Читать книгу Heiter und unterhaltsam in die Weihnachtszeit: 2 Romane und 66 Kurzgeschichten - Alfred Bekker - Страница 13
ОглавлениеDas Leben des Lazarus
Alfred Bekker
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(Erzählung nach einer zypriotischen Legende /6708 Zeichen)
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Im vierten Jahrhundert residierte in Larnaka auf Zypern ein Bischoff namens Lazarus. Er war ein hagerer, nachdenklich wirkender Mann mit grauen Haaren und ebenso grauen Augen, dessen Alter unmöglich zu bestimmen war. Seine Villa, im römischen Atrium-Stil errichtet, gehörte zu den prächtigsten der Stadt, doch er lebte sehr zurückgezogen. Niemand wußte genaueres über ihn, weder über sein Alter, noch über seine Herkunft oder seine Vergangenheit. Die Menschen begeg-neten ihm mit einer Mischung aus Respekt und Scheu. Die Scheu kam durch das Geheimnisvolle, daß Lazarus zu umgeben schien, der Respekt durch sein Amt und die Art und Weise, wie er es ausfüllte. Aber Lazarus blieb ein kühl wirkender, unnahbarer Mann. Seit Menschengedenken hatte er nicht ein einziges Mal ge-lächelt. Zumindest hatte ihn niemand dabei gesehen. Ein obskurer Wunderheiler, den er einmal seiner Gelenkschmerzen wegen konsultiert hatte, hatte später behauptet, daß ein Fluch über dem Bischoff liege. Ein Fluch, der erst von ihm genommen würde, wenn er wieder lächeln könnte. Seit der Kaiser den christli-chen Bischöffen auch die Gerichtsbarkeit übertragen hatte, hatte Lazarus sich auch als Richter einen guten Ruf erworben.
Einmal wurde ihm in dieser Eigenschaft ein zwölfjähriges, verdrecktes und in Lumpen gewandetes Mädchen vorgeführt, das beschuldigt wurde, einen Gemüsehändler bestohlen zu haben. Aber Lazarus sprach das Mädchen frei, da es für seine Schuld keinerlei Beweise gab. Der Gemüsehändler war außer sich.
"Schon zum dritten Mal hat sie mich bestohlen!" rief er. "Ich habe mir dieses schmuddelige Gesicht gemerkt!" Und dann spuckte er verächtlich aus. "Der Kaiser war nicht gut beraten, euch Christen zu Richtern zu machen! Kaum jeder dritte Bürger in unserer Stadt bekennt sich zu eurem Glauben, aber das Recht sollte für alle da sein!" - "So ist es", bestätigte Lazarus ruhig.
"Wenn hier noch römisches Recht gesprochen würde, dann hätte das Urteil heute anders ausgesehen und der Schmutzfink dort drüben wäre verurteilt und hart bestraft worden!" behauptete der Gemüsehändler. Lazarus schüttelte den Kopf. "Du irrst dich!" erklärte er. "Das Mädchen ist nicht verurteilt worden, weil hier noch immer römisches Recht gesprochen wird!" - "Pah!" machte der Gemüsehändler und zog wütend davon. Das Mädchen, das abwartend in einer Ecke gekauert hatte, wollte auch gehen, aber Lazarus bedeutete ihm mit einem Zeichen, zu bleiben. Als niemand mehr im Raum war, fragte der Bischoff: "Warum hast du den Gemüsehändler bestohlen?" - "Ich...", wollte das Mädchen beginnen, brach dann aber ab, als es in die eisgrauen Augen ihres Gegenübers blickte, die alles zu wissen schienen. Dann sagte es: "Weil ich Hunger hatte."
