Читать книгу Halo - Alfred Broi - Страница 6
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ОглавлениеMcNally ließ seinen Blick über die anwesenden Freunde schweifen und sah mit großer Genugtuung, dass alle konzentriert bei der Sache waren.
Er selbst spürte ebenfalls das leichte Kribbeln in der Magengegend, das er so sehr mochte, wenn ein neues Rennen bevorstand. Zwar war ihm bewusst, dass es heute nicht die Ausmaße annehmen würde, wie sonst, da er als Gastgeber ja nicht aktiv beteiligt sein würde, doch wusste er, dass alle guten Teams hier vertreten waren und er freute sich auf einen sehr spannenden Rennverlauf. Außerdem war er zufrieden, dass sich alle offensichtlich wohl bei ihm fühlten und ein wenig stolz auf den neu angeschafften Multimediakomplex, den in dieser Form bisher noch kein anderer Gastgeber präsentieren konnte und der ihnen allen wunderbare Livebilder liefern würde.
Als er sich dorthin umwandte, konnte er seinen Assistentin Jason erkennen, der gerade mit einem weiteren Angestellten, der vor einem Laptop saß, redete. McNally hatte Jason die Funktion des Spielleiters übertragen, da er wusste, dass diese Aufgabe ziemlich stressig sein konnte. Er aber wollte seinen Spaß haben und das hatte er, wenn er selbst kein Team am Start hatte, nur, wenn er während des Rennens die Emotionen seiner Freunde hautnah miterleben konnte.
Zeit zu Starten! fuhr es McNally in den Kopf und er beschloss, Jason darauf anzusprechen. „Jason?“ fragte er daher, während er zu ihm trat.
Patrick reagierte im ersten Moment nicht auf seinen Arbeitgeber, sondern beendete seine Anweisung an den Mann am Laptop. Dann aber wandte er sich um und nickte McNally zu. „Alles bereit, Sir!“
Arthur lächelte zufrieden und drehte sich seinerseits zu den anderen Anwesenden um. „Gentleman!“ hob er an und wartete, bis er die ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. „Die Vorbereitungen sind abgeschlossen! Hat noch Jemand einen Einwand gegen den Start des Rennens?“ Er blickte jeden Einzelnen an, doch wie zu erwarten war, erntete er nur Kopfschütteln. „Prima!“ McNally lächelte und wandte sich an Patrick. „Dann starten wir jetzt den Countdown!“
Patrick wiederum nickte dem Mann am Laptop zu, der daraufhin etwas in den Rechner eintippte.
Einen Augenblick später flammte auf dem großen Bildschirm an der Wand eine digitale Stoppuhr in weißen Zahlen auf schwarzem Grund auf, die sodann von einer Minute abwärts zählte.
Zeitgleich wurde auch der Countdown in den Fahrzeugen aktiviert und war jetzt deutlich sichtbar auf dem Navigationsdisplay zu erkennen.
Als Frank sah, wie die Uhr langsam abwärts lief, atmete er einmal tief durch. „Na dann!“ Er schaute zu Dixon auf den Beifahrersitz. „Anschnallen bitte!“
Während er selbst die hochwertigen 4-Punkt-Hosenträger-Sportgurte anlegte, griff auch Timothy zu seinem Exemplar, als er plötzlich innehielt. „Verdammt!“ Er schaute Palmer mit großen Augen an und wartete, bis der seinen Blick mit finsterer Miene erwiderte. „Ich muss pissen!“
„Was?“ Franks Blick wurde noch finsterer und er brummte missmutig. „Du spinnst wohl! Halt es zurück, Mann!“
„Ich kann mit voller Blase nicht laufen!“ erwiderte Dixon.
„Wenn du jetzt aussteigst, verpassen wir den Start und dann werde ich dir meinen Frust garantiert furchtbar ins Gesicht drücken!“ raunte Palmer echt sauer.
