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ОглавлениеFrankfurt am Main am 18. Sonntag nach Trinitatis 30. September Anno Domini 1509
Agnes Cramer fiel vor Schreck fast der Löffel aus der Hand. Es hämmerte an die Tür zum Kontor, als stünde der Leibhaftige davor. Der Lärm drang bis in die Küche. „Um Gottes willen Jokoff. Wer kann das sein? Doch nicht wieder dieser Schmied?“
„Gewiss nicht“, sagte Jokoff ungehalten und erhob sich vom Abendbrottisch. „Ich habe nichts mehr von Stoltzer gehört seit meinem Besuch, und Zeit haben wir noch ein wenig. Zumal er es auch nicht nötig hätte, solch ein Aufsehen zu veranstalten. Ich werde nachsehen, was da vor sich geht. Vielleicht nur ein paar Gassenjungen, die um eine Schelle betteln.“
Alle am Tisch hatten aufgehört, zu essen und lauschten gespannt. Ein beunruhigendes Gefühl machte sich breit. Aus der Küche konnten Greger, Grite und deren Mutter hören, wie Jokoff den Riegel der Kontortür zurückschob und sie öffnete. Jokoffs verwunderte Stimme mischte sich mit der eines anderen Mannes und mit einer weiblichen, die Greger sofort erkannte und aufsprang.
„Dorothye?“, rief Greger überrascht und stürmte nach vorne. Agnes und Grite folgten ihm. Jokoff Cramer stand mitten in der Tür zur Gasse und diskutierte mit Bechthold Hausner. Dorothye versuchte um ihren und Gregers Vater herum einen Blick auf ihren Geliebten zu erhaschen. Schließlich blickte sie ihm direkt in die Augen und lächelte. Aber es war nicht das Lächeln, wie es Greger sonst von ihr kannte. Es war, als läge ein Schatten auf ihr. Sie wirkte aufgeregt, ja fast ängstlich. Irgendetwas schien vor sich zu gehen und es war nichts Gutes. Greger wollte sofort zu ihr, doch da drehte sich Jokoff Cramer bereits um. „Agnes, Kinder, Herr Hausner hat mir gerade berichtet, dass die Dominikaner unter Johannes Pfefferkorn und einer tobenden Menge soeben in die Judengasse eingedrungen sind. Sie zerren dort die Menschen aus ihren Häusern, misshandeln sie und verbrennen ihre Schriften. Das ist eine Ungeheuerlichkeit! Wie kommt dieser Hund dazu, Frankfurter Bürger in der Stadt anzugreifen?“
Agnes war mit erschrockenem Gesicht hinzugetreten und nickte Herrn Hausner und Dorothye einen wortlosen Gruß zu. Grite klammerte sich an ihre Mutter. Auf der Straße war in einiger Entfernung Geschrei zu vernehmen, das wie dicker Brei durch die engen Häusergassen und über die Plätze quoll. Es klang bedrohlich. Unmenschlich. Immer mehr Bürger liefen am Kontor der Cramers vorbei in die Richtung, aus der das Geschrei zu kommen schien.
„Wir gehen da jetzt hin und werden mit den domini canes und diesem Herrn Pfefferkorn ein Wörtchen reden“, sagte Jokoff Cramer entschlossen. „Agnes, Grite, ihr bleibt hier und werdet derweil Fräulein Hausner Gastrecht gewähren, während wir drei sehen, was dort geschieht.“
„Sieh dich vor, Jokoff“, sagte Agnes Cramer zu ihrem Mann, doch der war schon mit weiten Schritten Richtung Judengasse unterwegs. Sie wusste sehr wohl, dass Jokoff nicht nur die Ungerechtigkeit gegenüber den Juden trieb. Es gab mehr in der Judengasse für ihn zu verlieren. Bechthold Hausner folgte ihm und danach Greger, der Dorothye noch unbemerkt einen flüchtigen Kuss zurückgelassen hatte. Jokoff Cramer war nicht zu halten. Dass irgendein daher gelaufener Demagoge Teile der Bevölkerung mit seinen Hetzreden gegen die Frankfurter Juden aufbrachte, war Grund genug, erbost zu sein. Doch Jokoff Cramer hatte, kaum dass das Wort Verbrennung von Schriften gefallen war, noch ein viel schlimmeres Gefühl beschlichen. Er musste zu Abraham. Sofort. Das Feuer und die Dummheit der Menschen würden keinen Unterschied machen zwischen Schriften angeblichen religiösen Irrglaubens und heilsbringenden Texten. Der Pöbel konnte die Tora genauso wenig lesen, wie er altgriechische Bauanleitungen verstand. Hoffentlich war es noch nicht zu spät.
