Читать книгу Blut fließt auf der Wall Street - Annette Meyers - Страница 15
ОглавлениеDie Nacht verbrachte sie damit, von Zimmer zu Zimmer zu wandern, zusammenzusuchen, was sie brauchen würde oder schützen wollte. Wasser war durch die Decke der Schrankwand im Schlafzimmer gesickert, doch die oberen Fächer, in denen sie zusätzliche Kissen und Decken aufbewahrte, hatten die Feuchtigkeit größtenteils aufgesogen. Ihre guten Kleider steckten in den Plastikhüllen der chemischen Reinigung.
Auf dem Boden in der Diele sitzend las sie die unverständlichen Anleitungen, die aus dem Japanischen über den Umweg des Koreanischen ins Englische übersetzt waren, und baute nach drei Fehlstarts den tragbaren metallenen Kleiderständer zusammen, der sonst in einer Kiste im Flurschrank lag. Sie hatte ihn gekauft, als ihre Schlafzimmerschränke gebaut wurden, und seitdem nicht mehr benutzt.
Als die Kleider sicher an dem Ständer hingen, nahm sie sich die Schuhe vor, die jeweils im eigenen Karton lagen. Fast alle Kartons waren aufgeweicht. Sie stopfte jeden einzelnen Schuh mit Küchenpapier aus und warf die Kartons in einen großen blauen Müllsack, den Albert ihr gebracht hatte.
Um vier Uhr morgens machte sie Pause und betrachtete den Trümmerhaufen. Die kupfernen Suppentöpfe, die sie als Papierkörbe benutzte, waren auf verschiedene Stellen verteilt, wo es noch tropfte. Handtücher bedeckten die Fußböden, um Feuchtigkeit aufzusaugen. Die Decke über der Badewanne war heruntergefallen – in die Wanne.
Wetzon zog weiße Leggings und einen weiten roten Baumwollpullover an und legte sich aufs Sofa unter ihre alte Babydecke mit den Cowboys darauf, die sie in einem Fach im Flurschrank gefunden hatte. Ihre Bücherregale waren in Sicherheit, weil sie an der Wand standen, die vom Bad am weitesten entfernt war. Sie starrte mit Tränen in den Augen auf die vollgestopften Regale, die bis unter die Decke reichten. Wenn sie die Augen schlösse, könnte sie vielleicht alles verschwinden lassen. Es war vielleicht alles ein häßlicher Alptraum gewesen. Sie schloß die Augen.
Wasser spritzte über die geneigte Plattform, und alle hielten im Tanzen inne, einfach so, und sahen einander an. Sie führten No, No Nanette an der Jones Beach auf. Eigentlich dürfte kein Wasser auf der Tanzfläche sein. Eine gewaltige Dünung, und der Boden hob sich unter ihnen, und die Plattform kippte und warf sie alle in den Ozean.
»Ich bin zu alt für so etwas«, schrie Wetzon, bekam einen Mund voll Salzwasser und kämpfte gegen die See an.
»Hören Sie auf, sich zu wehren, und lassen Sie sich treiben«, schlug Alton Pinkus mit amüsierter Stimme vor. Er trat Wasser neben ihr. »Es passiert Ihnen nichts Schlimmes.«
»Hör auf ihn, Les«, rief Silvestri von weit her. »Du kannst nicht alles in der Hand haben.«
Oh, doch, das kann ich, dachte sie, aber sie streckte die Beine aus und ließ sich vom Wasser tragen. Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht, und es kam ihr in den Sinn, daß sie immer in dieser Lage bleiben könnte, wenn sie nur einen Sonnenschutz hätte. Keine Verpflichtungen, keine Entscheidungen. Sie drehte den Kopf ein wenig, um Alton zu danken, doch er war nicht da. Ein Körper trieb mit dem Gesicht nach unten neben ihr.
Machte den toten Mann.
Der tote Mann hob den Kopf. Es war Brian Middleton, das Gesicht zu einer Todesfratze verzogen, und aus dem Loch, wo das Auge gewesen war, strömte Wasser. Seine ausgestreckte Hand berührte ihre. Er gab ihr etwas, drückte es ihr in die Hand. Eine Pistole.
»Nein, nein!« Sie warf sie weg, so weit sie konnte, doch die Anstrengung brachte sie aus dem Gleichgewicht, und sie begann zu sinken … zappelnd … Ihr dröhnten die Ohren, dröhnten. Was dröhnte da?
Sie öffnete die Augen. Sie lag auf dem Sofa. Es läutete an der Tür. Die Sonne schien durch die Wohnzimmerläden warm auf ihr Gesicht, und von der Wohnzimmerdecke tropfte Wasser auf sie.
»Augenblick, ich komme.« Sie rollte vom Sofa, steckte die Füße in ihre Keds und ließ Albert, Bob, das Mädchen für alles, und Mike DeVota, den Vertreter des Hausverwalters, herein, damit sie den Schaden besichtigten. Albert reichte ihr die Times von ihrer Fußmatte.