Dixon schien für einen Augenblick sichtlich nicht begeistert, doch dann grinste er breit. „Reg dich ab, Alter. War nur ein Spaß!“
„Spaß?“ Frank sah ihn mürrisch an.
„Ja, um die Stimmung aufzulockern! Steif wie ein Brett wird das nichts mit unserem Sieg!“
„Ich bin ganz locker!“ erwiderte Palmer.
„Ha!“ lachte Timothy auf. „Dann sag das mal deinem Gesicht!“
„Mein Gesicht geht dich verdammt nochmal gar nichts an!“ Frank brummte erneut. Dann aber musste er lächeln. „Außerdem muss mir das gerade einer sagen, der selber aussieht wie ein Schrumpfschlumpf!“
„Pah!“ Jetzt war Timothy angesäuert. „Wenn ich mit der Siegerkohle heute nach Hause komme, wird Rachael mir bestimmt sehr dankbar sein! Und wer wird dir deine Stange polieren?“
„Sex hat was mit Gefühlen zu tun. Und solange sich da bei mir nichts abzeichnet, mach ich mir das lieber selbst, bevor ich mir eine Nutte kaufe, die nur stöhnt, weil sie muss und nicht, weil sie will!“ Frank sah ihn mit ernster Miene an. „Sei froh, dass du Rachael hast!“
Dixon schien etwas erwidern zu wollen, doch dann nickte er nur. „Ja, hast Recht!“
„So und nun halt dein blödes Schandmaul…!“ raunte Palmer und betätigte den Zündschlüssel ihres Wagens. „…und lausche der donnernden Stampede der zweitausendvierhundert Hufschläge von König Porsche!“ Und im selben Moment dröhnten sechs meisterhaft gefertigte Zylinder im Heck des Wagens auf und versetzten die Karosserie für einen Augenblick in sanfte Schwingungen, die sich auch auf die beiden Insassen übertrugen.
„Das Geräusch von Macht!“ sagte Dixon beeindruckt. „Geil!“
Palmer nickte und lächelte. „Das Geräusch des Siegers!“
„Frank?“
„Ja?“
„Ich glaub, ich muss jetzt doch pinkeln!“
Doch dieses Mal lachte Palmer leise auf. „Halt es zurück und lass es laufen, wenn du läufst!“
Im nächsten Moment war der Countdown abgelaufen. Während Frank das Gaspedal betätigte und der Porsche rasant, aber ohne durchdrehende Räder, was allerdings nicht allen Teilnehmern gelang, den Startplatz in Richtung Osten verließ, erlosch die Uhr auf dem Display und stattdessen war der Stadtplan zu sehen.
„Rennen, wenn es einem warm das Bein runter läuft!“ Jetzt lachte auch Dixon auf und schüttelte den Kopf. „Alter, du verstehst es wirklich, einen zu motivieren!“
„Na, das kann ja dann heute nur noch gut werden!“ Palmer schien wirklich zufrieden, doch dann verstummte er und konzentrierte sich darauf, den Porsche so schnell, als möglich, aber dennoch unauffällig durch die Straßen der Stadt zu lenken, in der Hoffnung, bald ein Signal aufzufangen.
Ihr Startplatz lag im Südosten der Stadt, im Stadtteil Hancock und hier in unmittelbarer Nähe des Shadowland County Parks an der Southeast 121.Street.
Das Stadtgebiet war geformt wie eine Art Sichel, deren eines, sehr viel längeres Ende, nach Norden wies, und das andere, deutlich kürzere Stück nach Westen.
Man konnte daher leicht annehmen, dass das Paket irgendwo im nördlichen Teil der Stadt zu finden sein würde. Allein die Fahrt dorthin würde einige Zeit in Anspruch nehmen, somit die Spannung entsprechend steigern und den Teilnehmern in der Zentrale einiges an Spaß bringen.
Allerdings könnte der Weg dorthin auch leicht langweilig für die Zuschauer werden. Außerdem war der Gedanke, das Paket so weit wie möglich weg vom Startplatz zu platzieren, fast schon zu offensichtlich.