Der Bischoff nickte. "Hast du keine Eltern?" - "Sie sind an der Pestilenz gestorben. Seitdem lebe ich auf der Straße. Von dem, was ich erbetteln oder stehlen kann." Sie blickte ihn selbstbewußt an. "Willst du mich jetzt doch noch bestrafen?" - "Nein. Die Gerichtsverhandlung ist jetzt vorbei." - "Was willst du dann noch von mir? Warum läßt du mich nicht gehen?" - "Komm", sagte Lazarus. "Die Speisekammer meines Hauses ist gut gefüllt. Nimm dir, soviel du essen kannst!" Das Mädchen sah den Bischoff ungläubig an, doch der achtete nicht weiter auf sie, sondern ging in Richtung der Speisekammer. Das Mädchen folgte Lazarus und dieser ließ sie dann einige Zeit in der Kammer allein. Sie lud sich soviel auf, wie sie tragen konnte und kehrte dann in den großen Saal zurück, in dem der Bischoff Gericht gehalten hatte. Lazarus saß in sich zusam-mengesunken auf einem prächtig verzierten Stuhl. "Ich danke dir!" sagte das Mädchen. "Willst du nicht erst etwas essen, bevor du wieder gehst?" fragte Lazarus. Das Mädchen überlegte kurz, dann ging es zu dem großen Holztisch, legte die Sachen, die es sich genommen hatte, darauf ab und begann gierig seine Zähne in einen Brotlaib zu schlagen. Lazarus sah dem Mädchen dabei zu und als es den ersten Hunger gestillt hatte, bemerkte es dies und blickte auf.
"Meine Eltern waren auch Christen", berichtete es. "So wie du!" Lazarus'
Gesicht blieb bewegungslos. Das Mädchen fragte indessen: "Lebst du ganz allein hier in diesem riesigen Haus? Wo sind deine Bediensteten? Hast du keine Frau oder Kinder?" - "Ich hatte eine Frau, aber das ist lange her." - "Was ist mit ihr?" - "Sie ist gestorben. Aber das war lange, bevor ich Bischoff wurde. Und lange bevor ich nach Zypern kam..." Er sah das Mädchen nachdenklich an und sagte dann: "Du bist seit langem der erste Mensch, den ich in mein Haus ein-geladen habe!" - "Du mußt ein guter Mensch sein", sagte das Mädchen. "Obwohl du eine wichtige Persönlichkeit in der Stadt bist, hast du ein Herz für jeman-den wie mich! Leute wie du können sich nämlich gar nicht vorstellen, wie es ist, Hunger zu haben,im Dreck zu leben und nicht zu wissen, ob man den näch-sten Tag erlebt." Lazarus sah sie an. "Ich kann es mir vorstellen", sagte er.
"Ach, ja? Warst du denn auch einmal arm?" - "Schlimmer." - "Krank?" - "Ich war tot", sagte Lazarus und dem Mädchen blieb dabei der Bissen buchstäblich im Hals stecken. Ihre Eltern waren Christen gewesen und so kannte sie vermutlich die Geschichte von dem Lazarus, den Jesus von den Toten erweckt hatte. "Das kann nicht sein", flüsterte sie. "Du willst mich auf den Arm nehmen!" - "Es ist ein Geheimnis und die bist die erste, der ich es anvertraue." - "Du kannst nicht der Lazarus sein! Diese Geschichte hat sich vor Jahrhunderten begeben!
Kein Mensch könnte so lange leben!" - "Außer jenem Lazarus!" erwiderte der Bischoff. "Es scheint, als könnte ich nicht sterben, seit er mich berühr-te!" -"Dann sei froh!" meinte das Mädchen. "Du bist unsterblich wie die Götter der Heiden, wenn es wahr ist, was du mir erzählst!" Und bei sich dachte sie: Ich werde die letzte sein, die an seinen Worten zweifelt, solange ich von sei-nem Brot esse! "Ich bin müde", sagte Lazarus "So unendlich müde nach all den Jahrhunderten. Ich würde mich gerne hinlegen und einschlafen, um dann nie wieder aufzuwachen und so etwas wie Frieden zu finden..." - "Ein seltsamer Wunsch. Du wurdest zum Leben erweckt und wünschst dir den Tod!" Der Bischoff machte eine wegwerfende Bewegung. "Kümmere dich nicht um mein Geschwätz", sagte er. "Iß und bleib so lange du willst!"
Da lächelte das Mädchen. Und Lazarus konnte nicht anders, als seine harten Züge zu lockern. Er lächelte - und starb.
Später fand man nichts weiter, als ein leeres Gewand auf dem Stuhl.