Читать книгу Klausurenkurs im Europarecht - Andreas Musil - Страница 65
1. Richtlinien als Maßstab mitgliedstaatlichen Handelns
Оглавление41
Richtlinien (Art. 288 III AEUV) spielen in der europarechtlichen Klausurpraxis eine große Rolle. Im Gegensatz zu den Verordnungen sind sie innerstaatlich grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar, sondern bedürfen der Umsetzung in nationales Recht. Sie sind vor allem der Maßstab für mitgliedstaatliche Umsetzungsmaßnahmen, die an ihnen gemessen werden können. Dabei ist zu beachten, dass sie gem. Art. 288 III AEUV für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des Ziels verbindlich sind, ihnen aber bei der Umsetzung einen Spielraum lassen. Dieser Spielraum ist indes umso geringer, je detaillierter die Richtlinienregelung selbst ist. Der Unionsgesetzgeber tendiert mehr und mehr dazu, so umfangreiche Richtlinienbestimmungen zu erlassen (sog. „Vollharmonisierung“), dass es praktisch zu einer Vollprüfung der mitgliedstaatlichen Umsetzungsmaßnahme kommt.
Gegenstand der Klausur wird nicht selten eine Konstellation sein, in der ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht fristgerecht umgesetzt hat. Hier ist zu untersuchen, ob die Richtlinie gleichwohl schon Wirkung für das innerstaatliche Recht entfalten kann. Zunächst kann das bereits bestehende Recht richtlinienkonform ausgelegt werden[20]. Zudem hat der EuGH das Instrument der „unmittelbaren Wirkung“ von Richtlinien entwickelt, um das mitgliedstaatliche Verhalten zu sanktionieren und dem Einzelnen trotz versäumter Umsetzungsfrist die aus der Richtlinie fließenden Rechte zukommen zu lassen. Führen Auslegung und unmittelbare Wirkung nicht zum Ziel, so kann in einem letzten Schritt über einen Staatshaftungsanspruch wegen versäumter Umsetzung nachgedacht werden.
Hat der Mitgliedstaat die Richtlinie zwar umgesetzt, hält ein Einzelner die Umsetzung aber gleichwohl für unzureichend, so stehen grundsätzlich die gleichen Instrumente zur Verfügung: Das Umsetzungsgesetz kann richtlinienkonform ausgelegt werden, einzelne seiner Bestimmungen können durch eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie überlagert sein, schließlich ist ein Staatshaftungsanspruch denkbar.
Prozessual kann die Unvereinbarkeit von nationalem Recht mit Richtlinien in jedem staatlichen Gerichtsverfahren und vor jedem Gericht gerügt werden. Das angerufene Gericht muss gegebenenfalls dem EuGH vorlegen, um im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV die zutreffende Auslegung der Richtlinie feststellen zu lassen. Ein Verstoß nationalen Rechts gegen Richtlinienrecht kann aber auch von der Kommission im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV gerügt werden.