Als die beiden Männer und Greger durch das Judenbrückchen in der Staufenmauer die Judengasse betraten, schwollen Gebrüll und Gezeter, Weinen und Wüten sowie die vereinzelten Rufe und spitzen Schreie der Menschen zu einem abstoßenden, allgegenwärtigen Getöse an. Es war ein einziger Tumult. Zwei Dominikaner zerrten gerade einen alten Juden im Nachtgewand aus seinem Haus auf die Gasse. Er klammerte sich wie besessen an ein Bündel Bücher und ließ sich auf die Knie fallen. Er weinte und zeterte und verlor dabei einige der Folianten. Doch die Mönche gingen mit versteinertem Gesicht ihrem Auftrag nach und zogen ihn rücksichtslos bis zu einem Haufen brennender Schriften, wo sie ihn zu Boden schleuderten. Seine kostbaren Bücher sprangen auseinander und verteilten sich auf dem Boden. Einer der Mönche sammelte die Schriften ein und warf sie trotz des flehenden Schreiens des Juden ins Feuer. Zwei andere Dominikaner hielten den Mann dabei fest. Diese Haufen mit brennenden Büchern waren überall auf der Judengasse entzündet worden, immer im Abstand von etwa dreißig Schritten. Sie wurden gut genährt. Die Gasse war über und über voll von schreienden Menschen. Entweder waren es die Anhänger Pfefferkorns, die die Bücher aus den Häusern rissen und ins Feuer warfen, oder aber Juden, die, ihrer Rollen, Folianten, Drucke und Bücher beraubt, verzweifelt und schreiend versuchten, die Täter davon abzuhalten. Doch es nützte nichts. Ohne Erbarmen wurde Buch um Buch, Werk um Werk den Flammen zum Fraß vorgeworfen. Was an augenscheinlich wertvollen Schriften oder als Beweis für die gotteslästerlichen Umtriebe der Juden nicht gleich an Ort und Stelle verbrannt werden sollte, wurde konfisziert. Pfefferkorns Leute packten ihre Beute in Leinensäcke und schleppten sie davon.
Greger war starr vor Schreck. Er kannte weder Krieg noch Mord und Totschlag aus eigener Erfahrung. Bis jetzt. Denn das, was er hier sah, malte ihm in düsteren Farben aus, was ihm sowohl sein Großvater als auch sein Vater Jokoff immer über die Mordlust der Menschen erzählt hatten. Das hatte er aber nie so recht glauben können. Bis heute.
Greger, Jokoff Cramer und Bechthold Hausner waren wie gelähmt. „Mein Gott im Himmel. Was ist das hier?“, stammelte Greger kreidebleich, doch keiner der beiden anderen konnte ihm darauf wirklich eine Antwort geben. Die Masse schob sich langsam vom Bornheimer Tor in Richtung Untertor und hatte das Judenbrückchen soeben passiert. Jokoff löste sich als Erster aus seiner Starre. Er schrie gegen das Gebrüll an: „Ich muss zu Abraham Siebenthal. Herr Hausner, gebt gut auf meinen Sohn acht!“ Greger sah noch kurz den Hut seines Vaters auf dem Menschenmeer aus Fackeln und schwarzen Köpfen tanzen, dann war er verschwunden. Ratlos und eingeschüchtert sah er nun zu Bechthold Hausner.
„Sieh nur, da hinten kommt endlich der Stadtrat mit den Bütteln“, zeigte dieser mit einem Mal erleichtert in Richtung Obertor. Gregers Blick folgte seinem Finger. Tatsächlich tauchten zwischen den Flammen und den vereinzelt zurückgebliebenen Juden, die hilflos versuchten, die Reste ihrer glimmenden Bücher zu retten, einige Männer in Begleitung eines Zuges Stadtsoldaten auf. Ihnen voran schritten der Bürgermeister, der Stadtrat Jakob Heller und ein weiterer Mann.