Deshalb war es durchaus auch denkbar, dass das Paket vielleicht sogar relativ nah war.
Allerdings konnte Palmer mit diesen Überlegungen auch vollkommen falsch liegen.
Entsprechend war er in den ersten Minuten ihrer Fahrt noch ziemlich unschlüssig. Der Blick auf das Navigationsdisplay zeigte, dass fast alle weiteren Teams offensichtlich aber keine Probleme damit hatten, nach Norden zu fahren. Lediglich zwei andere Fahrer hielten sich, so wie er, noch ein wenig im Süden auf. Da alle Fahrzeuge eine eigene Signalfarbe besaßen, konnte Frank schnell erkennen, um wen es sich dabei handelte. Das eine Signal war rot und gehörte zu Ryker in seiner Viper. Nettes Wortspiel, dachte Palmer für einen Moment. Das andere gab ein schwarzes Signal ab und gehörte zu Hal in seinem Ferrari. Frank stellte fest, dass er nicht überrascht war. Alle anderen Fahrer handelten fast immer impulsiv, es gab nur wenige, die trotz der Anspannung ruhig blieben und einen kühlen Kopf bewahrten.
Die Tatsache, dass auch diese beiden Fahrer offensichtlich ihre Zweifel über den Fundort des Pakets hatten, bestärkte ihn in seiner Annahme. Wenn er der Spielleiter gewesen wäre, dann hätte er den Start auch in den Süden verlegt, sodass alle das Paket im Norden vermuten würden und viele Fahrzeuge auch dorthin fuhren. Tatsächlich aber hätte er den Koffer im Osten versteckt. Dafür allerdings das Ziel in den Norden gelegt. Da sich die Mehrzahl der Teams bereits dort befand, würde sich der Finder des Pakets unwillkürlich einem Rudel Jägern gegenübersehen, die wie eine Meute tollwütiger Wölfe auf ihn losgehen würde. Um das Ziel zu erreichen, musste er ihre Reihen durchbrechen. Somit war nicht nur für Hochspannung gesorgt, sondern auch für viele heiße Battle.
Ja, je mehr Frank darüber nachdachte, wäre es genau das, was er getan hätte, wenn er Spielleiter gewesen wäre.
Allerdings konnte es auch gut sein, dass er allmählich paranoid wurde.
„Was ist los?“ Natürlich hatte Timothy mitbekommen, dass irgendetwas nicht stimmte. Frank war sicherlich kein Raser, zumindest nicht, solange es noch nicht nötig war, schließlich mussten sie alle ja auch darauf achten, nicht unnötig die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu ziehen, doch im Moment schien es Dixon ganz so, als würde sein Partner eher unschlüssig durch die Straßen fahren. Gerade bog er wieder nach Osten ab. So ziemlich alle anderen aber hielten direkten Nordkurs, was Timothy, wenn er am Steuer gesessen hätte, wohl auch getan hätte.
„Ich bin mir nicht sicher!“ erwiderte Palmer.
„Okay!“ sagte Timothy unsicher. „Und was heißt das?“
„Ich glaube, nach Norden zu fahren ist falsch!“
„So, wie es die anderen tun?“
„Nicht alle!“ Frank deutete auf das Display. „Ryker und Hal sind nicht weit weg!“
Dixon erkannte, dass sein Partner Recht hatte. Okay, Ryker und Hal waren sicherlich Spitzenfahrer und ihre ärgsten Konkurrenten. Aber vielleicht machten sich hier ja auch gleich drei Bullen zu Ochsen!? „Du vermutest das Paket im Osten?“ fragte er daher.
„Zumindest nicht direkt im Norden!“ erwiderte Palmer. „Irgendwo östlich an der Küste!“ Er deutete mit dem Finger vage in diese Richtung.
„Ich glaube, du liegst falsch!“
Frank lächelte. „Ich nehme deinen Einwand zur Kenntnis!“ Dennoch bog er erneut nach Osten ab.
