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Die alte Schachtel


Tante Änne schleppte sich mühsam die Treppe hinauf. Auf jedem Absatz machte sie halt und rang erst einmal nach Luft. Dann hatte sie es schließlich in den dritten Stock geschafft, wo die Familie ihres jüngsten Neffen wohnte. Die Tür stand einen Spalt offen. Jemand hatte vergessen, sie hinter sich zuzuma-chen. Wahrscheinlich die Kinder. Ein mildes Lächeln ging über Tante Ännes faltiges Gesicht. Vorsichtig trat sie in die Wohnung ein. Ihre Krampfadern machten ihr wieder ziemlich zu schaffen. Ein paar Schritte ging sie den Flur entlang, dann hörte sie Stimmen aus dem Wohnzimmer. Eigentlich hatte sie jetzt lauthals auf sich aufmerksam machen wollen, so wie es sonst stets ihre Art gewesen war, aber der Treppenaufstieg hatte sie sehr angestrengt und so mußte sie erst erneut nach Luft schnappen und tief durchatmen. Doch als sie das getan hatte, verschlug es ihr buchstäblich die Sprache.

"Meinst du nicht, daß Tante Änne..." Die Stimme ihres Neffen wurde abrupt von der seiner Frau unterbrochen.

"Ach, Dieter!" sagte diese verächtlich. "Diese alte Schachtel..." - "Na, erlaube mal!" - "Ja, schau sie dir doch an! In den letzten dreißig Jahren ist sie nicht gerade schöner geworden! Also, wenn du mich fragst: Ich könnte gut auf sie verzichten..." Dieter seufzte und unternahm dann einen erneuten Anlauf. "Aber Tante Änne..." - "Nein, Dieter, wir können uns so nicht sehenlassen!" Tante Änne schluckte.

Eine alte Schachtel! Das dachten sie also über sie. Und dabei hatte sie immer nur das Beste für Dieter und seine Familie gewollt und ihm auch finanziell unter die Arme gegrif-fen. Und das ist nun der Dank! ging es ihr bitter durch den Kopf, während ihre Augen feucht wurden. Selbst ihre Erspar-nisse hätte Dieter nach ihrem Tod geerbt, das hatte sie te-stamentarisch festgelegt. Sie selbst hatte nie Kinder gehabt und so war ihr Neffe Dieter von Anfang an so eine Art Kindes-ersatz für sie gewesen. Kein Geburtstagsgeschenk konnte groß genug für ihn sein und als er geheiratet hatte, hatte sie dem jungen Paar die Wohnzimmereinrichtung spendiert.

Einen Moment lang stand sie da wie betäubt.

Es ist Carola! durchzuckte es sie dann siedend heiß und mit auflodernder Wut. Tante Änne war von Anfang an skeptisch gewesen, ob Carola für ihren Dieter die Richtige war. Aber zunächst hatte es den Anschein gehabt, als wären die Zweifel der Tante unbegründet gewesen. Carola schien wider Erwarten eine liebenswerte Person zu sein - doch nun stellte sich alles als nichts weiter als eine Maske heraus. Eine gute Schauspielerin ist sie ja gewesen! mußte Tante Änne zugeben.

Tante Änne wandte sich zum wütend zum Gehen und stieß dabei gegen eine Vase, die krachend zu Boden ging und in tausend Scherben zersprang. Die Wohnzimmertür ging indessen auf.

"Tante Änne!" war Dieters erstaunte Stimme zu hören. "Du bist hier?" Tante Änne wandte sich zu ihrem verdutzten Neffen herum, der zusammen mit seiner Frau in den Flur getreten war.

"Wie du siehst!" - "Warum hast du nichts gesagt?"

"Ich habe durch Zufall euer Gespräch mitbekommen.

Eigentlich ist es ja nicht meine Art, zu lauschen, aber es ließ sich nicht vermeiden, daß ich ein paar Dinge mitbekommen habe, die wohl nicht für meine Ohren bestimmt waren!"