„Ich muss meinen Vater suchen und zu Abraham“, sagte Greger plötzlich. Er hatte Angst um seinen Vater und auch um den alten Juden. Mochte der doch verrückt sein, wie er wollte. Er hatte ihn gern.
„Aber wie willst du das denn anstellen?“, wollte Bechthold Hausner wissen. „Es ist gefährlich, und bis du dich durch diese Menge da hindurchgezwängt hast, ist alles vorüber.“ Hausner wies mit dem Kopf in Richtung des bücherfressenden Wurms, der sich im Schneckentempo durch die enge Gasse schob. Wo er vorüberkam, blieb kein Haus verschont, keine jüdische Familie ohne Schaden.
„Ich weiß schon wie“, rief Greger, als er auch schon vom Judenbrückchen aus losstürmte und zurück in Richtung Predigergasse verschwand. Zuerst war Bechthold Hausner zu verdutzt, um etwas zu sagen. Als Greger dann aber schon einige Schritte gelaufen war, rief er ihm wütend hinterher: „Du Trottel! Ich habe deinem Vater versprochen, auf dich achtzugeben. Komm zurück! Sofort! Sei doch vernünftig.“ Doch Greger war nicht mehr zu sehen. Ratlos zuckte Bechthold Hausner mit den Schultern, konnte sich eines Schmunzelns aber nicht erwehren. Dorothye hatte eine Leidenschaft für Unberechenbares. Vielleicht liebte seine Tochter diesen jungen Mann auch gerade deshalb. Er sprach ein kurzes Stoßgebet für Greger und sich und ging dann auf den Stadtrat und die Büttel zu. Er wollte wissen, was nun passieren würde.
Greger rannte wie von Sinnen. Die Häuser flogen an ihm vorbei. Verwunderte und erschrockene Bürger machten ihm Platz oder er sprang wie ein junger Bock um sie herum. Die Predigergasse hinunter bis zum Graben und dann links. Seine Lungen brannten, doch er wollte zu seinem Vater. Hoffentlich ging seine Rechnung auf. Noch dreißig schnelle Schritte und er stand endlich vorm Untertor zur Judengasse. Hier war es ruhiger. Zwar konnte er die näher kommenden Menschen hören, doch sie schienen sich tatsächlich von oben nach unten vorzuarbeiten, ganz wie Greger es gehofft hatte. Hier war niemand. Das Tor stand auf. Torschluss war eigentlich vorüber. Da aber die Unruhen vorher begonnen hatten und die wenigen Männer an den Toren keinen Wert auf einen Händel, weder mit einer entfesselten Menge noch mit fanatischen Dominikanern, gelegt hatten, waren sie einfach getürmt. Greger atmete kurz durch, dann rannte er weiter. Es war stockdunkel. Die Juden hatten aus Furcht alle Lichter gelöscht. Bestimmt beteten sie jetzt im Kreise ihrer Familien und schlotterten vor Angst. Im Laufen drehte Greger sich um, um zu schätzen, wie weit er bereits gekommen war. Plötzlich erhielt er einen furchtbaren Schlag an den Kopf. Er war gegen etwas geprallt. Gegen jemanden. Der Mann schien den Zusammenstoß kaum bemerkt zu haben, denn er war nur kurz stehen geblieben. Greger brummte der Schädel. Als er aufsah, erblickte er einen hünenhaften Mann, doch sein Gesicht versteckte sich in der Dunkelheit.
„Pass auf, wo du hinrennst, du Missgeburt, oder ich schlitze dich auf!“, zischte er.
Der Mann hatte das Böse in seiner Stimme und Greger glaubte ihm jedes Wort. Das war keine leere Drohung. Greger überlegte kurz, wie er flüchten könnte, da ging der Mann einfach weiter und ließ Greger erleichtert zurück. Greger rappelte sich hoch, rieb sich den Kopf und rannte weiter. Kurz darauf erreichte er Abrahams Laden. Pfefferkorns Bücherverbrenner waren hier zum Glück noch nicht angekommen. Greger hämmerte aufgeregt an die Tür.