„Okay!“ Timothy atmete einmal tief durch, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. „Weck mich, wenn es vorbei ist!“
Jetzt musste Palmer grinsen. „Mach ich!“
Die, die von Beginn an nach Norden unterwegs waren, hatten mittlerweile den Stadtteil Shinoa erreicht und näherten sich Capitol Gardens. Da sein Signal noch nicht sichtbar war, hatte noch niemand das Paket an sich genommen und anhand ihrer Geschwindigkeit konnte Frank erkennen, dass auch noch keiner von ihnen in die rote Zone eingedrungen war.
Er selbst befand sich in Global Heights auf direktem Weg in das Zentrum der Stadt und damit rund neun Kilometer südlich des Haupttrupps. Ryker und Hal waren nicht weit von ihm entfernt. Während Hal sich nordwestlich in Sunny Terrace aufhielt, war Ryker rund zwei Kilometer vor Palmer in Slow Market.
Frank wollte gerade überlegen, ob er ihm folgen oder sich mehr an Hal halten sollte, als ihm urplötzlich etwas auffiel:
Ryker befand sich auf dem South Groovy Highway, dem er direkt an der Küste weiter nach Norden folgen oder vorher auf die Interstate 95 abbiegen konnte, um durch das Zentrum der Stadt zu fahren. Doch nichts davon tat er, denn plötzlich bog er direkt nach Norden ab, bremste dann innerhalb weniger Augenblicke auf Schrittgeschwindigkeit ab, nur um dann wieder scharf zu beschleunigen und sofort danach nach Süden abzubiegen, wo er schon nach wenigen Metern seine Geschwindigkeit merklich reduzierte.
„Bingo!“ stieß Palmer hervor. So gut und schnell dieses Manöver auch ausgeführt war, es zeigte deutlich den Grund an. Ein kurzer Blick auf Hals Fahrzeug brachte Frank weitere Bestätigung, denn sein Konkurrent bog augenblicklich Richtung Südosten ab und hielt jetzt direkt auf Ryker zu.
Während Frank es ihm gleich tat, indem er kräftig beschleunigte, sah er vor seinem inneren Auge plötzlich das Signal des Pakets in der Viper aufleuchten: Ryker hatte die rote Zone erreicht. Da die Zeit dort für alle sehr begrenzt war, verließ er so schnell als möglich den Highway, um zu wenden und die rote Zone wieder zu verlassen. Zwischendurch bremste er soweit ab, dass sein Runner aussteigen und sich seinerseits auf die Suche nach dem Paket machen konnte.
Dieses von Ryker ausgeführte Manöver war absolut charakteristisch dafür. Jeder versuchte es so gut als möglich zu kaschieren, doch keinem gelang es wirklich. Auch Frank hatte bisher noch keine Möglichkeit gefunden, das Erreichen der roten Zone und das Aussetzen des Runner so hinzustellen, als wäre überhaupt nichts geschehen.
Sobald man diesen Punkt erreicht hatte, wussten alle anderen mehr oder weniger Bescheid – zumindest die Fahrer, die etwas taugten.
Und Frank und Hal taugten ganz sicher etwas.
„Bingo?“ Timothy hatte zwar seine Augen geschlossen, doch war er weiterhin wachsam gewesen. Mit einem tiefen Atemzug richtete er sich in seinem Sitz auf, schaute erst zu Frank, dann nach draußen, dann auf das Display des Navigationsgerätes und dann wieder zu Frank.
Quasi im selben Moment flammte das Display rot auf und es ertönte ein schriller Signalton.
