Читать книгу Heiter und unterhaltsam in die Weihnachtszeit: 2 Romane und 66 Kurzgeschichten - Alfred Bekker - Страница 18
ОглавлениеSo viele Krähen
Alfred Bekker
Sie saßen zu Hunderttausenden auf den Hochspannungsdrähten, auf den wenigen Bäumen und auf dem nackten Acker und machten dabei einen Höl-lenlärm. Es waren ausnahmslos Krähen. Manchmal stob ein Schwarm von ihnen hoch, nicht jedoch um sich gen Horizont davonzumachen, sondern nur, um wenige Meter weiter erneut zu landen. Drei Männer standen am Rand des Ackers, um sich dieses außergewöhnliche Schauspiel anzusehen. Aber ihre Gesichter zeigten nicht so etwas wie Neugier, sondern einen Aus-druck wachsender Verzweifelung. Einer von ihnen war der Bürgermeister des nahen Küstendorfs, der zweite der Bauer, dem der Acker gehörte und bei dem dritten handelte es sich um einen Vogelkundler. "Sehen Sie selbst!" sagte der Bürgermeister an den Vogelkundler gewandt und deu-tete dabei auf das unendliche Heer der Vögel. "So etwas haben auch Sie noch nicht gesehen! Habe ich recht?"
Der Vogelkundler rückte sich seine Brille zurecht und nickte dann nachdenklich. "Das ist wirklich außergewöhnlich", mußte er anerkennen.
Der Bürgermeister machte ein paar Schritte nach vorne auf den Acker.
Der Bauer folgte ihm, während der Vogelkundler sich zunächst die Hosen-beine umkrempelte. "Es ist wie eine Invasion!" stieß der Bürgermeister seufzend hervor. "Im Dorf ist es nicht ganz so schlimm, aber auch dort ist nicht mehr viel Platz auf den Strommasten."
"Vor allem muß man hinschauen, wo man hintritt", ergänzte der Bauer.
"Außerdem ist es nicht schlecht, eine Mütze zu tragen. Manchmal kommt was von oben runter!"
Die drei Männer gingen zwischen den Krähen her, die sich von der Anwesenheit der Menschen nicht sonderlich einschüchtern ließen.
"Wir hoffen, daß Sie irgendeinen Anhaltspunkt finden, was die Tiere hier her ziehen könnte", meinte der Bürgermeister an den Vogelkundler gewandt. Er mußte sich schon ziemlich Mühe geben, um das Geschrei der Krähen zu übertönen.
Der Vogelkundler blieb stehen und ließ den Blück über die unermeßliche Schar der schwarzen Vögel kreise. Er sah ratlos aus und schüttelte leicht den Kopf. "Mir ist kein einziger Fall bekannt, der sich hiermit vergleichen ließe", meinte er ehrfurchtsvoll.
"Wie gesagt", gab der Bürgermeister zurück. "Im Dorf ist es nicht ganz so schlimm, aber auch dort wird der Autoverkehr beeinträchtigt.
Viele Leute wollen ihre Kinder nicht mehr nach draußen lassen. Die Schule fällt aus. Die Touristen kommen nicht mehr... Es muß schnell-stens etwas geschehen!"
"Ich verstehe", meinte der Vogelkundler. "Das Zentrum ist dieser Acker, nicht wahr?" - "Ja." - "Ich werde ein paar Bodenproben nehmen und analysieren lassen." - "Tun Sie das!" seufzte der Bürgermeister.
Jetzt mischte sich der Bauer wieder ein. "Wir haben wirklich schon alles versucht", erklärte er. "Wir haben Vogelscheuchen aufgestellt, Krach gemacht, alles was man sich nur denken kann. Aber es werden von Tag zu Tag mehr Krähen. Unsere Nachbarn haben versucht, sie mit Schrot zu vertreiben..." - "Und?" fragte der Vogelkundler.
Der Bauer hob die Schultern. "Es sind zu viele!" stieß er er hervor.
Der Vogelkundler kratzte sich nachdenklich am Kinn. Schließlich meinte er: "Sie haben doch die Küste ganz in der Nähe..." - "Richtig", sagte der Bürgermeister.
"Versuchen Sie es mit Fischereiabfällen."
"Ich verstehe nicht..."
"Kippen Sie das Zeug auf den Acker. Krähen können Fisch nämlich nicht ausstehen!" Ein triumphierendes Lächeln ging kurz über die Lippen des Vogelkundlers. "Sie werden sehen! Die Krähen sind innerhalb eines halben Tages verschwunden!"
Der Rat des Experten wurde befolgt, auch wenn es bei dem Bauzern, dem der Acker gehörte dagegen zunächst einige Bedenken gab. "Das gibt doch einen bestialischen Gestank!" meinte er. "Wir werden tagelang kein Fen-ster öffnen können, ohne daß man sich hinterher übergeben müßte!"
"Ach, ein eifriger Güllefahrer wie du ist doch einiges gewöhnt", meinte der Bürgermeister dazu. "Außerdem ist es im Interesse der Allge-meinheit." Im Laufe des nächsten Tages wurden Lastwagenladungen von Fischereiabfälle auf dem Acker abgeladen und durch das Dorf ging eine Welle von Optimismus. Und tatsächlich! Es machte den Anschein, als ob die ersten Gruppen von Krähen aufstiegen, gen Horizont flogen und nicht wiederkehrten. Am Abend waren kaum noch welche von ihnen auf dem Acker.
Am nächsten Morgen jedoch war dieser erneut von Vögeln übervölkert.
Diesmal jedoch nicht von Krähen, sondern von Möwen, die von dem penetranten Fischgeruch angelockt worden waren.