Die Küche war wunderbarerweise nicht betroffen. Sie stellte Wasser auf und maß Kaffee in einen Filter. Nachdem die Männer gegangen waren, setzte sie sich auf einen Hocker in der Küche und schlug die Zeitung auf, um eine Meldung über Brians Tod zu suchen. Sie fand sie im Lokalteil unter der Überschrift »Börsenmakler ermordet«:
Ein Börsenmakler wurde am Freitag morgen im Conservatory Garden im Central Park erschossen, meldete die Polizei. Brian Middleton, 45 Jahre alt, 100 West 79. Street, Finanzberater bei Bliss Norderman, wurde um 12:30 Uhr auf einer Parkbank sitzend gefunden, etwa drei Meter vom Eingang zum Garten an der Fifth Avenue. Seine Brieftasche sowie Geld und Schmuck wurden nicht gefunden.
Der stellvertretende Chief Garland P. Howitzer, Einsatzleiter der Detectives in Manhattan, erklärte, daß Mr. Middleton anscheinend das Opfer eines Raubüberfalls ist. »Er leistete vermutlich Widerstand«, so Chief Howitzer. Die ermittelnden Beamten sagen, daß sie keine Mordverdächtigen haben und daß keine Waffe am Tatort gefunden wurde.
Mr. Middleton absolvierte sein Studium an der Wesleyan University in Connecticut und an der Fordham Law School. Er war mit Rona, geb. Walsh, ebenfalls Börsenmaklerin, verheiratet und hinterläßt eine acht Monate alte Tochter, Megan.
Chief Howitzer? Die große Kanone. Sehr witzig, Wetzon, sagte sie sich. Reiß dich am Riemen, würde ihre Freundin Laura Lee sagen. Sie legte die Zeitung beiseite, goß Orangensaft in ein Glas und nahm ihre C, E, Kalzium und Beta-Karotin. Sie trank ihren Kaffee und konzentrierte sich auf die nächsten Schritte.
Als erstes Carlos anrufen. Nicht Smith. Smith würde darauf bestehen, daß sie auf der Stelle in Marks Zimmer einzöge, aber nach reiflicher Überlegung und instinktiv wußte Wetzon, daß dies nicht die erste Wahl war. Selbst wenn Smith den größten Teil des Wochenendes mit Twoey verbrachte, war sie doch die Woche über in ihrer Wohnung in der 77. Street, und mit Smith zusammen zu wohnen war ein Alptraum, den sie sich nicht antun wollte. Smith war zu chaotisch, zu exzentrisch und zu bestimmend, um jemandes, und ganz besonders Wetzons, Zimmergenosse zu sein.
Sie griff zum Telefon, tippte Arthur Margolies Nummer, hielt den Hörer ans Ohr und hörte nichts. Kein Wählzeichen, kein Knacken. Nichts. Tot. Es mußte Wasser in die Leitung gekommen sein. Es war ohnehin zu früh, um Carlos anzurufen. Er lebte nach Theaterzeit.
Ihr großer Koffer stand ganz hinten im Flurschrank. Er war seit der Tournee mit Chorus Line nicht mehr benutzt worden. Sie zog ihn heraus, legte ihn um, zog den Reißverschluß auf und warf den Deckel zurück. Ihr Theater-Make-up in einem blauen metallenen Werkzeugkasten, Wollknäuel und ein halbfertiger Pullover noch auf der Rundstricknadel. Sie hielt ihn an die Brust. Hmm. Nicht schlecht. Verdammt. Was dachte sie sich? Sie ließ den Pullover auf den Boden fallen und zog zwei abgenutzte weiße Gesichtstücher mit längst vergessenen Hotelnamen heraus. Ein altes schwarzes Trikot. Schmutzige, abgetragene, silberne Jazzschuhe. Sie hielt ein Paar schwarze Strumpfhosen mit einem Loch hoch, durch das man eine Faust stecken konnte. Als sie den Make-up-Kasten öffnete, verströmte er Gerüche nach Fettschminke und etwas Ranzigem. Der Topf mit Cold Cream, halb verbraucht, war schlecht geworden. Eine Welle von Nostalgie überschwemmte sie, und sie setzte sich auf die Hacken und wischte mit den Fingerspitzen ein paar Tränen weg. Sie seufzte. Aber, aber, du dummes Ding. Was gab es, wonach man sich sehnen konnte? Wunde Muskeln? Shows, die die Premiere nicht überstanden? Lausige Hotels, schlechtes Essen. Verletzungen. Arbeitslosigkeit. Rufe vor den Vorhang. Ja. Und gute Freunde, späte Essen, tolle Kostüme, die Freude, die neuen Schrittfolgen zu begreifen, die intensive Qual der Premierenabende. Die Kameradschaft.
Sie seufzte noch einmal und stopfte alles in den Müllsack. Soviel zu ihrem vergangenen Leben. Sie starrte lange auf den Sack. Nein.
Sie zog die Jazzschuhe heraus und schlüpfte hinein. Im Kopf hörte sie die ersten aufregenden Noten von »Cool«. Mit den Fingern schnipsend, »sachte!«, spielte sie dann, was sie von Anybodys’ Rolle noch in Erinnerung hatte, Anybodys, der winzige Spitzbube aus West Side Story, der mit den starken Kerlen spielen wollte, indem sie um ihren Kleiderständer und Koffer tanzte.
Wie Anybodys war sie hart im Nehmen. Viel härter als Leslie Wetzon allemal. Anybodys tanzte über die Handtücher direkt in das Durcheinander von Wetzons Schlafzimmer, hinüber zum Nähtischchen, langte in die Schublade, hob die Pistole im Etui hoch, tanzte in die Diele zurück und ließ die Pistole in den Koffer fallen.
Es war wieder Wetzon, die nach unten ging, um Carlos anzurufen.