„Superbingo!“ bestätigte Palmer und riss das Steuer nach links. Während der Porsche mit quietschenden Reifen den Highway überquerte und in die Southwest 42nd Avenue einbog, schaltete sich ein anthrazitfarbenes, metallisch glänzendes Smartphone, das neben dem Navigationsdisplay am Armaturenbrett befestigt war, ein und auf dem großen Farbdisplay erschien das Abbild des großen Navigationsbildes. Timothy riss es in einer flüssigen Bewegung förmlich an sich und starrte darauf. Dieses Smartphone besaß, im Gegensatz zu dem Navigationsgerät einen Funkempfänger, der das Signal des Pakets orten konnte. Allerdings zeigte das Gerät nur einen deutlich kleineren Bildausschnitt, etwa zweihundert Meter im Radius. Dafür aber blinkte an der rechten oberen Seite ein kleiner roter Pfeil rhythmisch auf und gab damit die ungefähre Lage des Pakets preis. „Nordosten!“ sagte Dixon.
Palmer reagierte nicht darauf, sondern bremste den Porsche scharf ab, sobald sie den Highway verlassen hatten. „Viel Glück!“ sagte er mit ernster Miene und nickte Dixon kurz zu.
„Bis dann!“ Timothy drückte die Beifahrertür auf, sprang hinaus und warf die Tür wieder zu.
Frank gab sofort wieder Gas. Die Uhr, die nach Erreichen der roten Zone begonnen hatte, abwärts zu zählen, zeigte noch zweiundfünfzig Sekunden. Mit quietschenden Reifen lenkte Palmer den Porsche auf den Marco Polo Boulevard und fuhr nach Südwesten. Wenige Augenblicke später erlosch das Navigationsdisplay wieder und zeigte das normale Bild. Die Uhr zeigte noch siebenundvierzig Sekunden.
Das ist annehmbar, dachte Frank, während er sich kurz umblickte und auf der gegenüberliegenden Straße eine größere Parklücke nicht weit von der Kreuzung zur SW 42nd Avenue ausmachen konnte. Er beschloss zu wenden und dort zu parken. Ihm blieb jetzt ohnehin nichts anderes übrig, als zu warten. Timothy würde das Paket suchen und – hoffentlich – noch als erster erreichen. Danach würde er wieder hierher zurückkommen. Während dieser ganzen Zeit würde er einen ungefähren Überblick über die Lage der roten Zone bekommen und konnte Frank irgendwann über Headset angeben, wo der beste Platz war, um seinen Runner wieder einzusammeln.
Bis dahin brauchte es Geduld – und starke Nerven. Beides aber hatte Palmer…
*
Nachdem er aus dem Porsche gesprungen war, rannte Timothy einfach in die Richtung, die ihm der Pfeil auf dem Smartphone wies. Dabei befestigte er das Gerät mit zwei Klettverschlüssen an seinem linken Unterarm, sodass er es nicht mehr festhalten musste und darauf schauen konnte, wie auf eine Uhr.
Hiernach fischte er ein Headset aus der Innentasche seiner Jacke und legte es sich an.
Währenddessen lief er zügig, aber nicht zu schnell. Er war zwar ziemlich durchtrainiert und hatte vor dem Start noch einige Dehnungsübungen gemacht, doch hatte er lange genug im Porsche gesessen, um zu wissen, dass die Gefahr einer Zerrung oder einer Muskelverhärtung oder gar eines Faserrisses durchaus gegeben war. Er wäre damit auch nicht der Erste gewesen.
Also hatte er sich angewöhnt, zunächst nur mit zwei Drittel seiner Kraft zu laufen, bis seine Muskeln ausreichend aufgewärmt waren, um richtig Gas zu machen. Davon aber war er noch etwa einen Kilometer entfernt.
Kurz bevor er die nächste Straßenecke erreichte, schaute er wieder auf das Display. Er musste nach Norden abbiegen. Bisher war er parallel zum Highway gerannt, doch jetzt erreichte er einen großen Platz mit einem Verkehrskreisel. Er überquerte die Straße und rannte dann westlich des Kreisels nach Norden. Zu beiden Seiten taten sich große sandfarbene Gebäudekomplexe auf. In der Mitte trennte ein Grünstreifen die beiden Fahrbahnen. Dort wuchsen große Laubbäume, zu beiden Straßenseiten gab es dicht an dicht große Palmen.
