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3. Die Anfänge der autonomen Moral. Auers „Christliches Weltethos“: eine Theologie für den Aufbruch der Laien in der Kirche
ОглавлениеAlfons Auer hat immer wieder am Bild des Christenmenschen in der „Welt von heute“ und an einem neuen dialogischen Kirchenbild gearbeitet. Das an der Schwelle des Konzils 1961 veröffentlichte Buch „Weltoffener Christ“ war begeistert aufgenommen worden und wurde in viele Sprachen übersetzt. Auer hatte sich auf diese Laien-Spiritualität, mit der er sich parallel mit dem französischen Theologen Yves Congar beschäftigte, durch seine Habilitationsschrift über das „Handbüchlein eines christlichen Streiters“ (also eines christlich engagierten Menschen) des Erasmus von Rotterdam vorbereitet.9 Die dort entworfene Systematik der christlichen Spiritualität bleibt faszinierend. In den Zeiten des Konzils wurde über das „Volk Gottes“ als Neuaufbruch in eine zeitgemäße Wanderschaft und über die Neubewertung der Aufgaben von Laien in der Kirche viel diskutiert.10 Auer, der den Spuren Franz Xaver Linsenmanns, über den er promoviert hatte, folgen wollte, suchte immer wieder nach einer Übereinkunft zwischen den christlichen Motiven, von denen ihn vor allem das Schöpfungsmotiv, die Inkarnation und die heilsgeschichtliche Vollendung bewegten, und den Möglichkeiten zeitgenössischer Vernunft. Die Frage nach den „Zeichen der Zeit“, die das Konzil in seiner von Johannes XXIII. verordneten Öffnung stellen wollte, hat ihn zusammen mit den Tübinger Theologen bewegt, die den Anschluss an die neuzeitliche Vernunft- und Freiheitsgeschichte gesucht hatten. Insbesondere im Werk seines Lehrers Theodor Steinbüchel (gest. 1950) war dies zum Ausdruck gekommen.11 Auer fand auch Anschluss an den Gebrauch des „Autonomie“-Begriffs bei Marie-Dominique Chenu, z.B. in seinen Schriften über die mittelalterlichen Theologen.12 Die französischen Vorlagen zur Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ des Konzils nahmen dies auf. Die Diskussion dieser Konstitution durch die Moraltheologen nach dem Konzil ergab, dass die Konstitution zwar die Eigenständigkeit weltlicher Wirklichkeiten und damit auch der diese Wirklichkeiten untersuchenden wissenschaftlichen Vernunft anerkannte, aber die Tür zur Autonomie des Ethischen nur halb öffnete.13 Dies war verständlich, insofern auch Auer noch 1994 das „Grunddogma des neuzeitlichen Modells einer autonomen Moral, dass Autonomie und Theonomie miteinander unverträglich“ seien, ablehnt. Von diesem Dogma hielt er mit seinen Kollegen Josef Fuchs und Franz Böckle, wie er an gleicher Stelle sagt, „überhaupt nichts“.14
Auers Kommentar-Beiträge zum Text der Konstitution in der dem Lexikon für Theologie und Kirche (2. Auflage) angeschlossenen Konzilsausgabe macht auf die verschiedenen dialogischen Schritte aufmerksam, die das Konzil gegangen war, um an bestimmten Stellen vorsichtig einzuhalten. Der Dialog als Weg der Wahrheitsfindung erschien ihm als ein unumkehrbares Programm. Auer war in einem Kommentar auf die Antrittsenzyklika Pauls VI. „Ecclesiam suam“ (1967), die auch als Dialog-Enzyklika bekannt wurde, eingegangen. Er versuchte, die vom Papst angestoßene theologische Begründung des Dialogs zwischen „der Wahrheit des Heils und der Wahrheit der Welt“ zu vertiefen. Auch darüber ist in der Folge immer wieder nachgedacht worden bis hin zu dem Gedanken einer „Fremdprophetie“, weil doch die Auslegung des Glaubens auch in der Fremde auf Heimat stoßen musste, wenn man den Schöpfungsglauben und die gesamtmenschliche Bedeutung der Inkarnation ernstnahm. Dies ist der Grundgedanke von Karl Rahners „anonymem Christentum“, der ja nicht auf Vereinnahmung Andersdenkender, sondern auf Offenheit für bisher fremde Heimaten gerichtet war. Insofern etablierten sich hier auch Vorläufer des interkulturellen Dialoges.