"Oh", machte Carola und wurde ein wenig rot. Von Tante Änne erntete die junge Frau dafür nur einen abschätzigen Blick.

"Jetzt weiß ich also, wie ihr über mich denkt! Ich bin vielleicht eine alte Schachtel, aber ich lasse mich nicht so ohne weiteres ausnutzen!" Und damit ging sie davon. In der Wohnungstür drehte sie sich noch einmal herum. "Mein Testa-ment werde ich wohl auch ändern!" setzte sie dann noch hinzu.

"Tante Änne!" begann Dieter, aber seine Tante ließ ihm keine Chance. Irgendwelche faulen Ausreden wollte sie sich jetzt nicht auftischen lassen! - "Es gibt nichts mehr zu sagen!" rief sie und wandte sich um.

Tante Änne war kaum zu Hause angekommen , da läutete das Telefon. Das wird Dieter sein! ging es ihr durch den Kopf. Einen Augenblick lang war sie versucht abzunehmen, blieb dann aber doch standhaft. Nein, so einfach würde sie es ihm nicht machen. Wenn er sie erst an den Hörer bekam, würde seine sanfte, sympathisch klingende Stimme sie über kurz oder lang einwickeln. Wie er das zu machen hatte, hatte er schon ge-wußt, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Diesmal aber nicht! sagte sie sich. Die Verletzung war einfach zu tief.

Eine alte Schachtel! Wie ein Messer waren diese Worte in ihre Seele gefahren. Den ganzen restlichen Tag über nahm sie das Telefon nicht ab, obwohl es immer wieder klingelte und sie sich ziemlich sicher war, daß Dieter versuchte, sie zu er-reichen. Ja, jetzt tut es ihnen leid! dachte Tante Änne grim-mig. Jetzt, da sie erfahren haben, daß ich sie in meinem Testament bedacht habe! Aber sie werden keinen Pfennig bekommen! Gleich am folgenden Tag ging sie zu dem Notar, bei dem sie ihren letzten Willen hinterlegt hatte und vermachte ihr Erspartes der örtlichen Kirchengemeinde. Als sie nach Hause zurückkehrte, sah sie Dieter mit einem Blumenstrauß vor der Tür stehen. Tante Änne verbarg sich hinter einer Ecke und wartete, bis er das Klingeln aufgegeben hatte, wieder in sei-nen Wagen stieg und davonfuhr. Auch in den nächsten Tagen nahm sie den Telefonhörer nicht ab. Schließlich klingelte der Apparat nicht mehr, aber das steigerte ihre Verbitterung nur nur noch. Schließlich war sie fast soweit, selbst zum Hörer zu greifen und zu sagen, daß sie alles nicht so gemeint hät-te. Sollten sie in ihr ruhig eine alte Schachtel sehen, das war immer noch besser, als völlig abgeschrieben zu sein!

Plötzlich läutete es an der Tür. Es war der Paketbote.

Tante Änne sah auf den Absender. Es war Dieter mit seiner Familie. Hastig öffnete sie das Paket und starrte bewegt auf den Inhalt. Ein Brief lag dabei. Sie nahm ihn, hielt ihn ins Licht und las: Liebe Tante Änne! Wir wissen nicht, weshalb du am Samstag so überstürzt und im Zorn davongegangen bist und jeden Kontakt abgebrochen hast. So mußten wir dir dein Geburtstagsgeschenk mit der Post zusenden. Es ist eine alte, inzwischen sehr wertvolle Hutschachtel, die ich auf einem Trödelmarkt erworben habe. Carola war zwar erst skeptisch, ob das wirklich ein angemessenes Geschenk für dich sein könnte, aber als ich ihr davon erzählte, daß du diese Schachteln sammelst, hat sie zugestimmt. Alles Liebe - Dieter, Carola und die Kinder.

Tante Änne hatte kaum zu Ende gelesen, da ging ihr Griff zum Telefon.

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