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Einleitung

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Der Titel dieses Buches „Autonome Moral und christlicher Glaube“ will die beiden zentralen Probleme heutiger moraltheologischer Diskussion in sich selbst und in ihrer Interdependenz ansprechen.

Das erste Problem ist das des Sittlichen überhaupt. Tradierte sittliche Normen werden heute ohne Zögern beiseite geschoben, wenn sie nicht überzeugend begründet werden können. Überzeugen aber kann eine Begründung nur, wenn sie sich auf rationale Argumente stützt. Auch Autoritäten haben keine anderen Mittel, sofern es ihnen wirklich um Überzeugung zu tun ist; und anderes steht im Bereich des Sittlichen, im Unterschied etwa zu den das Strafrecht bestimmenden Sachzwängen, nicht an. Wie bei der Begründung tradierter Normen, so ist es auch bei der Auffindung sittlicher Orientierungshilfen in jenen Bereichen menschlichen Zusammenlebens, die im Zuge der fortschreitenden technischen Selbstmanipulation des Menschen ganz neue, ethisch noch nicht oder nicht ausdrücklich reflektierte Fragen aufwerfen. Jede Diskussion, in der inhaltlich konkretisierte sittliche Forderungen behauptet oder bestritten werden, führt über kurz oder lang mit Sicherheit in den Engpaß der Begründungsproblematik. Jedermann kennt die Schwierigkeiten, sich auch nur über ein in unserer Gesellschaft pädagogisch zu urgierendes ethisches Minimum zu vereinbaren. Kann man im Blick auf die beginnende Neuzeit noch von einer „Emanzipation des Ethischen“ von der religiösen Tradition sprechen, so muß sich bei der heutigen Krise der Eindruck der „Emanzipation vom Ethischen“1 überhaupt einstellen. Wer sich in der Geschichte auskennt, macht sich über die Bedrohlichkeit einer solchen Entwicklung, falls die Diagnose stimmt, keine Illusionen. Auf der anderen Seite halten neuerdings sogar Soziologen Ausschau nach sittlichen Verhaltensmustern, weil sie feststellen, daß der völlige Verzicht auf normative Institutionalisierung der anthropologischen Dringlichkeiten den Menschen schlechthin überfordert. Was ist in dieser Situation zu tun?

Wenn das Sittliche mit der Entfaltung menschlicher Freiheit und Würde zu tun hat, muß es kommunikabel sein. Es ist tatsächlich kommunikabel, weil es in der menschlichen Vernunft begründet ist. Aus eben diesem Grunde muß die Reflexion über ethische Fragen autonom ansetzen, sie muß Vorstellungen entwickeln, die von bestimmten Glaubenshorizonten unabhängig sind und doch ein sinnvolles und fruchtbares Zusammenleben der Menschen gewährleisten (1. Kapitel). Die Autonomie des Sittlichen ist auch für den Theologen nicht nur ein möglicher, sondern, zumindest in der heutigen Gesellschaft, der einzig sinnvolle Ansatz. Der Theologe begibt sich sonst a priori der Möglichkeit einer Kommunikation mit denen, an die sich die christliche Botschaft wendet und an die er sie doch vermitteln soll.2

Das zweite Problem gegenwärtiger moraltheologischer Reflexion hängt mit dem ersten unmittelbar zusammen. Wenn das Sittliche autonom ist, was kann dann der christliche Glaube zur sittlichen Verwirklichung menschlicher Existenz beitragen, und welche Aufgabe kommt in diesem Zusammenhang den Vermittlern und Interpreten der christlichen Botschaft zu? Die Untersuchung wendet sich, um diese schwierigen Fragen bedenken zu können, zunächst der Heiligen Schrift (2. Kapitel) und in einem kurzen Exkurs der geschichtlichen Entwicklung der Moraltheologie zu. Das 2. Kapitel über „Weltethos in der Heiligen Schrift“ mag manchem Leser allzu breit angelegt sein, zumal es vom Standpunkt der Exegese und der biblischen Theologie her nichts Neues zu bieten hat. Aber das Problem, das in diesem Kapitel an die Heilige Schrift herangetragen wird, scheint die Exegeten nicht in gleicher Weise zu bedrängen wie die Moraltheologen. Die vorliegende Untersuchung kann darum keinesfalls darauf verzichten, aus dem Alten und Neuen Testament und wenigstens andeutungsweise auch aus der Geschichte der Moraltheologie einige wesentliche Modelle religiöser bzw. theologischer Integrierung autonomer Moral zu erheben und damit jenes Fundament bereitzustellen, auf dem sie zu einer Bewertung heutiger kirchlicher Praxis und heutiger moraltheologischer Reflexion ansetzen kann. Nur wenn aus der geschichtlichen Entwicklung, vor allem aus ihren theologisch privilegierten Anfängen, verbindliche Richtbilder sichtbar gemacht und mit einer gewissen Ausführlichkeit demonstriert werden, kann das christliche Proprium sittlichen Existenzvollzugs und die kirchliche bzw. theologische Ermächtigung bei der Findung weltethischer Weisungen genauer bestimmt werden (3. Kapitel).