„Herr Siebenthal, Abraham! Ich bin es, Greger. Macht auf, Ihr müsst hier weg, rasch!“
Quietschend öffnete sich die Tür. Jetzt erst sah Greger, dass sie aufgebrochen worden war. Panische Angst ergriff ihn. Sein Herz ging schnell. Irgendetwas stimmte hier nicht. Zitternd schob er die Tür auf und ging hinein. Es war stockfinster.
„Abraham? Abraham?“
Nichts. Greger ging weiter. Er stolperte über eine Kiste, die scheppernd umstürzte, und erschrak fürchterlich. Die schwingenden Körbe, die von der Decke hingen, berührten ihn pausenlos wie Finger, die nach ihm tasteten und ihn anstupsten. Noch einen Schritt, dann trat er gegen etwas Weiches. Es war schwer und ließ sich nicht zur Seite schieben. Greger hatte eine furchtbare Ahnung und kniete sich auf dem Boden. Er strich vorsichtig mit den Händen über den unbekannten Gegenstand und schrak zurück. Haare.
„Abraham?“, flüsterte Greger und beugte sich nach vorne auf die Unterarme. Sein Gesicht berührte den Bart des alten Mannes. Das leise Rascheln schien den Raum, ja die ganze Welt auszufüllen. Er konnte sonst nichts mehr wahrnehmen.
„Abraham“, flüsterte er noch einmal. Er strich dem Metallhändler über den Kopf. Greger sog erschrocken die Luft ein. Seine Hand war feucht. Warm und feucht. Es war Blut. Greger zitterte. „Oh Abraham, wer hat dir das nur angetan?“
Ein schwaches Beben ging durch Abrahams müden, alten Körper. „Greger?“, hauchte er kaum hörbar.
„Ja, ja, ich bin es, ich bin hier“, antwortete Greger. Abraham murmelte etwas, aber Greger konnte es nicht verstehen. Er presste sein Ohr ganz nah an Abrahams Lippen. Seine Stimme war kaum hörbar. Nicht mehr als ein leiser Wind, der zarte Wörter mit sich trug. Abrahams Atem ging rasselnd und unregelmäßig. Doch Greger verstand ihn jetzt.
„Greger ... Ich gehe heim. Tikvah. Oh, meine Liebe. Sie haben es nicht bekommen. Niemand soll es haben, der nicht würdig ist ... Prometheus eram ... Prometheus nunc in caelum est!“ Wie als würde eine tonnenschwere Last an seinem Arm hängen, stieg sein Finger nur schleppend langsam höher und höher. Dann verharrte er. Er zeigte in Richtung der Decke, zum Himmel hinauf. Sein Arm fiel herab. Er war tot.
Die Tür sprang auf und Menschen drangen ein. Der Mob spülte in Abrahams Laden wie brackiges Wasser und riss alles mit sich. Fackeln wurden geschwungen, Stimmen ergossen sich in den Tod. „Hier noch ein Judenhaus. Schriften. Reißt es herunter, ja alles aus dem Regal. Wer sucht, der findet!“
Einige Männer sprangen über Greger und den toten Abraham, als seien sie gar nicht da. Niemand schien zu erkennen, dass hier eben ein Mensch gestorben war. Greger war fassungslos. Er sprang auf und schrie: „Mord, Mörder, hört mich denn niemand?“ Einige der Männer hatten schon die Schriften aus Abrahams Werkstatt geholt, um sie auf die Straße zu werfen, da leuchtete einer Abraham mit der Fackel ins Gesicht.
„Der Bub hat recht. Hier liegt ein toter Judd’. Raus, damit wollen wir nichts zu schaffen haben. Los, nehmt die Bücher ruhig noch mit. Lesen kann er sie nun ohnehin nicht mehr!“ Die Männer drängten aus dem Laden und gegen den Strom kämpfte sich Jokoff Cramer zu Greger vor. Er hatte einem der Männer einfach die Fackel aus der Hand gerissen und erkannte sofort, dass Abraham nicht mehr lebte, als er zu ihm getreten war. Entsetzt fiel er auf die Knie und starrte den alten Mann an, dessen Kopf über und über mit Blut überzogen war und in einer roten Lache lag.