Der von Auer 1971 angestoßene Prozess eines neuen Nachdenkens über lehramtliche Zuständigkeiten findet sich interessanterweise auch zugleich in der damaligen römischen Doktorarbeit (1971) des Nachfolgers von Josef Ratzinger als Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Levada, der, nicht ohne im Vorwort auf Hans Küngs einschlägiges und anders argumentierendes Buch „Unfehlbar – eine Anfrage“ (1970) einzugehen, die Grenze der Unfehlbarkeit bei konkreten „naturrechtlichen“ Normen bekräftigte. Er begründete dies, ähnlich wie Auer, der diese Schrift nicht kannte, mit der Komplexität und der Geschichtlichkeit in der Erfassung solcher konkreter Normen.
Alfons Auer sprach stets vorsichtig von der „Findung sittlicher Weisungen“ im Bereich eines „Weltethos“ der Christen. Unter „Weltethos“ verstand Auer nicht wie später Hans Küng ein „globales“ Ethos, sondern ein „mundiales“, d.h. ein den irdischen Wirklichkeiten als solche und ihrer sachgemäßen Interpretation zugewandtes Ethos. Dieses Ethos sollte insbesondere den Laienchristinnen und -christen aus einem eigenständigen Lernprozess in der Tätigkeit an eben diesen Wirklichkeiten erwachsen. Der „weltoffene Christ“ traut auch der „Welt“, nicht nur der Religion, Einiges zu, auch wenn sie für ihn nicht einfach Richtschnur des Handelns ist. Nicht die Deduktion der Normen aus festgefügten, bereits eingefrorenen Traditionen, die der Beweglichkeit einer lebendigen Überlieferung nicht mehr entsprachen, sondern die Induktion, die von bewährter Erfahrung, geschichtlicher Bewegung und (human)wissenschaftlicher Einsicht gespeist wurde, waren sein Weg. Freilich bedurfte es dazu der Zusammenführung solcher Einsichten aus einem gläubigen Vorverständnis und auf einem philosophischen Reflexionsniveau, das er seiner „anthropologischen Integrierung“ (der Zusammenführung der Teilaspekte der auf den Menschen bezogenen Wirklichkeitsanalyse) vor der „ethischen Normierung“ abverlangte. Gegen die unreflektierten normativen Kräfte des Faktischen und des bloß fiktiven Fortschrittes hat sich Auer mehrfach gewendet. Die „Zeichen der Zeit“ des Konzils sind nicht als Diktat des „Zeitgeistes“ zu verstehen. Aber es ist auch nicht außer Acht zu lassen, dass viele Spuren des „Zeitgeistes von gestern“ sich in die Strukturen der Kirche eingeprägt haben.
Interdisziplinäre Arbeit hat Alfons Auer in den speziellen Bereichen der Moraltheologie gern geleistet und sich mit Umweltethik, Medienethik, Bildungsethik, Medizinischer Ethik oder mit Politischer Ethik beschäftigt. Stets ging er von der Sachlage und ihrer vortheologischwissenschaftlichen Bearbeitung aus. Oft wurde er zu zusammenfassenden Schlussreferaten bei den zweijährigen Kongressen der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Moraltheologen und Sozialethiker gebeten. Seine dabei demonstrierte, integrierende und zugleich selbstironische Souveränität und sein gläubiger Optimismus blieben im Gedächtnis. Er behauptete ihn in hartnäckiger Widerstandshaltung zu den Kontrasterfahrungen mit den Realitäten in Kirche und Gesellschaft. Immer geht es ihm um ein „Mehr“ an Vernunft, Freiheit und Solidarität, um einen Fortschritt. Darin folgte er dem von ihm verehrten französischen Theologen und Paläontologen Teilhard de Chardin, der am prophetischen Hintergrund der Aufbruchsstimmung des 2. Vatikanischen Konzils mitwirkte und dessen Bild in seinem Dienstzimmer hing.