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Frank sah das Aufflammen des roten Punktes mit gemischten Gefühlen. Dass das Paket entdeckt worden war, überraschte ihn nicht. Timothys Verhalten hatte dies ja bereits angedeutet. Doch wusste Palmer nicht, ob sein Runner es an sich genommen hatte, oder ein anderer. Diese Ungewissheit machte ihn ein wenig nervös. Dennoch blieb er stumm, denn selbst wenn Timothy jetzt nicht im Besitz des Pakets war, war er zumindest dicht dran. Und Frank wusste aus der Vergangenheit, dass er in solchen Situationen nicht gestört werden wollte.

*

Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis der andere Runner hier erscheinen würde, dessen war sich Timothy bewusst.

Er beschleunigte daher sogar noch auf dem Weg zum Treppenhaus. Als er einen Schritt davor herumwirbelte und mit dem Rücken links neben der Tür an die Wand krachte, wurde sie bereits von innen rüde aufgestoßen.

In diesem Augenblick machte Timothy einen Schritt nach rechts und verschwand hinter der Ecke, wobei er sich weiterhin dicht an der Wand hielt und verstohlen zurückblickte.

Er kannte den anderen Runner, der da drei gehetzte Schritte auf das Dach machte und dann abrupt stehenblieb. Sein Name war Ed. Er war etwas älter, als Timothy und wirkte eher schwächlich und hager. Doch Timothy wusste, dass Ed eigentlich der bessere Langstreckenläufer war. Allerdings besaß er nicht die speziellen Fähigkeiten, die es Timothy ermöglicht hatten, einen anderen Weg hier auf das Dach zu nehmen. Dafür aber war dieser Kerl absolut hinterlistig und gnadenlos.

Im nächsten Moment riss Ed seinen rechten Arm, an dem er sein Navigationsgerät befestigt hatte, in die Höhe und starrte auf das Display. Natürlich war er anhand des Signals davon ausgegangen, dass sich das Paket irgendwo vor ihm befinden musste. Deshalb war er unschlüssig, als er es nicht sehen konnte. Ein Blick auf das Display sollte die Situation klären. Als er das Signal dann seitlich des Treppenhauses ausmachen konnte, war er für einen Augenblick verwirrt, doch dann rannte er los.

Auf diesen Moment hatte Timothy gewartet.

So schnell er nur konnte, umrundete er das Treppenhaus auf der anderen Seite und gelangte vor die Eingangstür, die noch immer offenstand. Ohne zu zögern donnerte er den Koffer auf den äußeren Türöffner, der dabei fast komplett aus der Verankerung gerissen wurde. Dann packte Dixon das Türblatt, rannte in das Treppenhaus hinein und riss die Tür hinter sich zu. Ob seine Aktion ausreichte, dass sich die Tür nicht mehr öffnen ließ, konnte er nur hoffen. Zeit, es zu überprüfen hatte er natürlich keine.

Doch das brauchte er auch nicht, denn kaum war er die erste Treppe hinab gesaust, machte sich Ed bereits an der Türklinke zu schaffen. Es gelang ihm aber nicht, die Tür zu öffnen und Timothy hörte ihn wüst schimpfen und dagegen hämmern. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und war sichtlich erleichtert, dass er nicht nur das Paket noch immer bei sich, sondern auch seinen ersten Verfolger abgeschüttelt hatte. „Bingo!“ rief er daher in sein Headset, während er schon drei Stockwerke hinter sich gebracht hatte.

„Was für Bingo?“ kam als Frage zurück.

Timothy erkannte das Ende des Treppenhauses. Er stoppte kurz ab, riss die Tür vor ihm auf und rannte in einen hell erleuchteten Flur. Es war niemand zu sehen und er beschleunigte wieder. „Superbingo!“ stieß er dabei hervor und schon war er an dem Empfangstresen, hinter dem zwei Schwestern saßen, ihn mit großen Augen anstarrten und ihrer Verwunderung sofort verbal Ausdruck verliehen, vorbei gerannt. Instinktiv warf er ihnen einen Blick zu und verlor daher für einen Augenblick die Orientierung.