Nach rund zweihundert Metern musste er eine weitere Straße überqueren und fand sich jetzt ganz offensichtlich in einem Wohngebiet wieder. Die Straße war breit und noch immer wuchsen überall Bäume, allerdings gab es keine Palmen mehr.
Timothy blickte auf das Signal, doch es hatte sich kaum bewegt, sodass er beschloss, auf dieser Straße zu verbleiben und weiterhin nach Norden zu rennen.
„Timothy?“ Das war Frank.
„Ja?“ erwiderte Dixon knapp.
„So wie es aussieht, hat Hal ebenfalls seinen Runner ausgesetzt! Etwa vier Kilometer nördlich von mir!“
„Alles klar!“ Timothy schätzte, dass er selbst etwa zwei Kilometer nach Norden gelaufen war. Das wird eng.
„Hast du den anderen schon ausgemacht?“
„Nein!“
Damit war das Gespräch vorbei.
Timothy schaute auf das Display. Das Signal hatte sich jetzt deutlich nach Osten verschoben. Auf der rechten Seite erkannte er einige kleine Nebenstraßen. Er beschloss, noch ein wenig weiter zu laufen und dann eine davon zu nehmen.
Als er die vierte hinter sich gelassen hatte, war das Signal beinahe direkt östlich von ihm. Schon hatte er die nächste Seitenstraße erreicht und ohne zu zögern flitzte er hinein. Romeo Avenue konnte er für einen Lidschlag auf dem Straßenschild lesen. Nach wenigen Metern gab es eine Abzweigung nach rechts, danach schoss plötzlich eine Wand aus Bäumen vor ihm auf. Im ersten Moment befürchtete er, in eine Sackgasse geraten zu sein, doch dann konnte er eine weitere Straße dahinter ausmachen. Ohne an Geschwindigkeit zu verlieren sauste er an den dicken Baumstämmen vorbei über ein kurzes Rasenstück, dann hatte er eine weitere kleine Nebenstraße erreicht. An ihrem Ende konnte er schon eine hellerleuchtete Hauptstraße erkennen. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass sich das Signal jetzt als roter Punkt in nordöstlicher Richtung auf dem Bildschirm darstellte, damit konnte es keine zweihundert Meter mehr von ihm entfernt sein.
Am Ende der Straße bog er nach Norden und stoppte dann abrupt ab. Das Signal lag jetzt direkt vor ihm. Auf der östlichen Straßenseite schossen mehrere größere Gebäude in die Höhe. Das Signal des Pakets kam eindeutig von dem zweiten. Timothy war vielleicht noch fünfzig Meter davon entfernt.
Bevor er loslief, blickte er sich kurz verstohlen um, ob er eine verdächtige Bewegung erkennen konnte.
Er konnte!
„Bingo!“ sagte er leise, doch auch so, dass er sicher sein konnte, dass es Frank am anderen Ende der Leitung hörte. Es war sein Zeichen, dass er Sichtkontakt zu einem oder mehreren Runner hatte. In diesem Fall nur zu einem. Der Kerl lief auf der östlichen Straßenseite und war etwa dreißig Meter voraus. Timothy atmete kurz tief durch, war sicher, dass sonst keine hektischen Bewegungen zu sehen waren und rannte dann los.
Er verblieb auf der westlichen Straßenseite. So konnte ihn der andere Runner nicht sehen, er selbst aber erkennen, dass der Kerl gerade das Gebäude erreicht hatte, für einen Augenblick unschlüssig davor stehen blieb, um dann durch den Haupteingang einzutreten.
Als Timothy das Gebäude erreicht hatte, hatte er sich bereits einen Überblick der örtlichen Gegebenheiten verschafft. Rechts vom Eingang war ein Schild mit der Aufschrift „2139 – Hartmann Professional Building“ angebracht. Darunter stand Slow Market Surgery Center. Aha, eine Klinik also, schoss es Timothy in den Kopf. Deshalb war das Gebäude auch noch geöffnet. Timothy vermutete das Paket auf dem Dach, denn es war kaum denkbar, dass sie jetzt das Krankenhaus durchsuchen sollten.
