Читать книгу Blut fließt auf der Wall Street - Annette Meyers - Страница 11

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»Wie war er gekleidet?« fragte Wetzon, doch ihre Gedanken wanderten hierhin und dorthin. Stell keine Vermutungen an. Es mußte nicht Brian sein. Es konnte sich um jeden x-beliebigen handeln. In der Hoffnung auf Weiterempfehlung überreichte sie ihre Karte ziemlich wahllos, und sie war damit immer gut gefahren.

Ferrante blickte sie wieder an. Sein kräftiger Arm lag über der Lehne des Autositzes. »Teurer Anzug, weißes Hemd, gelbe, in sich gemusterte Seidenkrawatte, gute Schuhe … Hosenträger.«

Emile Martens, der schwarze Detective, der den Wagen fuhr, schnaubte verächtlich.

»Wann, glauben Sie, ist es passiert?«

»Er war kalt und steif. Heute morgen irgendwann zwischen fünf und neun vielleicht.«

Es konnte sich nicht um Brian handeln, dachte sie. Er wohnte an der West Side. Sowohl seine alte Firma – Bliss Norderman – als auch die neue, Loeb Dawkins, lagen in Midtown, die eine in der Sixth Avenue, die andere in der Park. Der Conservatory Garden an der 104. Street und Fifth Avenue lag für ihn also kaum am Weg.

Freitag abend und dazu Berufsverkehr bedeuteten, daß die Second Avenue verstopft war. Die Autos krochen auf die Brücke an der 59. Street und auf den Queens Midtown Tunnel zu, um nach Hause nach Long Island oder zum Wochenendhaus in den Hamptons zu kommen. Es war ein herrlicher Nachsommer, und die New Yorker strömten aus ihren Wohnsilos zum Meer. Wie die Lemminge, dachte sie, indem sie die Augen schloß und sich zurücklehnte. Ihr Magen machte abwechselnd plötzliche Sprünge oder verkrampfte sich vor Hunger. Sie hatte genug Leichen gesehen.

Ein dumpfer Schlag auf das Autodach ließ sie die Augen öffnen. Ein kreisendes rotes Licht strahlte von ihrem Auto aus alles um sie herum an. Ein Schleichweg tat sich vor ihnen auf. Eine Sirene heulte auf, und Emile steuerte das Auto durch die Gasse, fädelte sich in Spuren ein und scherte aus, fuhr hinüber auf die First Avenue und hielt schließlich vor einem Steinbau in der 30. Street. Es war das Viertel des University Hospital, und es war normal, daß man hier Medizinalassistenten und Assistenzärzte, Schwestern und Pfleger in Krankenhausweiß oder Chirurgengrün sah, die sich unter die Bewohner mischten. Die meisten New Yorker Krankenhäuser unterhielten einigermaßen preiswerte Wohnungen, womit sie ihren Angestellten eine gute Chance gaben, wenn man dagegenhielt, was den normalen New Yorker das Leben kostete.

Auf dem Metallbaldachin über dem Eingang des Gebäudes war der Name aufgedruckt: ABTEILUNG FUR FORENSISCHE PATHOLOGIE.

Auf dem Bürgersteig zeigten Ferrante und Martens Ausweise vor und sprachen kurz mit dem Posten, der in ein Walkie-talkie brüllte. Ein paar Minuten später kam ein junger Asiate in Weiß, dessen Namensschild ihn als »Dr. Michael Reyes« auswies, die Treppe herauf und führte sie in den Keller hinunter. Alle bis auf Wetzon. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Als sie die Treppe hinunterblickte, graute es sie plötzlich. Es würde jemand sein, den sie kannte, und sie kam auf den irrationalen Gedanken, sie könne es vielleicht aufschieben. Sollten sie nur vorausgehen. Sie würde hier warten.

»Es wird schon gehen, Ms. Wetzon.« Martens war die Treppe heraufgekommen und stand drei Stufen tiefer als sie, so daß ihre Augen auf einer Höhe waren. Er hatte Augen wie schmelzende Schokolade. »Solche Dinge sind nie leicht, aber Sie sind unsere beste Möglichkeit. Er könnte irgendwo eine besorgte Frau oder Kinder haben … Okay?« Als sie nickte, fügte er kurz und bündig hinzu: »Und atmen Sie durch den Mund. Der Geruch wird Ihnen nicht gefallen.«

Ferrante war unten verschwunden, und als Wetzon Martens widerstrebend nach unten folgte, sah sie Ferrante mit einer bleichen attraktiven Frau reden, die ein cremefarbenes Strickkleid unter einem offenen weißen Labormantel trug. Sie wurde als Dr. Jennie Vose, zweite Leichenbeschauerin, vorgestellt.

In die Wand direkt vor ihr eingebaut war ein Fenster, durch das man in einen Raum blickte, der eingebaute, vom Boden bis zur Decke reichende Stahlschränke mit großen Schubladen enthielt.

Ferrante sagte: »Wir ziehen ihn jetzt einfach heraus, Ms. Wetzon, und decken sein Gesicht auf. Sehen Sie genau hin. Sind Sie bereit?«

»Ja.«

»Gehen Sie, Mike«, wandte sich Ferrante an Dr. Reyes, der mit Dr. Vose den Kühlraum betrat.

Mike zog den Griff an einer Schublade, und sie öffnete sich. Dr. Vose warf einen Blick hinein. Sie schüttelte den Kopf und deutete auf ein anderes Fach.

Du meine Güte, dachte Wetzon, während sie mit kurzen Zügen atmete. Ihr ganzer Körper zitterte, wurde zu Eis. Sie spürte Ferrantes heißen Atem an ihrem Ohr und schloß die Augen.

Als sie sie aufschlug, war die nächste Schublade halb herausgezogen. Sie erkannte die Umrisse eines Gesichts unter dem weißen Laken. Möge es doch niemand sein, den sie kannte.

»Jetzt, Ms. Wetzon.« Mike schlug die Decke vom Gesicht, und Wetzon zwang sich, den Blick zu senken.

Sie sah rötlich-braunes Haar, ein eckiges Kinn, rot und violett gefleckte Haut. Nackte Schultern und krauses rotes Brusthaar. Der Mund zu einem stummen Schrei verzerrt. Ein Auge zerkratzt, das andere – mein Gott – Bedeckt sein Gesicht. Bedeckt sein Gesicht!, schrie sie im Geist. Die Hände hochgereckt, um sich zu schützen, hörte sie den eigenen erstickten Schrei, wich zurück und stieß mit Martens zusammen.

»Sie kennen ihn?« wollte Ferrante wissen.

Sie schloß die Augen und atmete, die Anweisungen vergessend, heftig durch die Nase ein. Aasgeruch vermischt mit Antiseptika. Biologisches Labor, der Frosch auf das Sezierbrett gespießt. Sie stöhnte unwillkürlich auf. Werde erwachsen, befahl sie. Werde erwachsen.

»Wer ist es?« Ferrante hörte sich ungeduldig an.

Wetzon blickte noch einmal auf das Gesicht. Selbst durch ein Fenster war der Anblick eines Toten im Leichenschauhaus entsetzlich. Er war nackt und ausgeliefert. Das linke Auge war weggeschossen. Wo es sein sollte, befand sich ein doppelter Ring aus zwei verschiedenen Schattierungen getrockneten Blutes, Knochensplitter, Schleim und andere Dinge, die sie nicht benennen wollte. Ein schwarzer Faden aus verkrustetem Blut kam aus seinem rechten Ohr.

»Das ist Brian Middleton«, sagte sie.

Blut fließt auf der Wall Street

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