Doch das reichte aus, um alles zu ändern.

Der Kerl kam unvermittelt hinter einer großen Birkenfeige hervor, die schräg vor dem Ausgang in einem mächtigen Topf stand. Dass er seinen rechten Arm ausgetreckt waagerecht in der Luft hielt, konnte Timothy nicht sehen – wohl aber spüren.

Denn nachdem er die verächtlichen Worte „Scheiß auf Bingo!“ hörte, war es ihm, als würde er mit der Brust gegen eine Betonmauer rennen. Augenblicklich wurde sein Lauf an dieser Stelle abgebremst, während seine Beine noch weiterliefen. Urplötzlich fand er sich waagerecht in der Luft wieder und schlug dann hart und unkontrolliert mit dem Rücken auf den Betonboden. Bevor ihm schwarz vor Augen wurde, konnte er noch das breit grinsende Gesicht von Thomas Lieberman, Hals Runner, über sich erkennen und spüren, wie er ihm genüsslich das Paket aus der Hand riss.

*

„Timothy?“ Frank war jetzt nervös, denn die Geräusche, die sein Partner machte oder besser, gemacht hatte, bevor er vollkommen verstummt war, ließen nur Übles erahnen.

Plötzlich hörte er eine fremde Stimme. „Mister?“ Sie war weiblich. „Hören sie? Können sie mich hören?“ Klang eigentlich ganz nett, aber auch besorgt und war daher schlecht.

„Verdammt Timothy!“ raunte Palmer und ihm wurde klar, dass ihr Sieg hier in weite Ferne gerückt war.

*

Palmer mit einer solch hohen, sanften und noch dazu so besorgten und vor allem wohlklingenden Stimme?

Dixon war verwirrt und öffnete wieder seine Augen. Das tat im ersten Moment echt weh, denn er hatte das Gefühl, als würde er direkt in die Sonne schauen. Sofort kniff er seine Lider wieder zusammen und verzog dabei schmerzhaft das Gesicht, auch weil er einen ziemlich harten Stich in seinem Kopf verspürte. Timothy stöhnte tief und richtete im nächsten Moment seinen Oberköper auf. Während seine linke Hand wie automatisch an seinen dröhnenden Kopf fasste und er Palmer in seiner merkwürdig, liebevollen Stimme „Warten sie, nicht!“ sagen hörte, öffnete er wieder die Augen.

Schon viel besser! Aber warum siezt mich Frank? Timothy atmete tief durch, als sich plötzlich ein Gesicht vor das seine schob. Ein verdammt hübsches Gesicht mit schulterlangen, gelockten blonden Haaren und leuchtend blauen Augen, über einer wohlgeformten Nase und einem sinnlichen Mund.

Das Gesicht fragte. „Alles okay?“

Während Timothy darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er nicht Palmers Stimme gehört hatte, sondern die der Frau vor ihm. Außerdem erkannte er sie als eine der beiden Schwestern, die er hinter dem Empfangstresen ausgemacht hatte, bevor…verdammt!

Ruckartig wuchtete sich Dixon in die Höhe, wäre aber wohl wieder zu Boden gekracht, wenn sich die junge Frau nicht zeitgleich mit ihm aufgerichtet und ihn dabei gestützt hätte. „Warten sie!“ rief sie. „Nicht so hektisch! Sie müssen sich ausruhen!“ Dabei warf sie ihm ein mitleidiges Lächeln zu.

„Das wird er gleich haben!“ hörte Timothy eine weitere Stimme vom Empfangstresen her. Sie war auch weiblich, aber deutlich älter und auch wesentlich unfreundlicher. Als er dorthin blickte, sah er eine rundliche Frau in mittleren Jahren mit schwarzer Kurzhaarfrisur und sehr strengem Blick. „Der Sicherheitsdient ist informiert!“ Jetzt erkannte er den Telefonhörer in ihrer rechten Hand. Entsetzt riss er die Augen auf, was der älteren Frau ein widerliches Grinsen entlockte.