Um dennoch vor ihm am Ziel zu sein, musste er einen anderen Weg wählen, als sein Kontrahent.
Links neben dem Gebäude gab es ein Parkhaus, über dem fünf Etagen mit Büroräumen lagen. Der untere Teil war in weißem Beton gehalten, der obere in rotem Backstein. Vor dem Parkhaus gab es einige Säulen, außerdem wurde die Backsteinfassade im oberen Bereich durch einen senkrechten Spalt unterbrochen, der gut einen Meter breit sein mochte und ungefähr auch so weit nach hinten versetzt war. Er wirkte wie ein Kamin und sollte die Optik wohl etwas auflockern.
Timothy brauchte nicht lange zu überlegen. Wenn er Erster werden wollte, musste er es riskieren. Während er flink dünne, speziell profilierte Handschuhe aus der Jacke fischte und sie anlegte, tat er einen tiefen Atemzug. Dann rannte er los, überquerte mit federnden Schritten die Straße und hielt direkt auf die Säule zu, die links unterhalb des Spaltes in der Backsteinfassade endete. Als er nahe genug heran war, sprang er ab, breitete seine Arme soweit aus, dass er sie zu beiden Seiten der Säule legen konnte und rannte an ihr entlang in die Höhe. Dabei waren ihm neben seinen Handschuhen seine ebenfalls mit einem speziellen Profil angefertigten Turnschuhe sehr behilflich. Mit ihnen fand er an der rauen Außenhaut der Säule guten Halt, sodass er dank seiner Oberschenkelmuskulatur, die seinen Körper immer wieder senkrecht in die Höhe puschte, in einer beeindruckenden Geschwindigkeit die sechs Meter Höhenunterschied innerhalb von nur vier Sekunden überwand.
Dann aber kam der schwierige Teil: Vom oberen Ende der Säule musste er gut einen Meter senkrecht in die Höhe springen, um dort den Fenstersims der ersten Büroetage zu erreichen. Normalerweise kein Problem, doch nach einem senkrechten Aufstieg von sechs Metern, musste Timothy nochmals alle Kraft aus seinen Oberschenkeln holen, damit ihm dies auch gelang. Dabei kam ihm die hohe Geschwindigkeit, die er beibehalten hatte, zugute. Er drückte sich ab und streckte seinen Körper und seine Arme blitzschnell durch. Wenn er den Sims jetzt nicht zu fassen bekam, hatte er keinerlei weiteren Halt mehr und würde sechs Meter tiefer ungebremst zu Boden schlagen. Doch bevor er sich darüber wirklich Sorgen machen konnte, spürte er den Fenstersims an seinen Fingern und krallte sie dort hinein. Anstatt sich dann jedoch in die Höhe zu ziehen, ließ er seine ausgetreckten Beine nach rechts schwingen, bis er dort die rechte Wand des Spaltes erreichte. Er stemmte sein rechtes Bein gegen die Fassade und erst dann zog er sich in die Höhe.
Wenige Augenblicke später stand er aufrecht in dem Spalt und hatte seine Beine zu beiden Seiten gegen die Fassade gestemmt. Timothy schätzte seine Breite auf etwas mehr als einen Meter. Gerade noch schmal genug, um sein Vorhaben auszuführen. Mit einem kurzen Ruck stieß er sein rechtes Bein von der Fassade und knickte gleichzeitig im linken Kniegelenk ein wenig ein. Kaum hatte sein Körper Übergewicht zur linken Seite, drückte er das linke Bein durch. Sein Körper schnellte ein Stück schräg nach oben, wo Timothy sofort wieder das rechte Bein in die Fassade stemmte, dann dort im Kniegelenk einknickte, jedoch nur um sich sofort danach wieder abzudrücken und nach links oben zu schnellen. Dabei nahm er beständig seine Arme zur Hilfe, um seinen Körper zu stabilisieren und den Aufstieg damit zu erleichtern. Die ersten drei Sprünge brachten nur einen geringen Höhengewinn, doch mit zunehmender Dauer wurde er deutlich schneller. Ein Betrachter wäre sicherlich absolut erstaunt gewesen, mit welcher Geschmeidigkeit und scheinbaren Leichtigkeit Timothy die immerhin fast fünfzehn Meter überwand und dafür kaum mehr als zwanzig Sekunden brauchte. Doch war das für Timothy alles andere als einfach und als er den oberen Sims erreicht hatte und sich mit einem tiefen Stöhnen auf das Dach wuchtete, war er mit seiner Kraft beinahe am Ende.
