Читать книгу Blut fließt auf der Wall Street - Annette Meyers - Страница 21

Оглавление

Wetzon stand an der Parkseite der West 67. Street und sah zu, wie Smith’ Jaguar zügig durch den mäßigen Sonntagabendverkehr glitt und das kleine rote Rücklicht verschwand. Smith war völlig aus dem Häuschen vor Begeisterung, dessen war sich Wetzon sicher, weil sie ein bißchen Detektiv spielen durfte.

Und Wetzon wußte jetzt schon, wer den ganzen Ruhm für sich beanspruchen würde, wenn Smith Tabby Ann Boyd präsentierte. Wie die Dinge lagen, hätte sie Smith begleiten sollen. Sie hatte keinen Grund, mit Alton Pinkus essen zu gehen.

Der Central Park hinter ihr roch üppig feucht und moosig; die abgefallenen Blätter vermoderten zu Kompost. Die Glühbirnenschnüre, die zwischen den Bäumen um Tavem on the Green gespannt waren, verwandelten die Szene in ein abendliches Märchenland. Jogger liefen an ihr vorbei, einzeln und zu zweit, in den Park hinein, stadtauswärts zur Bahn um das Reservoir.

Wetzon seufzte. Als die Ampel auf Grün umsprang, überquerte sie die Central Park West. Die untergehende Sonne überzog Lincoln Center mit Blattgold vor dem Vorhang eines dunkelblauen Himmels. Der unverwechselbare, fast aromatische Duft von Holzfeuern, von getrockneten Scheiten, die in echten Kaminen brannten, erfüllte die Luft. Ein sicherer Vorbote des Winters.

Ein paar Häuser weiter unten in einem wunderbaren alten Wohnhaus, das als Hotel des Artistes bekannt war und jetzt teure Eigentumswohnungen enthielt, befand sich das Café des Artistes. Sie war seit Jahren nicht mehr in dem Restaurant gewesen, doch es hatte sich kein bißchen verändert. Dunkle Holzwände schimmerten mit der seidigen Patina des Alters und trugen wie die Bleiglasfenster und die berühmten historistischen Wandmalereien von Howard Chandler Christy dazu bei, daß man sich in eine geschmackvollere, kultivierte Zeit zurückversetzt fühlte. Die schönen nackten Frauen auf den Wandgemälden stellten angeblich alle die Schauspielerin Marion Davies dar, die langjährige Geliebte von William Randolph Hearst.

Es war früh am Abend, und deshalb gab es noch einige leere Tische. Ein älteres Paar wartete am Reservierungspult und plauderte mit einem überschwenglichen jungen Mann. Die Frau in einem marineblauen, weiß abgesetzten Adolpho-Kostüm war winzig, hielt sich aber kerzengerade. Ihre Frisur war tadellos, mit dem Blond gefärbt, das Frauen eines gewissen Alters bevorzugen, und dann unverrückbar festgesprayt. Wetzon befühlte ihren Knoten und versprach sich im Geist, in Würde und ohne Haarspray grau zu werden.

Der Begleiter der Frau war einen halben Kopf kleiner, ein gebrechlicher Mann mit einem durch Osteoporose gekrümmten Rücken und zitternden Händen. Sie mußten Stammgäste sein, weil der Oberkellner sie nach ihren Kindern und Enkelkindern fragte, als er sie in einen anderen holzgetäfelten Raum winkte.

Wetzon trat zum Pult vor. »Mr. Pinkus«, sagte sie. Hinter ihr standen zwei Paare, ältere Männer mit viel jüngeren Frauen. Die Frauen waren modisch in Cashmere und Seide gekleidet, die Rocksäume etwa zehn Zentimeter über schlanken Knien. Ihre Begleiter waren beide groß, weißhaarig und vornehm, der eine tief gebräunt, als wäre er gerade von seiner Yacht an Land gesprungen. War dies ein Lokal, fragte sie sich beklommen, wohin ältere Herrenjüngere Frauen ausführten?

»Hier lang, bitte, Ms. Wetzon.« Überrascht drehte sich Wetzon um und sah den Oberkellner auf sie warten.

Sie folgte ihm eine Treppe hinauf in den Barraum, der eindeutig in die zwanziger Jahre gehörte und von attraktiven, geistreichen Typen wie aus einem Roman von F. Scott Fitzgerald bevölkert war. Alton Pinkus saß in einer Nische gleich nach der Bar, im Gespräch mit einem vornehmen Mann mit beginnender Glatze. Er trug einen guten Tweedsakko. Beide erhoben sich, um sie zu begrüßen, und Alton stellte ihr George Lang vor, den Besitzer des Café des Artistes. Sie gab Lang die Hand, der gleich darauf vom Oberkellner weggerufen wurde, und ihre Hand wurde schnell von Altons großer warmer Pranke umfangen. Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte, dann fragte er: »Was trinken Sie?«

»Amstel Light.« Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als es auch schon kam.