„Hören sie!“ Timothy atmete tief durch, dann sah er der jungen Frau direkt in die Augen. „Es tut mir leid. Vielen Dank für ihre Hilfe. Es geht mir schon wieder prächtig!“ Stattdessen aber wurden seine Knie wieder wacklig und die junge Frau musste ihn erneut stützen.

„Von wegen!“ sagte sie besorgt und packte ihn noch fester.

„Wie heißen sie?“ fragte Timothy.

„Tess!“

„Danke Tess!“ Und im nächsten Moment zog er sie an sich und küsste sie mit feuchten Lippen auf den Mund. Die Schwester war so perplex, dass sie nicht reagieren konnte. Mit großen Augen ließ sie es geschehen. Dabei löste sich ihr Griff von Timothys Oberarmen.

Das hatte er erreichen wollen. „Toller Kuss!“ Und schon schob er sie beiseite und rannte aus der Klinik auf die Straße.

Hinter sich konnte er noch die erbosten Worte der älteren Schwester vernehmen, doch hatte er natürlich nicht vor, auf sie zu hören. Stattdessen blickte er sich gehetzt um, sobald er die Straße erreicht hatte. Er hoffe auf…

Da! Nördlich der Straße hinauf, vielleicht hundert Meter entfernt, konnte er einen Mann laufen sehen. Mit einem Koffer in der Hand!

„Na warte!“ raunte Dixon und während er sich stöhnend und anfangs auch noch ein wenig unsicher auf den Beinen an die Verfolgung machte, versuchte er seine widerlichen Kopfschmerzen zu verdrängen.

„Frank?“

„Ja?“

„Thomas hat mich erwischt!“

„So was in der Art hab ich mir gedacht! Und?“

„Bin ihm wieder auf den Fersen! Richtung Norden!“

„Das sehe ich und bin schon auf dem Weg!“ In der Tat hatte Palmer seinen Platz verlassen und fuhr jetzt in einem sanften West-Bogen nach Norden, um schnellstmöglich bei seinem Runner zu sein, sobald der das Paket seinem Widersacher wieder abgenommen hatte. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass Hal dort im Norden seelenruhig wartete, während Ryker es Frank gleich tat und ihm folgte. Die anderen Teams hatten mittlerweile alle gedreht und waren auf Südkurs, doch würden sie hier wohl nicht mehr rechtzeitig erscheinen.

Timothy holte auf.

Thomas war ein ausgezeichneter Langstreckenläufer, doch verfügte auch er nicht über Dixons Möglichkeiten. Wo immer sich die Gelegenheit bot, nahm Timothy Abkürzungen und konnte mit Hilfe seiner Parkour-Technik Zäune, Terrassen, Mauern und Abgründe relativ problemlos überwinden, wenngleich er spürte, dass er noch immer nicht wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war und ihm allmählich die Luft ausging.

Nachdem er aber die nächste Mauer ohne Geschwindigkeitsverlust erst erklommen hatte, um dann über einen angrenzenden Balkon zurück auf den Bürgersteig zu springen, konnte er Thomas keine zehn Meter mehr vor sich ausmachen. Das spornte ihn nochmals an und er setzte weitere Kräfte frei.

Im nächsten Moment zuckte Thomas Kopf zurück und fast hätte er Timothy gesehen, wenn dieser nicht blitzschnell einen scharfen Haken nach rechts gemacht, mit Volldampf die Straße überquert und auf der anderen Seite hinter ein paar großen Bäumen Schutz gefunden hätte. Ob Thomas jedoch wusste, dass Timothy hinter ihm her war, konnte Dixon nur erahnen. Wenn aber nicht, dann konnte ihm der Überraschungseffekt hilfreich sein.