Vor gut zwei Jahren hat der Verfasser in der Tübinger „Theologischen Quartalschrift“3 einen Beitrag „Nach dem Erscheinen der Enzyklika ‚Humanae vitae‘ – Zehn Thesen über die Findung sittlicher Weisungen“ veröffentlicht. Die Absicht, diese Thesen ausführlicher zu entfalten und sorgfältiger zu begründen, löst er mit der hier vorgelegten Untersuchung ein. Daß sich die Veröffentlichung so lange verzögerte, lag an den üblichen Belastungen, denen der Hochschullehrer heute ausgesetzt ist. Die Verzögerung hat allerdings den Vorteil, daß nunmehr eine Reihe inzwischen erschienener wichtiger Arbeiten mit berücksichtigt werden kann. Der Bericht über die gegenwärtige Diskussion unter den Moraltheologen soll die verschiedenen Positionen im einzelnen vorstellen, auch wenn dies den Anmerkungsteil beträchtlich anschwellen läßt. Doch geht es nicht nur um einen Bericht, sondern um die Darlegung und Begründung einer eigenen dezidierten Stellungnahme des Verfassers.4 Diese Stellungnahme zielt keineswegs auf Kritik um der Kritik willen, sondern auf jene Differenzierung des Denkens und des Sprechens, zu der Kirche und Theologie durch die geistige und sittliche Entwicklung der Neuzeit aufgefordert sind.

Wenn die Untersuchung sich im wesentlichen auf die katholische Auffassung bezieht, hängt das damit zusammen, daß sich für Lehramt und Theologie der katholischen Kirche die Frage ungleich schärfer stellt als für den evangelischen Bereich, was gewiß nicht heißt, daß das Problem dort nicht besteht.

1 G. Ebeltng, Die Evidenz des Ethischen und die Theologie 325.

2 Um es vorweg deutlich zu sagen: hier steht nicht das „Heilsethos“, sondern das „Weltethos“ zur Debatte. Es geht also um weltethische Orientierung, nicht um die „Unmittelbarkeit zu Gott“. Was die „Unmittelbarkeit zu Gott“ betrifft, sind wir auf die Orientierungshilfen der Heiligen Schrift angewiesen. Die Unterscheidung zwischen „Weltethos“ und „Heilsethos“ ist gewiß mit mandien Problemen behaftet. Doch sollte man dem, der sie trotzdem für sinnvoll hält, nicht allzu rasch und unbesehen vorwerfen, er verkenne die „Reziprozität“ zwischen der Unmittelbarkeit zu Gott und der Zuwendung zur Welt.

3 149 (1969) 75–85.

4 J. Meßner, Ehemoral und Entscheidungsethik, in: Hochland 62 (1970) 1–19, hier 6–7, stellt einen Wandel in der Auffassung des Verfassers fest. Tatsächlich plädierte dieser zunächst für eine „Theologisierung“ der Moral. Inzwischen ist er zu der Überzeugung gekommen, daß die Moraltheologie den autonomen Denkansatz aufgreifen muß – nicht nur, weil ihr die moderne autonome Profanität als Ort ihrer Reflexion zugewiesen ist, sondern weil ihr nur an diesem Ort Richtigkeit und Bedeutsamkeit dieses Denkansatzes erkennbar werden.

Autonome Moral und christlicher Glaube

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