Читать книгу Der Fluch des Mechanicus - Alf Leue - Страница 10
2
ОглавлениеFrankfurt am Main Sonntag vor Mariä Geburt 2. September Anno Domini 1509
Andreas hielt sich hinter einem Heuballen versteckt. Er zitterte am ganzen Leib und krallte seine Finger in die Halme. Seine Mutter hatte ihn und seine Geschwister panisch aus dem Schlaf gerüttelt, als die Männer kamen, und ihnen befohlen, sich draußen zu verstecken. Warum nur war er noch nicht so groß und stark wie sein Vater? Warum hatte er kein Schwert? Er wollte die Männer töten. Alle. Einen nach dem anderen, doch er konnte nicht. Hilflos musste er mit ansehen, wie vier der Mörder in die Feste stürmten und seine Eltern auf den Hof zerrten. Den Vater warf man in den Staub und trat und schlug auf ihn ein, bis er sich nicht mehr wehrte. Dann holten zwei der Männer ein Seil und hängten ihn am Hals an einem Balken über dem Tor auf. Er zappelte wie ein Fisch am Angelhaken. Seine Zunge trat blau hervor und er nässte sich im Todeskampf ein. Die Männer lachten. Nicht schreien, Andreas! Nicht schreien! Er durfte nicht damit anfangen. Er wusste, er hätte nie wieder aufgehört. Er würde sterben, wenn er schrie, und Andreas wollte leben. Und Andreas wollte laufen, seinen Vater vom Balken schneiden. Andreas wollte rennen und seine Mutter unter den stöhnenden, schwitzenden Männern hervorzerren, die sich nicht einmal die Mühe machten, ihre Schändung hinter einer Ecke zu begehen. Er konnte nicht. Er war nur ein Kind. Andreas sah ihr Gesicht. Starr blickte sie zum Himmel auf. Ihre Lippen bewegten sich leise. Geliebte Lippen. Sie betete. Sie verblutete. Plötzlich johlten die anderen Männer, die die Burg durchkämmt hatten, voller Freude. Andreas’ Geschwister waren ihnen in die Hände gefallen. Seinem Bruder und seinen beiden Schwestern – die noch zu jung waren, um sich an ihnen gütlich zu tun – wurden die Kehlen durchgeschnitten als wäre es nichts. Ein, zwei, drei kurze Schnitte und diese Familie existierte nicht mehr. Weggeworfen in den Staub. Nur Andreas lebte weiter. Gott hatte ihm in verächtlicher Gnade die Wahl überlassen und er wählte das Leben. Andreas duckte sich hinter seinem Versteck und schlich rückwärts zur Scheunenwand. Der Schweiß rann ihm in Strömen den Rücken hinab und sein kleines Herz raste, als wolle es zerspringen. Dort, wo er mit seinen Geschwistern immer gespielt hatte, war das Loch in den morschen Holzbrettern. Er zwängte sich hindurch. Die Angst, die sich an ihn krallte wie ein wildes Tier, ließ ihn nicht bemerken, wie sich ein Nagel tief in sein Fleisch bohrte und ihm das Gesicht direkt unter dem rechten Auge aufriss. Sie trieb ihn voran. Fort, nur fort. Er bekam keine Luft mehr und ihm war schwindelig. Nur nicht schreien, nur nicht schreien. Schweig Andreas, wenn du leben willst! Er brach sich die Fingernägel ab, als er in Panik die hohe Bruchsteinmauer erklomm, wo auf der anderen Seite die alte Eiche stand. Er schlug sich Knie und Arme blutig, als er sich beim Herunterklettern viel zu früh fallen ließ. Sein Fuß schmerzte und die Angst biss und zwickte ihn mit glühenden Zangen. Doch sie half ihm auch, seine Schmerzen zu vergessen. Ja, er spürte nichts mehr. Gar nichts. Nicht einmal Trauer oder Wut. Alles war verschwunden, nur die reine Angst war geblieben. Andreas rannte, wie er noch nie gerannt war, so schnell, wie ein sechsjähriger Junge laufen konnte. Der Wald. Er musste ihn erreichen. Sein Fuß gab nach. Weiter. Die Bäume waren so nah. Seine Lungen brannten wie Feuer. Andreas ritt auf der Angst wie auf einem ungezähmten Wildpferd. Doch der Reiter, der plötzlich aus dem Nichts der Dunkelheit hinter ihm auftauchte, ritt noch schneller. Er erreichte ihn. Er packte zu. Mit eisernem Griff und mit einem höhnischen Lachen zog er den Jungen vor sich aufs Pferd. Der Reiter war ein roter Ziegenbock. Er war weiß und rot. Wie verlogene Unschuld und Blut. Nicht schreien, Andreas!