Plötzlich schickte sich Lieberman an, die Straße nach rechts zu überqueren und in eine breite Seitenstraße zu laufen. Timothy bog instinktiv noch weiter nach rechts in die angrenzende Einfahrt. Von dort aus konnte er sehen, dass er durch den Hinterhof problemlos über eine Terrasse in die Nebenstraße gelangen konnte, in die Thomas gerade einbog. Ohne zu zögern gab er Gas und raste mit Höchstgeschwindigkeit über den Rasen, hüpfte über das Brüstungsgeländer der Terrasse, vorbei an der Haustür und am anderen Ende wieder über das Geländer durch mehrere große, dichte Büsche hinaus auf den Bürgersteig. Eigentlich hatte er geplant, kontrolliert und zeitgleich mit Lieberman dort zu erscheinen, um den Runner umzurennen, doch natürlich hatte Timothy nicht mit den Büschen gerechnet. Mehr schlecht als recht und ohne echte Orientierung rauschte er hindurch, doch sprang er genau in dem Moment auf den Bürgersteig, als Thomas dort erschien. Anstatt ihn aber frontal umzurennen, krachte Timothy mit einem erstickten Aufschrei mit der linken Schulter gegen den anderen Runner. Der schrie entsetzt auf, doch konnte er nicht verhindern, dass er aus der Bahn gedrückt wurde. Dabei verlor er sein Gleichgewicht. Beim Versuch, es wiederzufinden, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren, verlor er offensichtlich für einen Augenblick die Orientierung, doch das reichte aus, dass er frontal und ohne auch nur den Hauch einer Abwehrreaktion gegen eine mannshohe Mülltonne am Straßenrand krachte. Ein lauter, hohler Knall war zu hören, als Thomas Kopf gegen den Kunststoffdeckel knallte, und sich mit seinem entsetzten Aufschrei vermischte, bevor er abrupt verstummte, sein Körper wie ein Flummi von der Mülltonne abprallte, augenblicklich jegliche Kraft verlor und er der Länge nach zu Boden schlug, wo er reglos liegen blieb.

Zu diesem Zeitpunkt war Timothy nur wenige Meter hinter ihm rüde gegen die Beifahrertür eines parkenden Dodge geknallt. Sein Aufschrei vermischte sich mit der Sirene der Diebstahlsicherung, die augenblicklich losplärrte.

Timothy aber beachtete sie nicht. Er drückte sich ab und rannte zu Thomas. Den stechenden Schmerz in seinem linken Knie ignorierte er. Als er den anderen Runner erreicht hatte, stöhnte der bereits wieder benommen und seine Augenlider flackerten. Lange würde er nicht außer Gefecht bleiben.

Dixon wirbelte herum, riss das Paket, das Lieberman beim Aufprall losgelassen hatte, vom Asphalt und rannte die Straße hinunter.

Nachdem er wieder Geschwindigkeit erreicht und einige Male durchgeatmet hatte, rief er: „Bingo!“

„Alles klar!“ gab Frank sofort zurück. „Die ähm…!“ Er betrachtete das Display genauer, um zu sehen, in welcher Richtung Dixon unterwegs war. „…zweite Querstraße auf der linken Seite. Dann erst mal immer geradeaus!“

„Okay!“ Timothy keuchte. „Aber beeil dich! Ich bin fast alle!“

„Bleib ruhig, Kleiner! Papa ist auf dem Weg!“

*

Die Sirene der Diebstahlsicherung schrillte beinahe bestialisch und weckte natürlich innerhalb weniger Sekunden etliche Anwohner auf.

So auch den Besitzer, der sofort aus dem Bett sprang und direkt auf die Straße lief. Dort sah er seinen blinkenden Dodge und wenige Meter weiter einen stöhnenden Kerl vor der Mülltonne, der am Boden lag und sich gerade wieder aufrappeln wollte. Der Besitzer war ein großer, korpulenter Mittvierziger mit strengem Kurzhaarschnitt, einem kantigen Kinn und tiefliegenden, braunen Augen. Er trat einen Schritt auf seinen Wagen zu und betrachtete ihn. Dabei fiel ihm die leichte Delle in der Beifahrertür auf. Das musste den Alarm ausgelöst haben und beim nochmaligen Blick auf den stöhnenden Thomas glaubte er, eins und eins zusammenzählen zu können. „Du!“ polterte er los und pflückte Lieberman vom Asphalt. Obwohl auch der Runner nicht gerade klein und schmächtig war, hatte der Besitzer keine Mühe, Thomas, an den Schultern gepackt, in der Luft zu halten. „Was hast du getan, Mann?“

Thomas war offensichtlich noch nicht Herr seiner Sinne, denn sein Kopf trieb noch unstet umher, sein Blick war wässrig und er stöhnte schwer.

