Читать книгу Geschichte der USA - Anke Ortlepp - Страница 27
Egalitäre Tendenzen und Krise der Autorität
ОглавлениеDie amerikanischen Revolutionäre brauchten keine fest gefügte ständische Gesellschaftsordnung mit erblichen Vorrechten und Adelstiteln umzustürzen. Dennoch hatte der UnabhängigkeitskriegUnabhängigkeitskrieg über die bloße AbtrennungGroßbritannienRevolutionsepoche vom Mutterland hinaus auch eine auf innere Veränderungen gerichtete soziale Dynamik erzeugt. Der Zwang zur Entscheidung für oder gegen bewaffneten Widerstand sprengte die koloniale Oberschicht, deren Repräsentanten bis in die 1770er Jahre hinein fast überall das politische Geschick der Kolonien bestimmt hatten, und katapultierte „Emporkömmlinge“ in eine sich neu konstituierende republikanische Elite. Zusammen mit den königlichen Gouverneuren, Offizieren und Beamten wurden im Verlauf des Krieges nicht weniger als 80–100.000 LoyalistenLoyalisten aus den dreizehn Staaten vertrieben bzw. verließen Amerika freiwillig in Richtung EnglandGroßbritannienRevolutionsepoche oder KanadaKanadaUnabhängigkeitskrieg. Gemessen an der Gesamtbevölkerung bedeutete das einen größeren Aderlass, als ihn Frankreich im darauf folgenden Jahrzehnt mit der Hinrichtung und Flucht von „Konterrevolutionären“ erlebte. Die Loyalisten rekrutierten sich zwar aus allen Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen, aber Besitzende und Gebildete waren proportional am stärksten vertreten. Wer das Land verließ, musste damit rechnen, dass sein Eigentum konfisziert und zu Gunsten der Staatskasse versteigert wurde. Obgleich solche Zwangsenteignungen die Ausnahme blieben und nach Kriegsende z.T. rückgängig gemacht wurden, verhalfen sie doch etlichen PatriotenPatrioten zu raschem Reichtum und einer steilen Karriere. Insgesamt ist davon auszugehen, dass in dem Jahrzehnt von 1774 bis 1783 über 70 Prozent der kolonialen Amtsinhaber ihre Stellung verloren und etwa die Hälfte der Oberschicht ausgetauscht wurde. Dass dies nicht ohne Folgen für die gesellschaftliche Stabilität der jungen amerikanischen Staaten bleiben konnte, liegt auf der Hand.
Die Veränderungen beschränkten sich aber nicht auf die Umschichtung von Besitzverhältnissen innerhalb der Elite. Bewusstseins- und mentalitätsmäßig zertrümmerte die Revolution das auch in Amerika noch durchaus wirksame monarchisch-ständische Weltbild und stellte die Hierarchien und Statuszuweisungen der deferential society in Frage. Die massenhafte Teilnahme am politischen Prozess, die Entstehung einer „öffentlichen Meinung“ und der Abbau sozialer Schranken durch das Kriegserlebnis lösten eine generelle Autoritätskrise aus, die sich in der Politik der 1780er Jahre erst richtig bemerkbar machte und die bis in die Familienbeziehungen hineinwirkte. Die radikal-republikanische Komponente der Country-IdeologieCountry-Ideologie unterstützte den Anspruch des common man, in allen wichtigen Dingen mitreden und mitentscheiden zu dürfen. Vermögen und Bildung galten nicht mehr als unerlässliche Voraussetzung für ein politisches Amt, sondern die Fähigkeit zum Regieren wurde jedermann zugebilligt, der sich für das „größte Glück der größten Zahl von Menschen“ einsetzte – eine Formel, die von den schottischen Aufklärern um Adam Ferguson und Francis Hutcheson als Maßstab für „good government“ proklamiert worden war. „Einfache Leute“ erschienen sogar als bessere Repräsentanten des Volkes, weil sie am ehesten mit den Sorgen und Wünschen der Bürger vertraut waren. Dass solche Einstellungen praktische Folgen zeitigten, erkennt man sehr gut an der Zusammensetzung der Staatenparlamente, in denen nun – mit regionalen Unterschieden – doppelt bis dreimal so viele einfache