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VI. Rechtfertigung

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Die Maßnahme könnte gem. Art. 36 AEUV gerechtfertigt sein. Nach der st. Rspr. des EuGH ist Art. 36 AEUV als Ausnahme vom Grundsatz des freien Warenverkehrs innerhalb der Union eng auszulegen. Zu nationalen Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit hat der EuGH inzwischen mehrfach entschieden, dass unter den vom Vertrag geschützten Gütern und Interessen die Gesundheit und das Leben von Menschen den höchsten Rang einnehmen und dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Da sich dieses Niveau von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden kann, ist den Mitgliedstaaten ein Wertungsspielraum zuzuerkennen[13]. Dazu gehört auch, wie streng die durchzuführenden Kontrollen sein sollen[14]. Der EuGH stellt zunächst fest, dass bei der Abgabe von Medikamenten durchaus Aspekte des Gesundheitsschutzes eine Rolle spielen könnten, so dass Art. 36 AEUV grundsätzlich einschlägig ist.

Grundsätzlich kommt vorliegend, weil das Verbot des Versandhandels eine formal unterschiedslos geltende Maßnahme ist, auch eine Anwendung der sog. „Cassis-Formel“[15] in Betracht. Jedoch wird der Aspekt des Gesundheitsschutzes, weil er ausdrücklich in Art. 36 AEUV geregelt ist, im Rahmen dieser Vorschrift und nicht als zwingendes Erfordernis geprüft.

Jedoch müssten die Maßnahmen auch verhältnismäßig sein. Insbesondere müssen sie geeignet und erforderlich sein, um den Zweck des Gesundheitsschutzes zu erreichen[16]. Hinsichtlich der Geeignetheit ist nur zu prüfen, ob das Verbot des Versandhandels den Zweck des Gesundheitsschutzes fördert. Dies kann man unter dem Gesichtspunkt bejahen, dass der Versandhandel für den Kunden höhere Risiken birgt als der Verkauf in Apotheken, wo eine Beratung durch kundiges Personal möglich ist.

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Fraglich ist aber, ob das Verbot auch erforderlich ist. Hier differenziert der Gerichtshof zwischen verschreibungspflichtigen und nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten. Während bei ersteren ein Verbot des Versandhandels erforderlich sein könne, um Missbrauch von Rezepten zu verhindern und eine ausreichende Beratung der Kunden zu sichern, seien bei nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten diese Argumente nicht tragfähig[17].

Der Gerichtshof geht davon aus, dass die Gesundheitsgefahren infolge des Versandhandels bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln größer seien als bei nicht verschreibungspflichtigen. Dem könnte man entgegenhalten, dass bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln bereits ein Arzt eingeschaltet war, um die Notwendigkeit des Mittels im konkreten Fall zu überprüfen. Eine solche Betrachtung schätzte allerdings die Tätigkeit des Apothekers zu gering. Es kommt oft vor, dass der Arzt nur bestimmte Wirkstoffe verschreibt. Ob diese in einem bestimmten Präparat in genau der verschriebenen Dosis enthalten sind, kann der Laie nicht so ohne Weiteres beurteilen. Somit kommt es für den Gesundheitsschutz unter anderem auch auf die Vertriebsstufe der Apotheke bzw. des Versandhandels an.

Die Gefahr falscher Dosierung oder der Wahl des falschen Präparats kann zwar bei jeder Form von Medikament auftreten. Jedoch wirken sich Fehler bei verschreibungspflichtigen Medikamenten regelmäßig stärker aus. Die Verschreibungspflicht knüpft an die Gefährlichkeit der Inhaltsstoffe eines Arzneimittels an und beinhaltet somit bereits eine abstrakte Gefahrenselektion, an die auch Regelungen über den zulässigen Vertriebsweg anknüpfen können.

Schließlich lassen sich die Gefahren falscher Medikation auch nicht durch die Ausgestaltung des Versandhandels in ausreichender Weise minimieren. Es kann nicht sichergestellt werden, dass der Kunde in ausreichendem Maße Beratungsangebote wahrnimmt, die ihn vor den gesundheitlichen Gefahren schützen.

Auch was den Schutz vor dem Missbrauch von Rezepten angeht, ist dem EuGH zu folgen. Eine Abgabe rezeptpflichtiger Arzneimittel in Apotheken begründet einen umfassenderen Schutz vor Manipulationen und Fälschungen.

Im Ergebnis hält der EuGH das Verbot zu Recht nur für verschreibungspflichtige Arzneimittel für gerechtfertigt.

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