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Der Schlüssel

Alfred Bekker


Es war mitten in der Nacht, als der kleine Junge aufwachte.

Wenn es hell war, konnte er von seinem Bett aus durch die halboffene Tür in den Flur sehen.Aber jetzt sah er zunächst nichts als ein Meer aus dunklen Schatten.

Eine ganze Weile lang lag er einfach nur still da und wartete darauf, daß er wieder einschlief. Aber er schlief nicht ein. Sein Blick ging in der Dunkelheit umher und dann glaubte er plötzlich, eine Bewegung zu sehen. Er hatte das Gefühl als ob eine kalte Hand sich auf seine Schultern legte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals...

Es war im Flur und sah aus wie der Schatten einer übergroßen Spinne, die langsam die Wand emporkroch.

Vielleicht träume ich nur! dachte der Junge einen Moment lang, während er sich die Bettdecke bis zur Nasenspitze hochzog und einen Moment lang die Augen schloß. Aber als er den kalten Luftzug an seinen nackten Füßen spürte, war ihm klar, daß er nicht träumte. Er wagte einen zweiten Blick zu dem spinnenartigen Ding an der Wand...

Es war noch immer da und bewegte sich langsam empor.

Seltsame Schatten waberten zu beiden Seiten. Der Junge schrie so laut er konnte.

Dann tauchte plötzlich etwas weißes aus der Dunkelheit heraus auf. Eine Gestalt in einem fließendem Gewand, die näherkam und sich schließlich über ihn beugte.

"Was ist denn los?"

Es war seine Mutter. Er erkannte ihre Stimme und jetzt auch ihr Gesicht. Der Junge faßte ihre Hand und deutete zur Tür, hinaus auf den Flur.

"Dort! Mama, siehst du nicht die Spinne?"

Die Mutter schaute in dieselbe Richtung und schüttelte den Kopf. "Nein. Du hast bestimmt geträumt!"

"Ich habe nicht geträumt!"

"Es gibt Träume, die so wirklich zu sein scheinen, daß man hinterher im ersten Moment gar nicht weiß, was tatsächlich geschehen ist!"

"Mama..."

"Am besten, du legst dich wieder hin und schläfst..."

"Da... Da ist es! An der Wand! Es kommt die Tapete hoch!"

Sie runzelte die Stirn. "Dort, im Flur?"

"Ja!"

"Das sind nur Schatten!"

"Es ist ein Tier!"

Die Mutter sah ihn an. "Laß uns in den Flur gehen und nachschauen!" Sie nahm ihn bei der Hand, die er fest umklammert hielt.

"Gut", sagte er schließlich.

Zögernd folgte er ihr in den Flur. "Dort!" flüsterte er.

Es war noch größer, als er gedacht hatte! Ein spinnenartiges Wesen, so groß wie ein Fußball! Ihn fröstelte.

"Ich mache Licht!" hörte er die Stimme seiner Mutter.

Sie ließ ihn einen Moment lang los und er stand ganz allein dem spinnenartigen Etwas gegenüber. Ein Schauder ging ihm über den Rücken. Er fühlte den kalten Steinfußboden unter seinen nackten Füßen und rührte sich nicht.

Dann ging das Licht an.

Die Schatten waren verschwunden und das spinnenartige Ding verwandelte sich in etwas anderes, Vertrautes.

Der Junge sah einen großen, hölzernen Schlüssel, der mit Filz überzogen war. An diesem befanden sich kleine Häkchen, an denen mindestens ein Dutzend kleine Schlüssel aufgehängt waren. Einige erkannte der Junge wieder. Den fürs Auto zum Beispiel oder den für den Dachboden, der durch seinen gezackten Bart auffiel.

"Ich glaube, ich kann jetzt wieder schlafen", sagte der Junge schließlich.

Als er wenig später wieder im Bett lag und die Mutter das Licht im Flur gelöscht hatte, verwandelte sich der große Schlüssel mit den vielen kleinen Schlüsseln erneut in das spinnenartige Etwas, das es zuvor gewesen war.

Aber der Junge lächelte.

"Gute Nacht", hörte er seine Mutter sagen.

"Gute Nacht", sagte er.

Er hatte keine Angst mehr.

Heiter und unterhaltsam in die Weihnachtszeit: 2 Romane und 66 Kurzgeschichten

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