführe, eine Einzeltatsache entgegenhalten will, der Gesamtheit der Ideen eine besondere Idee, dem wird das unschwer gelingen. Ich möchte daher den Leser um die Freundlichkeit bitten, mich in dem gleichen Geiste zu lesen, der meine Arbeit geleitet hat, und das Buch nach dem allgemeinen Eindruck zu beurteilen, den es hinterlässt, so wie ich selbst mich nicht aus einem Grund, sondern aus der Gesamtheit der Gründe entschlossen habe, das Buch zu schreiben.

Ebenso wenig sollte man vergessen, dass der Autor, der sich verständlich machen will, alle seine Ideen bis in ihre letzten theoretischen Folgen zu durchdenken gezwungen ist, oft bis an die Grenzen des Falschen und Unpraktikablen; denn ist es auch oft notwendig, sich in seinen Handlungen der Regeln der Logik zu entschlagen, im schriftlichen Vortrag kann man so nicht verfahren, und es fällt dem Menschen fast ebenso schwer, in seinen Worten inkonsequent zu sein, wie in seinem Tun konsequent.

Zum Abschluss möchte ich selbst darauf aufmerksam machen, was viele Leser für den Hauptfehler des Werkes halten werden. Das Buch bekennt sich durchaus zu niemandes Gefolgschaft; ich hatte, als ich es schrieb, weder im Sinn, einer Partei gefällig zu sein noch eine Partei anzugreifen; ich wollte nicht anders, nur weiter sehen als die [40]Parteien; und während sie sich mit dem Morgen beschäftigen, galt meine Aufmerksamkeit der Zukunft.

Über die Demokratie in Amerika

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