Für einen Moment verschnaufte er mit tiefen Atemzügen.
Das bekam natürlich auch Frank mit. „Alles klar?“ fragte er.
Timothy lachte heiser auf, während er seinen Körper wieder durchstreckte. „Was denkst du denn?“ Und damit rannte er zum östlichen Ende des Daches und spähte zum anderen Gebäude hinüber.
Im ersten Moment war er sichtlich erfreut, denn er konnte auf einem erhöhten Lüftungsschacht dort deutlich einen fast quadratischen, schwarzen Gegenstand erkennen. Das war das Paket! Timothy grinste. Doch dann wurde ihm klar, dass er ein Problem hatte, denn das Dach des Nebengebäudes lag zwei Etagen unter ihm und war mindestens fünf Meter entfernt. Er würde nicht nur einen weiten Sprung ausführen müssen, sondern würde beim Aufprall auch eine beachtliche Bewegungsenergie in sich haben, die er schnell wieder abgeben musste. Timothy war klar, dass das mit großen Schmerzen verbunden sein würde.
Doch er wusste auch, dass er jetzt gar keine andere Wahl mehr hatte. Wenn er nicht sprang, würde der andere Runner das Paket an sich nehmen und er große Mühe haben, ihm zu folgen.
Ohne zu zögern stieß er sich daher von der Brüstung ab und rannte in die Mitte des Daches. Dort drehte er sich um, atmete nochmals tief durch, dann raste er los. Das Geheimnis war, jetzt keine Angst zu haben, doch das war so viel leichter gesagt, als letztlich…
Timothy erreichte die Brüstung, sprang ab, setzte seinen rechten Fuß darauf und drückte sich dann mit all seiner Kraft ab, wobei er die ausgestreckten Arme von hinten über seinen Kopf nach vorn riss, ganz so, wie es Weitspringer taten. Als er das andere Dach auf sich zurasen sah, konnte er sich eines Schreis nicht erwehren.
Dann erfolgte der Aufprall. Doch Timothy hatte derartige Sprünge schon einige Male absolviert, um jetzt richtig zu reagieren. Sofort rollte er sich über seine linke Schulter ab. Einmal, zweimal. Das tat höllisch weh, war aber die einzige Möglichkeit, keine schweren Verletzungen davonzutragen. Prellungen, Abschürfungen, im Nachhinein böse Kopfschmerzen, ja, aber keine Brüche oder Übleres. Um den Schmerz besser ertragen zu können, brüllte er ihn hinaus.
„Timothy?“ Das war Frank, der anfing sich angesichts dieser Geräusche Sorgen zu machen.
„Jetzt nicht!“ stieß Dixon atemlos hervor, denn er war viel zu konzentriert auf seine Sache. Nach der zweiten Rolle drückte er seine Beine wieder durch und nutzte den noch verbliebenen Schwung aus, um sofort wieder zu rennen. Mit wenigen Schritten war er bei dem Lüftungsschacht, sprang ab und riss das Paket am Tragegriff vom Sims.
Im selben Moment flammte auf den Navigationsgeräten aller Teams ein roter Punkt auf und gab den Standort des Pakets preis.
Damit war die Jagd eröffnet.