„Bist du...?“ Der Besitzer schob seine Nase vor Eds Mund. „Bist du betrunken, oder was?“

„Was?“ stammelte Lieberman. „Ich…!“

„Oh, wahre dich, wenn du betrunken bist!“ brüllte der Besitzer und schüttelte ihn hart durch. „Du hast mein Baby beschädigt!“

Mittlerweile war auch seine Ehefrau auf der Straße erschienen und gerade dabei, die Polizei zu alarmieren.

Alle Aufmerksamkeit lag auf Thomas und so bekam niemand mit, dass eine kleine, dürre Gestalt, die verdächtige Ähnlichkeit mit Ed hatte, in hohem Tempo an ihnen vorbei die Straße entlang nach Nordwesten lief.

*

Palmer wollte die nächste Straße nach rechts abbiegen, um Richtung Nordosten zu gelangen und die Entfernung zu Timothy deutlich zu verringern, doch kaum war er abgebogen, da flammte der Bildschirm auch schon rot auf.

„Verdammt!“ raunte Frank. Er befand sich schon in der roten Zone. Sofort wendete er und verließ sie wieder. Die Uhr zeigte jetzt 45 Sekunden. Er fuhr zurück auf die andere Straße und bog nach Norden ab. So kam er Timothy nur noch wenig näher. Er musste seinen Runner also etwas umlenken. Er betrachtete sorgfältig das Display. „Die nächste links!“ sagte er dann in sein Headset.

„Wie lange noch?“ japste Dixon.

„Wir haben es bald!“ erwiderte Palmer.

„Das hoffe ich!“

Palmer erkannte, dass Timothy echte Probleme hatte. Da er wusste, dass sein Partner ein ausgezeichneter Läufer war, konnte er sich nur eine Verletzung zugezogen haben. Er musste ihm zur Hilfe kommen, sonst lief er Gefahr, dass ihnen das Paket doch noch entrissen wurde.

Frank trat deshalb auf die Bremse und fuhr den Porsche an den Straßenrand. Dixon befand sich jetzt direkt östlich von ihm. Wenn Frank die nächste Querstraße nach rechts nahm, würde er direkt auf ihn zuhalten. Doch noch war Timothy zu weit entfernt. Die Stoppuhr zeigte 45 Sekunden, Palmer blieben also nach Abzug des Wendemanövers etwa vierzig Sekunden. Das hieß zwanzig für den Hin-, zwanzig für den Rückweg. Bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern (lieber pessimistisch, als zu optimistisch) machte das rund fünfhundert Meter. Das war nicht gerade viel, aber Palmer würde die Zeit voll auszunutzen, um seinem schwächelnden Runner zu helfen. Er schätzte diese Entfernung also auf dem Display ab und fixierte diesen Punkt.

Dixon war noch rund vierhundert Meter davon entfernt. Wenn er weitere zweihundert zurückgelegt hatte, beschloss Frank, würde er losfahren.

*

Ed hätte fast abgestoppt, so überrascht war er, Timothy keine fünfzig Meter vor sich zu erkennen.

Warum er Dixon überhaupt noch verfolgte, wusste er lange Zeit nicht zu sagen, denn normalerweise wäre Ed nicht in der Lage gewesen, ihn nennenswert einzuholen. Dass er dies aber gerade jetzt doch tat, war erstaunlich, aber nur möglich, wenn Dixon eine Verletzung davongetragen hatte.

Doch Timothys Problem konnte für Ed noch die Goldmedaille auf der Zielgeraden bedeuten und deshalb mobilisierte er nochmals alle Reserven.

Und er kam tatsächlich rasend schnell näher, konnte jetzt auch deutlich erkennen, dass Dixon auf dem linken Bein humpelte. Und damit hatte er auch schon eine Angriffsstrategie.