Farmer und Handwerker vertreten waren wie in den vorrevolutionären Assemblies. Hier trugen nun erstmals parteiähnliche Fraktionen ganz offen Interessenkonflikte aus, die zur Kolonialzeit in exklusiven Zirkeln geregelt worden wären und die man im Krieg der Solidarität der PatriotenPatrioten untergeordnet hatte. So entbrannte in den Legislativen nach der Tilgung der letzten Reste des feudalen Erbrechts der Streit um eine ausgewogene Verteilung der Steuerlasten, um die Vor- oder Nachteile von Papiergeld sowie um die Beseitigung wirtschaftlicherWirtschaft Monopole und religiöser Privilegien. Diese egalitäre Tendenz wurde in Wahlreden, Zeitungen und Pamphleten von heftigen rhetorischen Attacken auf noch bestehende oder vermeintliche Vorrechte begleitet. Viele Argumente, die gegen britischeGroßbritannien „Tyrannei“ und „Versklavung“ vorgebracht worden waren, dienten nun dazu, die soziale Kontrolle der einheimischen Elite weiter zu schwächen. Die revolutionäre Dynamik begann also die gesamte politische Kultur zu transformieren, was die einen als demokratische Verheißung, andere hingegen als Auflösung der gesellschaftlichen Bande interpretierten.
Thomas PainesPaine, Thomas Aufruf, die „Welt neu zu beginnen“, konnte den Amtsinhabern und Parlamentariern nicht als praktische Handlungsanleitung dienen. Auch historisch gab es keinen brauchbaren Präzedenzfall, denn seit Oliver CromwellsCromwell, Oliver gescheitertem Commonwealth im 17. Jahrhundert hatte niemand bewusst ein neues RegierungssystemRegierungssystem konstruiert. Nach 1784 breitete sich in der revolutionären Führungsschicht allmählich die Überzeugung aus, dass die idealistisch-nostalgischen Vorstellungen, mit denen man den Kampf gegen das Mutterland geführt hatte, den Anforderungen der Unabhängigkeit nicht oder nur teilweise entsprachen. Der starre Antizentralismus der republikanischen Country-IdeologieCountry-Ideologie, der schon im Krieg Koordinierungsprobleme geschaffen hatte, ihr extremes Machtmisstrauen, das eher zur Opposition als zum konstruktiven Regieren befähigte, und die von ihr erzeugte moralische Aversion gegen Handel und Kommerz erschwerten die notwendige Anpassung an die neuen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Die radikalen PatriotenPatrioten und ihre aufklärerischen Freunde und Bewunderer in Europa hofften, die amerikanischen Staaten würden den Beweis erbringen, dass es eine freiheitliche Alternative zur absoluten Monarchie und zum britischenGroßbritannien Empire-Modell gab. In gemäßigteren Kreisen war man jedoch skeptisch, denn konföderative Republiken wie die SchweizSchweiz oder die Vereinigten NiederlandeNiederlande galten – im Vergleich zu den „modernen“ zentralisierten Nationalstaaten EnglandGroßbritannienVerfassung und Frankreich – als antiquiert und kaum entwicklungsfähig. Noch weniger schien eine Rückkehr zu den Verhältnissen der römischen Republik oder gar zur strengen Genügsamkeit Spartas möglich. Konservative Beobachter hielten es schlichtweg für illusorisch, ein Gemeinwesen auf die freiwillige Zustimmung und die moralischen Tugenden seiner Bürger zu gründen anstatt auf patriarchalische Autorität, Zwang und klare Herrschaftsverhältnisse. Das Geschehen in den ersten Jahren der Unabhängigkeit schien diese Skeptiker und Gegner zu bestätigen, die den Vereinigten Staaten keine lange Überlebensdauer vorhersagten. Im Innern geriet das „amerikanische Experiment“ von zwei Seiten unter Druck: Zum einen erwies sich der Konföderationskongress als unfähig, die ihm gestellten Regierungsaufgaben zu erfüllen; zum anderen gelang es den souveränen Einzelstaaten nicht, aus eigener Kraft die desillusionierende Nachkriegsmisere zu überwinden.