„Sie haben ihn ermordet, diese Hunde!“, rief er verzweifelt.
Dann betrat auch schon Stadtrat Jakob Heller in Begleitung dreier Büttel und eines weiteren Mannes das Haus. „Man hat einen Toten gefunden?“, fragte er durchdringend. Die Büttel traten sofort zu Greger und seinem Vater. Einer packte Greger am Arm und die beiden anderen zogen Jokoff auf die Beine, der noch immer vor Abrahams Leichnam kniete. Der fremde Mann trat hervor und hob die Fackel auf, die Jokoff dabei aus der Hand gefallen war. Er leuchtete ihm und Greger ins Gesicht.
„Herr Cramer?“, fragte Jakob Heller entsetzt. „Was habt Ihr damit zu schaffen?“
Jokoff war noch immer blass vor Schreck und wurde nur langsam gewahr, dass sich Greger und er in einer relativ unangenehmen Situation befanden, die schwer zu erklären war. „Ich habe damit nichts zu tun. Mein Sohn hat den alten Siebenthal gefunden. Als ich kam, war er schon da. Mein Gott, diese Mörder! Wir haben doch bloß immer Waren bei ihm gekauft. Nicht mehr!“, beteuerte er hilflos.
Ungerührt ging der fremde Mann an den Bütteln vorbei, die Vater und Sohn fest im Griff hatten, stieg über Abrahams Leichnam und leuchtete mit der Fackel in dessen Werkstatt hinein. Der rote Vorhang lag zerrissen am Boden. „Um Himmels willen, was ist denn das hier?“, klang die Stimme des Fremden aus der Werkstatt. „Das ist ja eine wahrhaftige Alchemistenküche!“ Man hörte das Geklapper von rollenden Tiegeln und angeschobenen Metallkesseln, dann tauchte die Fackel wieder im Durchgang von Abrahams Regal auf. Greger und Jokoff konnten nichts erkennen. Der Schein blendete und sie kniffen die Augen zusammen.
„Ich glaube, Ihr könnt die beiden getrost freilassen, Herr Heller. Zum einen scheint Ihnen der Ältere der beiden ja bekannt zu sein und zum anderen kann ich bestätigen, dass dieser junge Mann hier Waren bei dem Toten abgeholt hat.“ Dabei leuchtete der Fremde mit der Fackel auf Greger, dessen Gesicht kurz aus dem Dunkel auftauchte. „Der Vater des jungen Mannes scheint also die Wahrheit zu sagen, zudem sehen sie nicht aus, als würden sie zu dem Pfefferkorn’schen Gesindel gehören, dass hier in der Gasse tobt, oder gar die Mörder eines alten Mannes sein, bei dem – wie mir scheint – ohnehin nicht viel zu holen war.“
Sichtlich erleichtert wies Jakob Heller die Büttel an, von den beiden abzulassen. „Ich dachte schon, selbst ein Gildekaufmann hätte seine Finger in diesem Spiel.“
Der Fremde trat näher zu Heller. „Ich will Euch ungern widersprechen, aber es gibt sehr wohl Kaufleute der Gilde, die bei dieser unlauteren Bücherkonfiskation ihre Finger im Spiel haben, vor allem einer dürfte Euch gut bekannt sein. Nur war ebendieser schlau genug, hier nicht persönlich zu erscheinen.“
„Da mögt ihr recht haben“, musste Jakob Heller eingestehen, denn er wusste nur zu gut, wer gemeint war. Dann erteilte er nacheinander an seine Büttel Befehle. „Du gehst zum Bürgermeister und unterrichtest ihn über den Mord. Er mag herkommen. Du machst dich auf zum Schinder. Er soll den Toten abholen und zum Henker zur Untersuchung bringen.“ An den letzten Büttel gewandt sagte er, „Und du sputest dich und läufst zu Medicus Hoffner in die Allerheiligengasse. Er soll sich ebenfalls beim Henker einfinden. Ich will eine ordentliche Untersuchung der Leiche und zwar noch heute Nacht! Unsere jüdischen Bürger haben schon genug gelitten, dann sollen sie wenigstens ihre Toten schnell bestatten können, wie es ihr Ritus vorschreibt. Zum Rabbi gehe ich nachher persönlich. Nun aber voran, voran!“ Zügig verließen die Stadtbüttel Abrahams Laden und verschwanden auf der Judengasse.
