Читать книгу Blut fließt auf der Wall Street - Annette Meyers - Страница 8

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»Das darf doch nicht wahr sein.« Wetzon umklammerte den Hörer.

»Was darf nicht wahr sein?« fragte Smith, ohne sich nach ihr umzudrehen. Sie betrachtete sich in einem Handspiegel. »Verdammt, schon wieder ein graues Haar. Autsch.« Sie riß es aus.

»Brian Middleton. Bliss Norderman sagt, das er heute nicht da ist, und bei Loeb Dawkins ist er überhaupt nicht aufgetaucht.«

Smith ließ den Spiegel auf den Tisch fallen und drehte sich mit ihrem Stuhl um. »Wieviel produziert er?«

»Dreiviertel Million. Er sollte als erstes heute morgen dort aufhören und sofort zu Loeb Dawkins gehen, damit sie heute ins reine kommen.« Wetzon schlug mit der Faust so fest auf den Tisch, daß der Briefbeschwerer in Form eines Marmorpfirsichs, den Laura Dee Day ihr geschenkt hatte, ins Rollen kam. »Verdammt!« Sie fing ihn gerade noch auf, behielt ihn in der Hand und streichelte geistesabwesend über die rauhe Oberfläche. »Er kann nicht woanders hingegangen sein. Ich sprach gestern abend noch mit ihm, und alles war abgemacht.«

»Geraten wir nicht in Panik«, sage Smith mit Panik in der Stimme. »Es geht um ein großes Honorar, und noch haben wir es nicht verloren. Ruf ihn zu Hause an. Vielleicht ist er krank.«

Wetzon zuckte die Achseln. Das war ziemlich unwahrscheinlich, und das wußte auch Smith. »Okay, was soll’s.« Sie tippte die Zahlen ein und lauschte. Beim vierten Läuten schaltete sich der Anrufbeantworter ein, dann hämmerte Musik, die nach Twin Peaks klang, gefolgt von Brians Stimme, die um eine Nachricht nach dem Piepton bat und mit dem Vorschlag endete, »an den Frieden zu denken«. Wetzon hätte ihn am liebsten angebrüllt, aber sie ließ es bleiben. Das wäre auf jeden Fall unprofessionell gewesen. Also bemühte sie sich um genau den richtigen Ton kühler Dringlichkeit. »Brian, hier ist Wetzon. Wo stecken Sie? Bitte rufen Sie mich an.« Sie gab ihre Telefonnummer im Büro und zu Hause an und legte auf.

»Der gemeine Dreckskerl ist woanders hingegangen.« Smith näherte sich dem Siedepunkt.

»Mag sein, aber ich kann es mir nicht gut vorstellen. Brian hat soviel Zeit darauf verwendet, diesen Wechsel gründlich vorzubereiten. Verdammt, ich habe viel Zeit darauf verwendet, das alles zu regeln.«

»Wie kannst du nur immer noch glauben, die würden sich jemals richtig verhalten! Darf ich dich an Fran Berman erinnern?«

Wetzon hielt abwehrend die Hand hoch. »Bitte nicht.« Fran hatte gekündigt und wollte sich gerade in ihr Auto setzen, um zu Wertenheimer zu fahren, als ihr ein Makler über den Weg lief, mit dem sie früher zusammen gearbeitet hatte und der jetzt bei Dean Witter war. Eine halbe Stunde später war Fran Berman Maklerin bei Dean Witter. Was machte es schon, daß Wertenheimer Geschäftskarten hatte drucken lassen und ein Büro aufgemöbelt hatte? Was machte es schon, daß sie sich per Handschlag mit dem Geschäftsführer geeinigt hatte? Und was das Maß voll machte, war, daß sie sich nicht einmal die Mühe machte, Wetzon oder den Geschäftsführer bei Wertenheimer anzurufen, um ihren Sinneswandel mitzuteilen. Sie hatte sich nicht einmal entschuldigt. Wetzon seufzte. »Als der liebe Gott die Manieren verteilte, muß er wohl eine ganze Menge Börsenmakler ausgelassen haben.«