»Sie haben graue Augen«, bemerkte Alton. »Wieso dachte ich, blaue?«

Er schien eine Antwort zu wünschen, und sie brachte plötzlich keinen Ton heraus. Verdammt, Silvestri, dachte sie verwirrt. Was zum Teufel ist mit dir los, Leslie Wetzon? fragte sie sich. Im Geiste hörte sie Laura Lee schreien, Reiß dich zusammen!

Sie wurde vom Oberkellner gerettet, der mitteilte, ihr Tisch sei bereit, und sie standen auf und gingen die Treppe wieder hinunter in einen großen vollen Raum, an einem erstaunlichen Vorspeisenbüfett und einer überladenen Dessertauslage vorbei. Die Bleiglasfenster waren von Pflanzen fast verdunkelt, Paare saßen vertraulich zusammen, alle ein wenig zynisch von Christys Nackten in ihren ländlichen Szenerien beobachtet.

»Wir hätten oben bleiben können, ich dachte mir aber, dieser Raum würde Ihnen gefallen. Mir gefällt er.«

Sie bekamen Plätze in einer fast privaten Ecke zugewiesen, sie mit dem Rücken zu einem von Grünzeug überwucherten Fenster, Alton gegenüber. Ihr kaum angerührtes Bier war auf wunderbare Weise auf dem Tisch erschienen, zusammen mit Altons Glas, in dem Scotch zu sein schien.

Ein Kellner erschien mit zwei riesigen Speisekarten und fragte Alton, ob er noch einen Drink wünsche. Er schüttelte den Kopf, bestellte eine Flasche Pellegrino und sah Wetzon dabei fragend an. »Mineralwasser ist mir sehr recht«, sagte sie. Sie empfand sich selbst als Fremde, als säße die richtige Wetzon nicht hier, sondern ein Teil von ihr, der sich abgespalten und wie ein Klon selbständig gemacht hatte, während sie einfach beobachtete.

»… Wein zum Essen«, sagte Alton eben. »Sind Sie einverstanden?« Er wartete auf ihre Antwort.

»Wenn er weiß und trocken ist.«

»Dafür werden wir sorgen.« Seine Augen waren hellgrau mit dunkleren Rändern, mit schweren Lidern unter widerspenstigen, grauen Brauen.

Der Kellner rasselte die besonderen Angebote des Tages herunter, dann zog er sich diskret zurück, um sie überlegen zu lassen.

»Hört sich alles wunderbar an«, sagte sie, während sie auf das freundliche Summen der Stimmen um sie herum lauschte. »Ich fühle mich viel wohler, wenn ich nur eine kleinere Auswahl habe.« Sie versteckte ihr Gesicht hinter der gewaltigen Speisekarte. Sie war einschüchternd. Diese ganze Situation war einschüchternd. Offenbar mochte er sie, und sie wußte nicht, wohin mit sich. Warum fiel es ihr so leicht, mit Fremden zu reden, doch sowie es einen Anflug von Intimität zwischen ihr und einem Mann gab, bekam sie den Mund nicht mehr auf? Bei Silvestri fühlte sie sich sicher, aber jetzt war sie hilflos.

Seufzend starrte sie auf die Worte auf der Karte, ohne sie zu sehen, bis Alton ihr freundlich die Speisekarte wegnahm und sie zuklappte.

»Möchten Sie, daß ich für Sie bestelle?«

Sie nickte. »Etwas aus dem Meer.«

Er bestellte die vier Arten Lachs als Vorspeise, danach gegrillten Schwertfisch mit Tomaten-Oliven-Soße und einen 1963er Montrachet. Als der Kellner sie allein ließ, fragte er: »Wie mache ich das?«

»Prima.« Du bist einsilbig geworden, Wetzon. Sie machte es sich auf dem Stuhl bequem und brachte sich dazu, ihn anzulächeln. Sei ganz gelassen. Der Hunger nagte, und mit einer dummerweise zittrigen Hand zog sie eine Scheibe getoastetes Brot aus dem Korb und brach ein Stück ab, dann beschäftigte sie sich damit, es mit Butter zu bestreichen. Als sie aufblickte, lächelte er sie an, und sie wurde rot. »Tun Sie das nicht«, sagte sie.

»Mache ich Sie nervös?« Er für sein Teil genoß es, sie zu quälen.

»Nervös? Mich? O Mann, nein. Natürlich machen Sie mich nervös.« Sie starrte auf die chinesischen Zeichen in dem sich wiederholenden Muster seiner Krawatte, vermied es jedoch, ihm in die Augen zu sehen.

Der Kellner kam wieder und zeigte die Weinflasche; Alton nickte. Die Flasche wurde schwungvoll geöffnet und ein Spritzer Wein in Altons Glas geschenkt. Nachdem er gekostet und ihn für gut befunden hatte, füllte der Kellner beide Glaser und stellte die Flasche in den Kühler neben dem Tisch.