„Nun, Herr Cramer“, richtete Jakob Heller das Wort an Jokoff, „trotzdem ich Euch gerne glauben will, dass Ihr nichts Schändliches verbrochen habt, seid Ihr mir dennoch eine Erklärung schuldig.“
Jokoff berichtete nun, wie die Hausners zu ihnen gekommen waren. Wie er, Greger und Bechthold Hausner, in Sorge um die Geschehnisse, und insbesondere um Abraham Siebenthal, der ihm als guter Lieferant am Herzen gelegen habe, in die Judengasse gelaufen waren. Jokoff schloss mit den Worten: „Und dann habe ich Greger in Bechthold Hausners Obhut zurückgelassen und bin mit der wütenden Menge bis hierher gelangt. Doch Greger war schon da und hat den toten Herrn Siebenthal gefunden.“
Alle Blicke richteten sich nun auf Greger, dem das sichtlich unangenehm war. Zögerlich hob er an: „Ich wollte nach Abraham Siebenthal sehen. Ich hatte Angst um ihn und in der Menge war kein Durchkommen. Also bin ich die Predigergasse nach Süden hinabgerannt, um schließlich vom Untertor der Judengasse hierher zu kommen. Doch er war schon tot, als ich ihn fand, und die Tür war aufgebrochen.“
Er machte eine Pause. Das Rufen und Lärmen von der Judengasse drang nur gedämpft durch die geschlossene Tür. Greger atmete hörbar angespannt, begleitet von dem Knistern der Fackel, die den Raum mittlerweile mit ihrem Rauch gefüllt hatte und die Luft langsam, aber stetig verdaute. „Ich habe ihn gesehen“, flüsterte Greger, als könne ihn der hören, von dem er sprach.
„Wen?“, wollte Jakob Heller wissen.
„Den Mörder.“
Jokoff Cramer packte seinen Sohn augenblicklich an den Armen und schüttelte ihn stärker als er es eigentlich beabsichtigt hatte. „Mein Gott, so rede doch. Wer war es? Wo hast du ihn gesehen?“
Der Fremde schob seinen Arm zwischen Vater und Sohn und drückte Jokoff Cramer sanft aber unbeirrbar von ihm fort. „Ich denke, Ihr Sohn hat genug Schlimmes erlebt heute Nacht. Lasst uns die Fragen stellen und haltet Euch ein wenig zurück, Herr Cramer.“
Jokoff ließ von Greger ab. Dennoch passte es ihm nicht, dass ihn ein Fremder daran hinderte, seinen eigenen Sohn etwas zu fragen. „Wer seid Ihr überhaupt und was wollt Ihr hier? Aus Frankfurt seid Ihr nicht, ich würde Euch kennen.“
„Mein Name“, hob der Fremde beherrscht an, „ist Wolf Besigheim. Und Ihr habt recht, denn aus Frankfurt komme ich tatsächlich nicht, aber ich stehe dem Rat der Stadt und seinen Interessen recht nahe. Das ist eine meiner Aufgaben und mehr müsst Ihr nicht wissen.“
Jakob Heller erläuterte: „Herr Besigheim ist von höchster Stelle zu uns gesandt worden, um dem Rat über die Umtriebe zu berichten. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir überhaupt vorbereitet waren und Schlimmeres verhindern konnten. Er hat uns auch bei Ausbruch der Unruhen sofort benachrichtigt.“
Wolf Besigheim beobachtete Jokoff Cramer genau. Er konnte nicht sagen, warum ihm dieser Mann seltsam vorkam. Seine Finger hatte er nicht in diesem Mord, das traute sich Wolf, allein aufgrund des ehrlichen Ausdrucks in Jokoffs Augen, beurteilen zu können. Aber genau diese Augen waren es auch, die ihn stutzig werden ließen. Er hatte schon in viele Gesichter gesehen. In verschlagene, in böse, in ehrliche, in treue und auch in verliebte. Diese wirkten gehetzt. Der Mann hatte Angst und er wusste mehr, als er zugeben wollte.