»Hm.« Smith griff zum Telefon. »Wie ist die Nummer von diesem Miststück bei Bliss Norderman?« Ihre langen Finger tanzten über die Tasten, als Wetzon ihr die Zahlen zurief. »Mr. Middleton bitte.« Pause. »Aha, na schön, dann rufe ich morgen an.« Sie zog eine elegant gebürstete Braue hoch und sah Wetzon an, während sie auflegte. »Er wird morgen dort sein. Ha! Probier es noch mal bei ihm zu Hause.«

Wetzon hörte die Zahlen durchlaufen und wurde diesmal mit einem Besetztzeichen belohnt. »Entweder er ist da, oder es versucht noch jemand, ihn zu erreichen.«

Sie schauten sich an. Smith fragte: »Wo wohnt der verkommene Kerl? Immer noch in dem Reihenhaus an der Upper East Side?«

»Nein, er und Rona haben sich getrennt, weißt du nicht mehr? Sie hat das Reihenhaus, das Baby und das Kindermädchen …«

»Und er hat das Geschäft?«

Rona Middleton war Börsenmaklerin gewesen und hatte sich einen hübschen Kundenstamm aufgebaut. Er war ein verkorkster Rechtsanwalt. Rona brachte ihren Mann ins Geschäft, sorgte für seine Lizenz, und sie begannen, gemeinsam zu arbeiten. Als Rona mit vierzig zum erstenmal schwanger wurde, konzentrierte sie sich ganz auf die Schwangerschaft, und Brian kümmerte sich um die Konten. Beide planten, zu Rosenkind, Luwisher zu wechseln. Rona wollte zuerst gehen, Brian sollte ihr dann drei Monate später folgen. Ihr Geschäftsführer würde Ronas Konten nicht verteilen, weil Brian sie ja verwaltete. Doch kaum hatte Rona sich bei Rosenkind, Luwisher eingerichtet, kündigte Brian an, er wolle sich scheiden lassen. Er hatte nie beabsichtigt, die Stelle zu wechseln. Nebenbei waren die meisten Kunden Ronas bei Brian geblieben.

»Mir tut sie leid. Sie hat ganz schön zu kämpfen. Er hat eine Wohnung an der West Side. 79. Street nahe Columbus. Letzte Woche traf ich ihn zufällig in der Kaffeeschlange bei Zabar’s.« Wetzon warf einen Blick auf ihren Terminkalender. Jede Menge Anrufe zu erledigen, aber keine Verabredungen. Sie probierte es noch einmal bei Brian. Immer noch besetzt. Sie schob den Stuhl zurück. »Ich fahre hoch und fange ihn ab. In diesem Fall will ich keinen Verlust einstecken.«

»Ich komme mit.« Smith stand auf und warf einen prüfenden Blick in den großen Spiegel an der Innenseite der Badezimmertür. Sie lächelte ihrem Spiegelbild verführerisch zu.

Danke vielmals, dachte Wetzon, während sie die Jacke überzog. Schärfer als beabsichtigt sagte sie: »Ich brauche keine Begleitung.«

»Ich schütze unsere Investition, Zuckerstück. Außerdem bin ich um halb sechs bei Enzo verabredet, das sich, falls du dich erinnerst, in der Central Park South befindet, danach Abendessen mit Twoey …«

»Verschone mich mit den minuziösen Details deines Terminkalenders.« Normalerweise gelang es ihr, Smith’ Überspanntheit zu ignorieren, heute jedoch nicht. Außerdem ärgerte es sie maßlos, wenn sich Smith’ schlechte Meinung von Börsenmaklern als richtig erwies. In Wahrheit mochte Wetzon nämlich die meisten Kandidaten, mit denen sie arbeitete, ganz gern. Sie waren talentiert, aufregend, egozentrisch und flatterhaft – genau wie die Leute, mit denen Wetzon am Broadway gearbeitet hatte.

Verärgert packte Wetzon drei ›Fahndungsbogen‹ in die Aktentasche. Sie wollte die Leute später anrufen. Aus Gründen der Vertraulichkeit – es war nahezu unmöglich, in Wall Street etwas geheimzuhalten – ließen sich manche Makler lieber zu Hause anrufen. »Na gut, dann komm mit«, sagte sie versöhnlich zu Smith, indem sie sich bemühte, ihre gute Laune wiederzufinden, »aber gehen wir gleich.«

In dem kleinen Empfangsbereich, der einmal zur ursprünglichen Küche gehört hatte, standen drei Sessel, die Kaffeemaschine auf einem Beistelltisch und ein Schreibtisch. Der Schreibtisch hatte zunächst Harold gehört, ihrem Assistenten, dann hatte B.B. zwei Jahre hier gesessen, während er als Kundenwerber und Assistent arbeitete, und Harold war Teilhaber geworden.

