Читать книгу Der Fluch des Mechanicus - Alf Leue - Страница 18
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ОглавлениеFrankfurt am Main Mittwoch nach Mariä Geburt 10. September Anno Domini 1509
Abraham Siebenthal setzte die Augengläser ab und rieb sich das Kreuz. Ihm tat der Rücken weh vom langen Lesen. Immer in dieser gebückten Haltung auf das alte Pergament zu starren, das den Sinn seines schlecht erkennbaren Inhaltes verteidigt hatte wie ein waidwundes Tier sein Leben, das war eigentlich nichts mehr für einen alten Mann. Vor ein paar Jahren noch (oder waren es Jahrzehnte?) hätte es ihm nichts ausgemacht, nächtelang Dokumente aus dem Griechischen zu übersetzen und deren Geheimnisse zu ergründen. Im Gegenteil. Es hätte ihn nur noch mehr angespornt, je mehr sich ein Text mit komplizierten Konstruktionen oder ausgefallenen Allegorien gegen die Wahrheit einer klaren Sprache gewehrt hätte. Aber heute? Er war müde und wollte auf seine Schlafstatt. Doch wer sollte diese Aufgabe sonst erledigen? Es war sein Dokument, sein Geheimnis. Aber hatte er es auch richtig übersetzt und gänzlich verstanden? War das, was er bereits geschaffen hatte, das, was es zu schaffen galt? Abraham zog hastig den Bart zurück. Beinahe wäre er in die Kerze geraten. Er strich ihn fast zärtlich vom Tisch hinter die Kante der Arbeitsplatte. Doch eigentlich konnte er zufrieden sein. Er hatte nun bereits eine Ahnung, wie seine Maschine funktionieren sollte. Die Anleitung im Dokument war gut, doch noch lange nicht perfekt. Einen Kupferkessel musste er bauen. Ein rundes Gefäß, in dem die verborgene Kraft erwachsen konnte. Mehr Feuer würde er benötigen, um dem scheinbar harmlosen Element, der Ingredienzie, die ihr Geheimnis hinter ihrer Unscheinbarkeit verbarg, seine Macht noch besser entlocken zu können. Dann würde sie funktionieren. Produzieren. Doch hier in seiner Werkstatt war das Geheimnis nicht gut genug versteckt. Was, wenn jemand den Apparatus erblickte? Sicher würde niemand seine Maschine verstehen, aber was, wenn doch? Oder was, wenn Jokoff Cramer eines Tages hereinkäme und sehen wollte, was Abraham geschaffen und womit er das Gold gemacht hatte? Was, wenn er begreifen würde, dass Abraham ihm von Anfang an nicht die Wahrheit erzählt hatte? Abraham musste schmunzeln. Cramer. Er war ein armer Tropf, der das Gold in der Not mehr anbetete als seine Kirche. Er tat ihm fast ein wenig leid. Aber er war auch nur wie die anderen. Juden, Christen, das war einerlei. Sie alle würden nicht begreifen, was er hier vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Welch unermessliche Macht dieses spröde Dokument beinhaltete. Auch der Florentiner Händler, dieser Bernardo Tagnini, hatte keine Ahnung gehabt. Dieser Narr. Er hatte sich von seiner Gier auf schnelles Geld genauso treiben lassen, wie von seiner unverständlichen Angst vor einem Fluch. Pah, Flüche waren etwas für alte Weiber und kleine Kinder. Er wollte nur ein paar Groschen dafür. Eine schaurige Mär hatte er sich ausgedacht, um den Preis für ein Schriftstück hochzutreiben, das er ohnehin nicht verstanden hätte. Es war Abrahams letztes Geld gewesen, den Rest hatte der Bau der ersten Maschine aufgefressen. Aber der Florentiner ahnte gewiss nicht einmal, dass er dem alten Juden dafür die Fackel mit dem göttlichen Feuer der Erkenntnis überreicht hatte. Abraham wusste es besser. Er verschränkte die Finger ineinander und streckte die Arme nach vorne, dass die Knöchel prasselten wie ein trockenes Holzscheit im Feuer. Dann ließ er die schmerzenden Hände auf den Tisch sinken und dachte weiter nach. Er musste einen Weg finden, Jokoff Cramer bei der Stange zu halten. Er dürfte nicht zu bald erfahren, worum es hier wirklich ging. Natürlich würde er ihn beteiligen, wenn es einmal etwas zu verdienen gäbe, das gebot Abraham die Ehre. Vertrag ist Vertrag. Aber es würde noch lange dauern und Jokoff Cramer hätte niemals zugesagt, wenn Abraham ihm gleich die ganze Wahrheit offenbart hätte. Er hätte es nicht verstanden. Menschen ohne Visionen hatten keinen Spiritus, keinen Geist. Abraham strich das Dokument glatt und befühlte verliebt dessen trockene Oberfläche. So alt, so vergessen. Als hätte man das Geheimnis göttlicher Kraft achtlos in den Abort der Ewigkeit geworfen.
Dann sprach er zu dem Pergament und es war gut, dass ihn niemand dabei belauschte. Der beste Platz im Narrenturm wäre ihm sicher gewesen.
„Ich habe dich verstanden. Ich weiß, wer du bist. Du bist von Gott gesandt. Aus meiner Welt kannst du nicht stammen. Du bist das Erbe eines genialen Geistes. Ich bin nun dein Diener. Ich habe dein Geheimnis verstanden und werde den Menschen dieses Geheimnis ein zweites Mal geben, ja mehr als das. Ich werde es vervollkommnen!“
Abraham musste über sich selbst lachen und stützte sich ächzend mit den Händen vom Tisch ab. Dann stand er auf und schob behutsam die Bleigewichte von den Ecken des Pergaments. Die befreiten Enden begannen sofort, sich langsam nach innen zu drehen, als wäre das Leben in sie zurückgekehrt, als wären sie darauf bedacht, den Inhalt schnell wieder zu bedecken. Abraham nahm das Pergament vorsichtig auf, rollte es zusammen und steckte es in den Lederköcher zurück, den er wieder sorgsam hinter den Folianten auf dem Regal verstaute. Er rieb sich nachdenklich das Kinn. Hier konnte es nicht liegen bleiben. Das Versteck hinter den Schriften war einfach zu offensichtlich. Wenn jemand ein Dokument suchte, würde er hier damit beginnen. Abraham hatte kein gutes Gefühl dabei und auch die neue Maschine konnte er nicht in seiner Werkstatt fertig bauen. Doch er hatte schon eine Idee. Spitzbübisch sah er zur Decke des niedrigen Raumes wie zum Himmel auf und erinnerte sich. Er lächelte. Dann zog er den Lederköcher mit dem griechischen Dokument wieder hinter den Folianten hervor, blies die Kerzen aus und verschwand durch den roten Vorhang in seinen Laden.