„Herr Cramer, warum geht Ihr nicht mit Stadtrat Heller auf die Gasse. Ich würde Euren Sohn gern noch einmal zu diesem Mann befragen, den er angeblich gesehen hat.“
Jokoff wollte aufbegehren, doch Wolf Besigheim hob bestimmend die Hand. „Unter vier Augen, Herr Cramer. Wäre Euch das Recht, Herr Heller?“
Wolf warf dem Stadtrat einen Blick zu. Der verstand. „Ja, natürlich“, beeilte er sich zu antworten und wandte sich an Jokoff. „Kommt, Herr Cramer, etwas frische Luft tut uns beiden gut.“
Widerwillig folgte Jokoff Cramer dem Stadtrat nach draußen. Hier hatten die Büttel begonnen, die Juden und Ihren Besitz zu schützen. Die Anhänger Pfefferkorns, ein Haufen aufgebrachter Dominikaner und einige Bürger Frankfurts, diskutierten mit den anwesenden Stadträten und dem Bürgermeister. Es war ein trauriges Bild, wie die Juden – Frauen und Männer jeden Alters, teils in Nachtbekleidung, und sogar deren Kinder – auf der Judengasse umherliefen, um zu retten, was noch zu retten war. Doch der Schaden war riesig, das war schon jetzt abzusehen. Denn die Juden galten allgemeinhin als Besitzer wertvoller Schriften aus aller Herren Länder. Viele dieser Schriften flatterten nun verkohlt im Wind. Buchdeckel waren zerrissen, herrliche, ledergebundene Folianten lagen zertrampelt auf der Gasse und handgezeichnete Farbillustrationen aus unbezahlbaren Unikaten wirbelten achtlos zwischen den Füßen der Menschen umher. Überall loderten noch die Feuer, genährt von Papier und Pergament. Scheiterhaufen aus dem Wissen und den Künsten der Menschen, in denen Reime und Geschichten genauso vernichtet worden waren wie Landkarten und religiöse Schriften. Außerdem verbrannten Hunderte von Schuldscheinen, Verträgen und Vermögensnachweisen. Die Flammen machten keine Unterschiede. Sie konnten genauso wenig lesen, wie viele, die ihnen die Bücher zum Fraß vorgeworfen hatten. Mit festem Schritt ging Jakob Heller auf den Bürgermeister zu, der, flankiert von einem Dutzend schwerbewaffneter Stadtsoldaten, mit Johannes Pfefferkorn in ein Streitgespräch verwickelt war.
„Die Juden sind die Leugner, sie sind die Plage und eine Beleidigung für Gott und seine heilige Kirche. Das war erst der Anfang. Alle Schriften werden von uns vernichtet werden, alle. Auch wenn Ihr noch so viele Soldaten zusammenzieht, die gerechte Sache wird wie ein Sturm über das Land und die Judengassen fegen. Sie wird die Lügen- und Schmähschriften vernichten, wie einst der Herr die Ägypter. Nur wird es ein Meer aus Feuer sein, das über diesen hier zusammenschlägt.“
Ein Speichelregen ergoss sich auf die Umstehenden. Johannes Pfefferkorns Gesicht war zu einer Fratze verzerrt. Der blanke Hass und der Wahn der vermeintlichen Wahrheit sprangen aus seinen Augen wie wilde Tiere.