*

Jetzt!

Timothy hatte die zweihundert Meter, wenn auch viel langsamer, als Palmer das befürchten konnte, endlich zurückgelegt.

Ohne zu zögern gab er Gas, fuhr aus der Parklücke, beschleunigte rasant bis zur Straßenecke, riss dann das Lenkrad nach rechts und donnerte in die Nebenstraße.

Schon nach wenigen Metern flammte das Display wieder rot auf und der Countdown lief abwärts. Doch dieses Mal ließ sich Frank nicht beirren. Er beschleunigte nochmals und rauschte die Straße hinab.

Das linke Bein!

Ed hatte auch noch großes Glück, denn Timothy war offensichtlich so sehr auf das Rennen konzentriert, dass er seinen Widersacher gar nicht kommen hörte.

Erst als er fast schon bei ihm war, drehte er sich um und bekam große Augen.

Doch da hatte Ed bereits zu einem rüden Tritt gegen sein linkes Knie angesetzt.

Dixon schrie schmerzhaft auf und verlor sofort das Gleichgewicht. Während er zu Boden stürzte, war er bemüht, das Paket nicht zu verlieren. Allerdings konnte er so seinen Körper kaum vor dem Aufschlag schützen. Dennoch behielt er die Hand am Koffer, wenngleich ihm das einige üble Schmerzen bereitete.

Das all das aber nutzlos war, wurde ihm sogleich bewusst, als er Ed über sich erkannte. Sein Widersacher trat ihm hart auf den rechten Unterarm, bückte sich und riss ihm das Paket aus der Hand. „Danke!“ Dabei grinste er verächtlich und richtete sich wieder auf.

Palmer rauschte die Straße hinab und hatte Glück, dass weder viel Verkehr, noch viele Menschen zu sehen waren. So konnte er mit sehr hoher Geschwindigkeit agieren. Natürlich hielt er Ausschau nach Timothy und allmählich hätte er ihn sehen müssen, als er plötzlich den Aufschrei aus dem Headset hörte. Zeitgleich nahm er Bewegung auf dem rechten Bürgersteig wahr. Jemand stürzte, ein anderer machte sich über ihn her. Schon richtete sich Ed auf – und Frank konnte den Koffer in seinen Händen sehen.

Timothy war noch nicht bereit aufzugeben.

Obwohl er überall Schmerzen verspürte, drückte er sich vom Asphalt ab und hechtete Ed hinterher. Mit einem lauten, gequälten Aufschrei stürzte er ihm in den Rücken und riss ihn zu Boden.

Ed hatte mit einer solchen Attacke wohl nicht mehr gerechnet, denn er war sichtlich entsetzt und konnte im ersten Moment nicht reagieren.

Gemeinsam schlugen die beiden Männer zu Boden und rangen miteinander um das Paket.

Gut gemacht! Frank war froh, dass Timothy noch nicht außer Gefecht war. Doch ein Blick auf die Stoppuhr zeigte ihm, dass er keine Zeit zur Freude hatte. Dabei stieß ihm die Hilflosigkeit, die ihm jetzt auferlegt war, bitter auf. Er konnte das Fahrzeug nicht verlassen, so sehr es ihm auch in den Beinen juckte. Und er durfte Ed auch nicht mit einer der Waffen im Wagen attackieren. Aber er durfte auch nicht untätig sein, denn dann würde die Zeit ablaufen und der Motor verstummen. Also tat Frank das Einzige, was ihm möglich war.

Er beschleunigte den Porsche, bis er an den Männern vorbei war, dann bremste er scharf ab, riss das Steuer herum und wendete das Auto mit quietschenden Reifen und driftendem Heck. Aus einer Eingebung heraus betätigte er dabei das Dach des Cabrios. Timothy würde vielleicht nicht die Gelegenheit haben, sauber einzusteigen. Dann beschleunigte er wieder und fuhr zurück zu den beiden Kämpfern. Da zeigte die Uhr noch sechsundzwanzig Sekunden.

