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Gemeindebefugnisse in Neuengland
ОглавлениеDas Volk ist in der Gemeinde wie überall die Quelle der sozialen Befugnisse, aber nirgends übt es seine Macht unmittelbarer aus. In Amerika ist das Volk ein Herr, dem man bis zu den äußersten Grenzen des Möglichen folgen musste.
In Neuengland übt die Mehrheit, wenn es sich um die allgemeinen Angelegenheiten des Staates handelt, ihre Gewalt durch ihre Vertreter aus. Das war notwendig; aber in der Gemeinde, wo Gesetzgebung und Regierung den Regierten nähergerückt sind, wird keine Vertretung zugelassen. Es gibt keinen Gemeinderat; wenn die Gesamtheit der Wähler ihre Beamten gewählt hat, lenkt sie diese in allem, was sich nicht lediglich auf die Ausführung der Staatsgesetze bezieht, selbst.13
Diese Ordnung der Dinge ist unseren Ideen und Gewohnheiten so entgegengesetzt, dass hier einige Beispiele zum richtigen Verständnis nötig sind.
Wie wir später sehen werden, sind die öffentlichen Ämter in der Gemeinde überaus zahlreich und stark aufgeteilt; der größte Teil der Verwaltungsbefugnisse ist jedoch in der [64]Hand von wenigen Leuten vereinigt, die jährlich gewählt werden und die man selectmen nennt.
Die allgemeinen Gesetze des Staates schreiben den Selectmen eine bestimmte Anzahl Pflichten vor. Diese erfüllen sie ohne Ermächtigung seitens der Bürger; sie können sich ihnen nicht entziehen, ohne dafür persönlich haftbar gemacht zu werden. So schreibt ihnen das Staatsgesetz zum Beispiel vor, in ihren Gemeinden Wahllisten aufzustellen; bei Unterlassung machen sie sich eines Vergehens schuldig; in allen Geschäften jedoch, die der Gemeindegewalt unterstehen, vollziehen die Selectmen den Volkswillen, so wie bei uns der Bürgermeister die Beschlüsse des Gemeinderates ausführt; meistens handeln sie auf eigene Verantwortung und befolgen dabei lediglich die Grundsätze, die die Mehrheit vorher festgesetzt hat. Wollen sie aber irgendeine Änderung in der festgesetzten Ordnung einführen oder ein neues Vorhaben unternehmen, dann müssen sie sich an die Quelle ihrer Macht wenden. Nehmen wir an, es soll eine Schule errichtet werden; die Selectmen berufen die Gesamtheit der Wähler zu einem bestimmten Tage und an einem vorher festgesetzten Orte ein und legen ihnen das bestehende Verlangen vor; sie nennen die Mittel, es zu befriedigen, die hierzu nötige Geldsumme, den zu wählenden Platz. Die Versammlung stimmt aufgrund dieser Darlegung zu und setzt den Platz fest, beschließt die Steuer und betraut die Selectmen mit dem Vollzug ihres Willens.
Nur die Selectmen haben das Recht, die Gemeindeversammlung (town-meeting) einzuberufen; aber sie können dazu aufgefordert werden. Planen zehn Grundbesitzer in der Gemeinde etwas Neues, und wollen sie es durch sie annehmen lassen, so beantragen sie eine [65]Gemeindeversammlung: Die Selectmen müssen sie einberufen und haben lediglich das Recht auf den Vorsitz in der Versammlung.
Diese politischen Sitten und diese sozialen Bräuche sind von den unseren zweifellos weit entfernt. Ich will vorderhand weder ein Urteil darüber abgeben noch die verborgenen Gründe aufzeigen, aus denen sie entsprungen sind und von denen sie ihre Geltung empfangen; ich möchte sie hier bloß darstellen.
Die Selectmen werden jährlich im April oder im Mai gewählt. Gleichzeitig wählt die Gemeindeversammlung eine Menge anderer Gemeindebeamten, denen bestimmte wichtige Einzelaufgaben der Verwaltung übertragen werden. Die einen, Beisitzer genannt, müssen die Steuern festsetzen; die andern, als Einzieher bezeichnet, müssen sie erheben. Ein Beamter, den man constable nennt, übt die Polizeigewalt aus, überwacht die öffentlichen Stätten und sorgt für die materielle Ausführung der Gesetze. Ein anderer, der Gemeindeschreiber, führt die Protokolle der Verhandlungen; er betreut das Gemeinderegister. Ein Schatzmeister verwaltet die Gemeindegelder. Zu diesen Ämtern kommen weitere: ein Armenaufseher, dessen schwierige Aufgabe darin besteht, die Armengesetze anzuwenden; Schulaufseher, die den öffentlichen Unterricht leiten; Straßenaufseher, die sich mit allen Einzelfragen der großen und kleinen Wege befassen; damit haben wir die wichtigsten Ämter der Gemeinde aufgezählt. Aber die Aufstellung der Befugnisse bleibt nicht hier stehen: unter den Gemeindebeamten14 gibt es außerdem Kirchspielverwalter, die die [66]Ausgaben für den Gottesdienst regeln; verschiedene Aufseher, die einen für die Feuerwehr, die andern zur Beaufsichtigung der Ernten; diese schlichten vorläufig die entstehenden Grenzschwierigkeiten, jene überwachen die Holzvermessung, prüfen Maß und Gewicht.
Im Ganzen zählt man neunzehn Hauptämter in der Gemeinde. Jeder Einwohner ist verpflichtet, diese verschiedenen Ämter anzunehmen, will er nicht zu einer Strafzahlung verurteilt werden; die meisten haben Anspruch auf eine Entschädigung, damit auch unbemittelte Bürger sich dem Amt ohne persönliche Einbuße widmen können. Davon abgesehen, kennt das amerikanische System keine festen Beamtengehälter. Im Allgemeinen ist für jede Amtshandlung eine Vergütung ausgesetzt, und jeder wird nur für die jeweils geleistete Arbeit bezahlt.