„Na, wen haben wir denn da? Den jüngsten Herrn höchstselbst! Welch freudige Überraschung. Wollt Ihr Euch denn nicht lieber zu Eurer Familie in der Hölle gesellen und einfach sterben, als vor mir zu fliehen?“ Dem Bock spritzte der Geifer aus dem Maul. Sein Atem stank nach Bier und Tod. Es zog seinen Dolch und setzte ihn zum Schnitt an Andreas’ Kehle. Jetzt schrei, Andreas. Jetzt darfst du schreien! Nichts mehr, wofür es zu schweigen lohnt. Und Andreas schrie endlich.
Wolf Besigheim fuhr aus dem Schlaf. Sein Puls raste. Hektisch holte er Luft und fasste sich an den Hals. Nur ein Traum, Wolf, nur der Traum. Wieder einmal. Er setzte sich auf die Kante seiner Bettstatt und atmete schwer. Er erhob sich und ging zur Waschschüssel, die auf der anderen Seite des Raumes auf einem Tischchen stand. Er schlug sich zwei Hände nachtkalten Wassers ins Gesicht und spürte, wie es seine Angst fortspülte. Wolf Besigheim fuhr sich durch die tropfenden Haare. Lange stand er einfach nur da und atmete. Schließlich zog er sein Schwert aus der Scheide, das er in der Ecke der Kammer an die Wand gelehnt hatte, und umfasste es fest. Er hob es hoch und betrachtete die kalte Klinge. Es hatte ihm immer geholfen und schon viele Feinde gefällt, aber gegen diese Gegner schien es nutzlos zu sein. Sie waren nicht mit dem Schwert zu besiegen. Oder vielleicht doch? Aber nicht hier und jetzt. Er ging zum Fenster und öffnete es weit. Die kühle Herbstluft zog feucht wie durch ihn hindurch, durch seinen Schädel, hinein in die Kammer, und verwirbelte die bösen Träume langsam zu flüchtigen Gedanken. Die Angst löste sich auf. Für den Moment wenigstens. Er atmete in tiefen Zügen. Der Regen hatte aufgehört und den Sternen nach zu urteilen, musste es kurz nach Mitternacht sein. Noch Zeit zum Schlafen. Ja, er musste schlafen. Er musste erholt sein. Übermorgen schon stand der Ritt nach Mainz bevor. Doch morgen wollte Wolf zuerst noch einmal in die Frankfurter Judengasse, um zu schauen, ob sich wieder zwielichtiges Volk dort herumtrieb. Er hatte dem Erzbischof jedenfalls Wichtiges zu berichten, wichtig genug, dass er seine Sinne beieinander haben musste. Wolf ließ seinen Blick noch kurz über die Silhouette Frankfurts schweifen, die sich unweit des Hellerhofes düster am Horizont abzeichnete. Dann schloss er das Fenster und begab sich wieder auf sein Lager. Er war nicht Andreas, war es nie gewesen. Warum aber sah er ihn dann immer wieder in seinen Träumen? Er war Wolf Besigheim, ein Mann, und zwischen dem Schicksal dieser Traumgestalt und seinem eigenen Leben klaffte ein dunkles Loch. Wolf zog sich die Decke bis unters Kinn. Das Schwert aber legte er neben sich.