Der Bürgermeister blieb ruhig. Es war an ihm nun wieder die Ruhe herzustellen und das möglichst ohne weitere Gewalt. „Herr Pfefferkorn. Ihr mögt derlei Reden und Taten in Köln, Bingen und anderen Städten versuchen, doch nicht in Frankfurt. Und auch anderorts – so ist mir zu Ohren gekommen – waren die Bürger nicht eben erfreut darüber.“
Doch Pfefferkorn ereiferte sich dadurch nur noch mehr und trat einen Schritt vor. Wild fuchtelte er mit den Händen umher, als habe er nicht genug Worte, um seiner Wut Ausdruck zu verleihen. „Der Kaiser steht hinter mir“, schrie er. „Seine Durchlaucht Kaiser Maximilian I. persönlich hat mir dieses Mandat erteilt und ich bin an seiner statt hier, um dies durchzusetzen.“
Nun reichte es auch Jakob Heller. Wutentbrannt ging er zu Pfefferkorn. „Habt Ihr nicht gehört, was der Herr Bürgermeister angeordnet hat?“ Hellers Stimme donnerte, dass selbst die anwesenden Mönche das Rufen und Getuschel einstellten. „Geht besser, Johannes Pfefferkorn, und nehmt diese Leute gleich mit. Dies ist die freie Reichsstadt Frankfurt und der Kaiser hat nicht zu bestimmen, was hier zu geschehen hat, und Ihr schon gar nicht. Was maßt Ihr Euch an? Verbreitet Eure Hetze meinetwegen im Wald, in der kaiserlichen Wildbahn, vielleicht hören Euch die Vöglein zu, doch hier in Frankfurt“, Heller stampfte wütend mit dem Fuß auf, dass sein schulterlanges Haar zitterte, „hier macht Ihr das, was Euch der Rat erlaubt und anweist. Und der Rat hat beschlossen, solche Dinge hier nicht länger zu dulden, also trollt Euch, bevor wir Euch festsetzen lassen!“
Johannes Pfefferkorn stand der Mund offen. Er war nicht gewohnt, dass man so mit ihm sprach. Der Bürgermeister nickte Jakob Heller dankbar zu, dann wies er die Büttel an, die Versammlung aufzulösen. „Geht, Pfefferkorn, das ist meine letzte Aufforderung.“
Die Augen des Demagogen waren vor Zorn geweitet und stierten den Bürgermeister hasserfüllt an. „Das hat ein Nachspiel. Das wird sich der Kaiser nicht gefallen lassen. Und diese Schriften gegen Gott sind unser. Wir nehmen sie mit, und wenn wir dafür sterben müssten.“ Pfefferkorn deutete auf einige Dominikaner, die Leinensäcke voller Bücher über den Schultern trugen und ihre Finger besessen hineinkrallten. Jakob Heller fuhr auf, doch der Bürgermeister machte ihm ein Zeichen sich ruhig zu verhalten.
„Nein, die bleiben hier. Doch behandelt die, die Ihr schon geraubt und fortgeschleppt habt pfleglich, denn auch ich gedenke, beim Kaiser Einspruch einzulegen. Vielleicht werdet Ihr sonst für einen noch höheren Schaden aufkommen müssen, als er ohnehin schon zu beklagen ist.“
Johannes Pfefferkorn stach durch die Büttel hindurch und stürmte an den Mitgliedern des Stadtrates achtlos vorbei. Die umstehenden Juden, die sich in Gegenwart der städtischen Büttel wieder etwas sicherer fühlten, überzogen ihn mit hebräischen Schimpfwörtern. Er verstand als jüdischer Konvertit nur zu gut, was sie ihm hinterherriefen, doch er würdigte sie keines Blickes. Jakob Heller sah Pfefferkorn nachdenklich hinterher. „Habent sua fata libelli“, murmelte er betrübt. „Ja, da sprecht Ihr ein wahres Wort“, sagte der Bürgermeister, der zu ihm getreten war, „Bücher haben ihr eigenes Schicksal.“
Nachdem Pfefferkorn aufgebrochen war, kam auch Bewegung in die Anhängerschar des Antisemiten und die Judengasse leerte sich langsam. Ein schlimmer Abend für die Juden Frankfurts und alle, die zu Ihnen standen, schien vorüber zu sein. Unter den Dominikanern war auch ein hagerer Mann mit kantigem Gesicht, der sich verstohlen umblickte. Thomas Ulrepforte suchte Jeckel Schmied, doch der war nirgendwo zu sehen. Noch immer nicht. Zufrieden fasste er sich an den Habit und spürte den Brief darin. Wenigstens den Schuldschein des Geldverleihers hatte er für Stoltzer aufgetrieben. Das waren blanke Gulden. Doch die als so tatkräftig angepriesene Hilfe dieses Jeckel Schmied, Stoltzers Mann, hatte auf sich warten lassen. Er war zuerst wie vereinbart zum Treffpunkt am Obertor erschienen, aber dann in Windeseile in der Menge untergetaucht und verschwunden. Das würde Schmied ihm erklären müssen.