Letztes Jahr, nachdem der doppelzüngige Harold Alpert sie verlassen hatte, hatten sie B.B. in Harolds Kämmerchen gesetzt und begonnen, Ersatz für B.B.s alten Posten zu suchen. Es war ein Fiasko gewesen. Sie stellten Leute ein, die dann nie erschienen, und andere erschienen zwar, blieben aber nie länger als drei oder vier Wochen. Jetzt gehörte der Schreibtisch Max Orchard, einem runden, ziemlich kahlen, sechsundsechzigjährigen ehemaligen Buchhalter, der Schuhe mit Gummisohlen trug. Er arbeitete dienstags, mittwochs und donnerstags, da er keine volle Stelle wünschte.

Smith hatte ihn nicht einstellen wollen, aber sie waren so verzweifelt gewesen, daß sie es schließlich doch mit Max versuchten. Nach vier Monaten mußte auch Smith zugeben, daß er tüchtig und, wichtiger noch, zuverlässig war. Sie zahlten ihm zehn Dollar die Stunde und beteiligten ihn mit fünf Prozent am Honorar, das sie bei Vermittlung eines der von ihm gefundenen möglichen Kandidaten verdienten. Drei solche Vermittlungen hatten in der kurzen Zeit, die er nun bei ihnen war, geklappt.

Doch heute war Freitag, und Max war nicht im Büro. Auf seinem Schreibtisch lag ein dicker blauer Ordner, in dem er ›Fahndungsbogen‹ nach geographischen Gesichtspunkten ablegte. In seiner Schreibunterlage steckte ein Monatskalender mit ausgestrichenen Terminen.

»Schließ ab, B.B., und ein schönes Wochenende«, rief Wetzon. »Sprich eventuelle Katastrophenmeldungen auf meinen Anrufbeantworter.«

An der Second Avenue fanden sie auf Anhieb ein Taxi und fuhren auf der Verbindungsstraße an der 72. Street nach Westen durch den Park. Es war fünf Uhr, als das Taxi sie an der Ecke Columbus und 79. Street absetzte.

Der Himmel zeigte sich in einem makellosen Azurblau, gesprenkelt mit flockigen Wölkchen. Ein unsichtbarer Himmelsschreiber hatte weißen Drachenatem in zwei langsam verwehenden Linien über den Himmel gezeichnet.

»Ich habe nur eine Viertelstunde Zeit«, sagte Smith gereizt. »Wo ist es?«

Es war falsch gewesen, Smith mitkommen zu lassen. Wütend deutete Wetzon auf ein braunes Backsteingebäude, das wahrscheinlich aus den dreißiger Jahren stammte. Brian hatte eine Wohnung »so weit wie möglich von der Hexe entfernt« gemietet, wie er Wetzon erklärte. Sie sah auf dem Zettel nach, auf dem sie die Adresse notiert hatte. Wohnung 8B.

Nur von zwei Wandleuchten in Art deco beleuchtet, war die Halle typisch für Gebäude an der West Side: Marmor, Ledersessel, Holzbänke. Sonnenlicht sickerte durch die wunderschönen Buntglasfenster. Am Ende der Halle und zwei Stufen höher befand sich der Aufzug in einem eleganten, auf Hochglanz polierten Messinggehäuse, ebenfalls in einem Artdeco-Muster.

Gegenüber dem Aufzug stand ein freier Stuhl, auf dem die Daily News aufgeschlagen lag. Da kein Portier zu sehen war, handelte es sich vielleicht um ein Gebäude mit einem Aufzugführer.

»Ist das nicht eine tolle Bewachung?« Smith drückte ungeduldig auf den Aufzugknopf. Der Pfeil über der Tür kroch gegen den Uhrzeigersinn auf 1, und die Tür ging auf. Der Aufzug war leer. Die zwei Frauen traten in die Kabine und stiegen im achten Stock aus.

Vor der 8B hing eine große Kuhglocke, doch sie brauchten nicht zu läuten. Die Tür stand sperrangelweit offen.

Blut fließt auf der Wall Street

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