Ed wollte sich auf Dixons linkes Knie stürzen, weil er dort den Schwachpunkt seines Gegners wusste. Doch Timothy gelang es, ihn davon fernzuhalten. Stattdessen donnerte er ihm den Koffer vor die Brust, sodass Ed rücklings gegen die Hauswand taumelte und hart gegen den Beton schlug.

Fast war Timothy überrascht, dass ihm diese simple Aktion so gut gelungen war und sich jetzt urplötzlich drei Meter zwischen ihm und Ed befanden. Blitzschnell blickte er sich um und war sofort heilfroh, Franks Porsche auf der Fahrbahn direkt hinter dem parkenden Auto zu erkennen, vor dem er sich jetzt befand. Auch erkannte er, dass das Dach des Fahrzeugs geöffnet war und Palmer ihm zuwinkte. Timothy überlegte nicht lange. Noch während er sehen konnte, wie sich Ed wieder fing und wütend von der Hauswand abdrückte, drehte er sich um, sprang trotz der Schmerzen in seinem Knie auf die Motorhaube des parkenden Fahrzeugs, machte dort zwei Schritte in Richtung Straße, sprang dann ab und hatte den Innenraum des Porsche im Visier.

Doch gerade, als er vollständig in der Luft war, gab Frank Vollgas.

Im allerletzten Moment erst hatte Palmer sie im Rückspiegel gesehen – Rykers Viper! Und schon blitzte es am seitlichen Fahrerfenster auf.

Palmer konnte nicht genau sagen, was dieser miese Dreckskerl auf ihn abgefeuert hatte, doch er hatte nicht vor, es zu spüren zu bekommen.

Glücklicherweise war die Viper noch rund zweihundert Meter entfernt gewesen, als das Projektil freigegeben wurde. Als Frank das Gaspedal des Porsche einmal kurz und kräftig trat und dabei das Steuer herumriss, sorgte er dafür, dass das Heck eine hundertachtzig Grad-Drehung vollführte. Kaum war das geschehen, zischte das Projektil in Augenhöhe an der Beifahrerseite vorbei. Jetzt konnte Frank es auch erkennen. Es war das EMP-Geschoss. Ryker war sich offensichtlich so sicher, dass er Frank überlisten konnte, dass er das schwerste Geschütz von allen aufgefahren hatte. Doch da hatte er Pech gehabt, Palmer war besser, als er es befürchten konnte und der Porsche nahm keinerlei Schaden.

Allerdings konnte Frank bei seiner Aktion natürlich nicht vollkommen verhindern, dass Timothy Probleme bekam. Zwar hatte er versucht, den Porsche quasi auf der Stelle zu wenden, doch war ihm das nur bedingt gelungen.

Als Timothy wild schreiend und mit vollkommen entsetztem Gesichtsausdruck nur wenige Zentimeter über dem EMP-Geschoss auf den Porsche zu rauschte, war Palmer klar, dass es wehtun würde. Denn anstatt sauber im Innenraum zu landen, knallte Timothy mit den Unterschenkeln gegen die Beifahrerseite. Während sein Unterkörper dadurch abrupt abgebremst wurde, klappte sein Oberkörper nach vorn und landete unsanft auf dem hinteren Notsitz. Zu allem Überfluss wurde ihm das Paket dabei aus den Fingern gerissen und es segelte im hohen Bogen über das Auto hinweg auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo es über den Asphalt schlidderte, bevor es zum Erliegen kam.

Zu diesem Zeitpunkt zeigte der Countdown noch neunzehn Sekunden.

Instinktiv gab Frank erneut Gas und ließ den Porsche zum dritten Mal innerhalb weniger Momente um die eigene Achse driften. Dabei lenkte er ihn auf die Gegenfahrbahn.

Timothy schräg hinter ihm musste seinen rechten Arm fest gegen die Außenhülle pressen, um zu verhindern, dass er herausgeschleudert wurde. Da sich sein Kopf in Richtung Heck befand, konnte er auch nicht sehen, was Frank vorhatte. „Verdammt, willst du mich umbringen?“ brüllte er mit hochrotem Kopf.