»Auf den Anfang«, sagte Alton, indem er das Glas hob.

Oh, nein, dachte Wetzon. Sie sagte: »Auf den Weltfrieden und ein langes Leben und renovierte Wohnungen.« Sie grinste ihn an und nahm einen Schluck Wein, indem sie die Augen schloß. Er war köstlich, raffiniert. Und romantisch, wie das Restaurant. »Oh, Mann«, sagte sie, indem sie die Augen aufschlug, und da saß er und lächelte sie wieder an.

»Es ist wirklich schön, ja.« Er trug eine graue Flanelljacke und ein weißes Hemd mit offenem Kragen, und er, oder das Bier oder der Wein, ließ ihr Herz schneller schlagen.

»Wer sind Sie, Alton Pinkus?« fragte sie plötzlich und stellte ihr Glas ab. »Wie komme ich dazu, hier mit Ihnen zu Abend zu essen?«

Er wirkte von ihrem Ausbruch nicht im geringsten überrascht. Genaugenommen schien er sich sogar zu freuen. »Geboren 1936 in New York City«, begann er, indem er die Punkte an den Fingern abzählte. »Columbia, Abschluß 1957. Captain, U.S. Army. Harvard juristische Fakultät …«

»Beeindruckender Lebenslauf, aber …«

»Heirat mit Tessa 1960«, fuhr er fort. »Drei Kinder, alle erwachsen und selbständig. Tessa starb vor vier Jahren.«

»Das tut mir sehr leid.«

»Auch mir. Sie hätten einander gemocht.«

»Alton, schön, dich zu sehen.« Ein dunkelhaariger Mann in den Vierzigern mit einem dichten Oberlippenbart schlug Alton auf den Rücken. Sein Blick blieb an Wetzon hängen. Er trat beiseite, um den Kellner das Essen servieren zu lassen, ging jedoch nicht weiter.

»Charley, wie geht es dir?«

»Karen«, rief Charley einer graumelierten Brünetten zu, die ihm vorausgegangen war. »Sieh mal, wer da sitzt.«

Wetzon wurde vorgestellt, dann gingen Charley und Karen weiter zu ihrem Tisch.

Das Essen, der Wein, die romantische Stimmung des Restaurants waren bezaubernd, und auf einmal schilderte sie anschaulich den alptraumhaften Anblick der Überschwemmung und den Umzug ins Village, lachend und Alton zum Lachen bringend. Er hatte ein wunderbares Lachen: Er warf den Kopf in den Nacken und gab sich ganz seiner Freude hin.

Sie wurden noch drei weitere Male von Leuten, die sie nicht kannte, unterbrochen, einmal vom Direktor des Metropolitan, den sie dem Namen nach kannte, und schließlich von Ed Koch, einem ehemaligen Bürgermeister der Stadt, der ihnen den Großen Bonaparte als Dessert wärmstens empfahl.

Wetzon glühte. Sie verpaßte Gesprächsfetzen. Der Wein war ihr in den Kopf gestiegen. Der Große Bonaparte, der sich als ein Berg aus Blätterteig, Zitronenquark, Erdbeeren und Schlagsahne entpuppte, wurde mit zwei Suppenlöffeln aufgetragen. Koffeinfreier Espresso für zwei. Alton ließ sie den größten Teil der Kreation essen, und die Vertrautheit zwischen ihnen wuchs.

»Das ist Wahnsinn«, murmelte sie. Der Wein ließ sie lächeln; das Lächeln ging in Gähnen über, und das ganze gute Benehmen war dahin.

»Ich sollte Sie nach Hause bringen«, sagte er, ohne sich zu rühren.

»Ich nehme ein Taxi.« Auch sie rührte sich nicht.

Er winkte nach der Rechnung.

»Was machen Sie eigentlich, Alton? Sie sind zu jung für den Ruhestand.« Sie starrte ihn mit vom Wein trunkenen Augen an. Er sah sehr nett aus, wenn auch ein bißchen verschwommen. Sie spürte wieder den Drang zum Gähnen und hielt eine Hand vor den Mund.

Er unterschrieb die Rechnung auf der Rückseite und gab sie dem Kellner. »Ich halte mich auf Trab. Ich laufe fünf Meilen täglich. Ich schreibe meine Memoiren.« Er lachte. »Ich werde ab und zu immer noch aufgefordert, Reden zu halten. Ich sitze in mehreren Aufsichtsräten …«

»Ach ja, wie bei Luwisher Brothers, als es die noch gab.«

Er nickte. »Und ich gehöre zu einem Kreis von Personen, die in Schlichtungsausschüsse berufen werden.«

Wetzon blinzelte. Hatte sie richtig gehört? »Sagten Sie Schlichtung?«

»Ja.« Er stand auf und reichte ihr die Hand.

»In welcher Branche?«

»In Ihrer.«

Blut fließt auf der Wall Street

Подняться наверх