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5. Die theologische Perspektive der autonomen Ethik38
ОглавлениеDer Weg über eine philosophische Anthropologie aus dem Sinnvertrauen bei Auer zu einer „operablen“, dabei skeptischen bzw. negativen Anthropologie scheint weit. Aber wir müssen davon ausgehen, dass der Auersche Optimismus in der ethisch grundlegenden Anthropologie nicht sein letztes Wort ist. Denn die theologische Ethik knüpft ja gerade an den skeptischen Erfahrungen an. Sie macht sie jedoch weniger auf der Ebene der Beweisgründe für das ethisch Gute und Richtige geltend, als auf der Ebene der Beweggründe. Auf dieser Ebene geht die philosophische in die theologische Anthropologie über. Die Distinktionen können gewahrt bleiben: die skeptische Anthropologie der Philosophie entfaltet die Fragen. Wenn diese jedoch zum handelnden Menschen zurückkehren, verliert dieser an Spontaneität. Die negativen Anthropologien eines Foucault oder, mutatis mutandis, eines Adorno sind kontemplativ. Zur Ethik scheint hingegen eine Betrachtung des handelnden Menschen zu gehören, die mit dem wahren Bewusstsein im falschen rechnet. Ethik ist nur unter Suspension der letzten Skepsis, des letzten Zweifels, aber auch der letzten Hoffnung möglich. Insofern holt Ethik den Menschen, um den es ihr geht, nicht ein. „Was darf ich hoffen“ ist doch die tiefere Frage, die der Philosoph Kant formuliert hat, im Gegenüber zur ethischen Frage, die er als „Was soll ich tun?“ formulierte. Der im tiefsten kontemplativen Schauen betrachtete Mensch ist nicht „ethisch“ zu erfassen, es sei denn, unter der Perspektive der Endlichkeit, Fehlerfähigkeit, der Schuld und der Sünde. Insofern holt der Glaube den Menschen bei der Ethik ab und lässt diese in der Frage nach Rechtfertigung und Erlösung hinter sich zurück. Dieses kontemplative Zurücklassen schließt eine aktive ethische Rückkehr aus der Superabundanz der theologischen Kontemplation (Thomas von Aquin: „ex superabundantia contemplationis“) nicht aus, sondern ein. Insofern ist das theologische Verlassen der Ethik zugleich eine neue Sensibilisierung für Ethik. Die Kontrasterfahrung, die Empörung, der Entdeckungszusammenhang der moralischen Erkenntnis, der das „so geht es nicht weiter“ enthält – das alles wird in gläubiger Skepsis und in gläubiger Hoffnung zugespitzt und verstärkt. Ebenso befreit der Glaube zu einem Sinn von Moral, die diese selbst nicht garantiert, weil sie scheitert. Moral ist, indem sie einerseits als letzter Sinn bestritten und entlarvt wird, gleichsam auf der vom religiösen Sinn abgeleiteten Ebene eine Freigelassene der Religion, die sie nicht in ihren Rechten außer Kraft setzen darf, die sie stützen und schützen muss: stimulieren, kritisieren, integrieren, wie Auer dies in seiner Merkformel zum Ausdruck gebracht hat.
Es ist Aufgabe einer wahrhaft theologischen Ethik nach Alfons Auer, die kontemplativen Kräfte der Philosophie und der Theologie unter theologischer, d.h. offenbarungsgläubiger Prämisse zusammenzuführen. An dieser Stelle erweist sich die Theologie bei aller Teilhabe an der Ethik-Kritik dennoch nicht als Hemmnis der Ethik, sondern sie entfaltet sich als ihr Stimulans und ihr tieferes Verstehen: sie gibt und sie nimmt nicht.39 Auers tiefe Kirchlichkeit enthält dieses Vertrauen und ist doch voll kämpferischer Skepsis, ob die Strukturen der Kirche dieser Aufgabe heute gewachsen sind, ob die Ethik tatsächlich so freigelassen wird, dass sie, gleichsam kirchlich zurückgewendet, auch der Kirche sagen darf, wo sie falsch liegt, so wie die Kirche in offener Weltzugewandtheit auch das Recht der kritischen Einspruchs wahrnimmt und wahrnehmen soll. Das christliche Menschenbild ist gleichsam das Brückenprinzip der wechselseitigen Kritik: der moralischen Kritik an der Strukturverhärtung der Kirche und der gläubigen Kritik an der Gewalt der Ethik, die sich als Zwang, als Waffe, als Letztinstanz selbst verfehlt, weil sie sich nicht in einem den Menschen befreienden und erlösenden Sinnhorizont verankert.
Zur theologischen Perspektive Alfons Auers gehört in Abwehr eines „Heilsmonismus“ oder „Christomonismus“, wie er es nannte, die Eigenständigkeit einer Schöpfungstheologie, deren Entsprechung zur Vernunft als ethisch entscheidende Grundfähigkeit des Menschen im Sinne des thomanischen „Secundum rationem agere“ geprüft und aufrechterhalten werden sollte. Der Vernunft fiel deshalb bei aller Einschränkung durch geschöpfliche Endlichkeit, durch Fehlerfähigkeit und durch das Zurückbleiben des Menschen beim eigenen Versuch, sein moralisches Versagen aufzuholen, die Aufgabe der Begründung zu, auch wenn die Motive zur Begründung durchaus auch aus dem Reichtum der Heilsoffenbarung schöpfen konnten.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Auers konkrete Ethik neben medizinischen Bereichen, in welchen es ja auch um Schöpfung und Leben gehen kann, exemplarisch in der Unweltethik (1985) entfaltet ist. Als konkreter Ethiker hat Alfons Auer einen weiten Kreis von Problemen in seine Untersuchungen eingeschlossen. Sein Dreischritt von der Fachlichkeit über die „anthropologische Integrierung“ zur ethischen Normierung ist dabei stets ausweisbar. Außerdem beherrschte er eine Kunst der Abwägung, die ihn oft weit über eingefahrene Frontbildungen hinausführte. Eine genaue Untersuchung seiner konkreten Beiträge zu ethischen Einzelfragen steht noch aus.
Man muss dabei dem Missverständnis wehren, als habe Alfons Auer die konkrete „ethische Normierung“ aus der ihr vorausgehenden „anthropologischen Integrierung“ ablesen wollen. Dies wäre in der Tat, wie Christian Illies in seiner „Philosophischen Anthropologie im biologischen Zeitalter“ darlegt, problematisch.40 Man folge besser nicht „dem Vorschlag […], die Moral auf die Anthropologie zu gründen“. Aber Illies sagt auch unter Berufung auf Kant: „Die Frage nach dem, was wir tun wollen, geht über die Frage nach dem Menschen, der wir sein wollen […].“41 Im theologischen Kontext ist diese Verbindung von Sollen und Wollen, also die Frage nach dem „Selbstbild“ und Lebensziel besonders virulent. Die ethische Begründung, sofern sie in dieser Hinsicht praktisch werden soll, kann dies nicht ohne Gespräch mit der Anthropologie werden.