„Bleib so!“ gab Frank jedoch nur zurück und beschleunigte den Porsche.

Noch siebzehn Sekunden

„Was?“ kreischte Timothy. „Bist du irre?“

Palmer antwortete nicht, sondern lenkte den Porsche links neben das Paket und bremste scharf ab. „Nimm es!“

Timothy schaute ungläubig über das Chassis auf den Koffer auf dem Asphalt, doch griff er natürlich sofort zu. „Hab ihn!“

Frank grinste freudlos, beugte sich zu Dixon herüber, ergriff seinen Gürtel und zog ihn mit einem kurzen Ruck ins Wageninnere. Im selben Moment gab er schon wieder Vollgas.

Noch vierzehn Sekunden.

Timothy rutschte mit einem tiefen Stöhnen auf den Beifahrersitz. „Verdammt Mann, nicht so grob!“

Plötzlich ertönte aus dem Navigationsgerät in der Mittelkonsole ein Piepton und im Norden der Stadt blinkte ein blauer Punkt auf: Das Ziel!

„Schnauze!“ erwiderte Frank tonlos, während er die Existenz und die ungefähre Lage des blauen Punktes kurz registrierte. „Weichei!“

Noch neun Sekunden.

„Na, Danke auch!“ Timothy verzog säuerlich die Mundwinkel. „Nächstes Mal holst du das Paket!“

Frank grinste erneut freudlos. Dabei schaute er in den Rückspiegel und konnte sehen, wie die Viper schnell näher kam, weil Ryker schon früher beschleunigt hatte.

Noch sieben Sekunden.

Ed hatte sich offensichtlich wieder gefangen und während Ryker etwas abbremste, sprang der Runner durch die geöffnete Scheibe der Beifahrertür in den Innenraum. Sofort danach beschleunigte Ryker wieder und kam noch näher. Schon wollte er sich neben sie setzen. Frank sah, wie Ed sich aus dem Fenster schob und eine Waffe in der Hand hatte. Er zielte auf den hinteren linken Reifen.

Instinktiv lenkte Frank den Porsche nach links. Ryker musste abbremsen, Ed konnte nicht schießen.

Noch vier Sekunden.

Schon attackierten sie ihre Widersacher von der anderen Seite und Frank musste erneut gegenlenken.

Noch zwei Sekunden.

Palmer drückte den Fuß noch fester auf das Gaspedal, obwohl er den Boden damit längst erreicht hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde war er komplett angespannt, weil er nicht sicher war, ob die Zeit reichen würde, dann aber spürte er wieder diese Ruhe in sich, die ihm sagte, dass er alles richtig gemacht hatte.

Sie würden es schaffen. Schon beschäftigte er sich daher damit, ihre Widersacher erst einmal los zu werden.

Als der Countdown auf eine Sekunde umsprang hatten sie die Kreuzung fast erreicht und quasi in dem Moment, da er abgelaufen war, erlosch das Display in der flammend roten Farbe und zeigte wieder das normale Bild.

Dixon auf dem Beifahrersitz hatte sich total verkrampft und absolut gebannt auf die herablaufenden Ziffern gestarrt, jetzt fiel ihm der Mount Everest mit einem tiefen Stöhnen vom Herzen. „Oh Mann!“ Er prustete die Luft aus den Lungen.

Zu diesem Zeitpunkt aber donnerte der Porsche, dicht gefolgt von der Viper über die große Kreuzung, die, im Gegensatz zu der Seitenstraße, zumindest einigermaßen Verkehr zeigte.

Franks rechter Zeigefinger zuckte kurz vom Lenkrad und betätigte den Auslöser für eine der beiden Rauchbomben in der Mittelkonsole. Während er mit eiskalter Ruhe den Porsche in Höchstgeschwindigkeit und mit den kleinstmöglichen Lenkbewegungen, sicher über die Kreuzung zwang, detonierte das Projektil und hüllte ihre Verfolger augenblicklich in dichten Nebel.

Halo

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