Читать книгу Blut fließt auf der Wall Street - Annette Meyers - Страница 14

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Ihre Wohnung war dunkel und still. »Licht an«, sagte sie, indem sie den Schalter rechts von ihr berührte, und die blauen und goldenen Kugeln des Schmuckglasleuchters verströmten ihr warmes Licht in der Diele.

Geliebte Dinge: die Steppdecke mit dem Zickzackmuster an der Wand, die weiße Lattenbank aus ihrer Kindheit auf dem Bauernhof, der Fliegenschrank mit der durchlöcherten Blechtür.

Sie schloß die Tür zweimal ab und ließ die Handtasche und die Aktentasche auf dem Boden fallen. Es war ein äußerst anstrengender Abend gewesen.

Im Eßzimmer, das ihr auch als Arbeitszimmer diente, blinkte das Lämpchen am Anrufbeantworter. Zwei Nachrichten. Sie drückte die Rücklauftaste und starrte sich in der Spiegelwand hinter der Barre an. Sie sah ein wenig aufgelöst aus, verschwommen an den Rändern, nicht mehr scharf umrissen.

Hallo, kam Silvestris Stimme vom Band. Es ist Freitag abend, zehn Uhr. Ich fahre nach Atlanta, du kannst mich also nicht erreichen. Das war alles. Seine Worte klangen kalt und förmlich.

»Verdammt«, sagte sie laut. »Hätte ebensogut ein Anruf von meinem Bruder sein können, wenn ich einen hätte.«

Der Apparat piepte, noch eine Nachricht. Les? Ich bin’s noch mal Ich vermisse dich. Er räusperte sich. Warum habe ich so ein Gefühl daß du dich wieder einmal blindlings in etwas stürzt? Was auch immer es ist, halte dich heraus. Der Anrufbeanworter stellte sich zurück und schaltete ab.

»Leck mich, Silvestri«, sagte sie, indem sie ihm den Vogel zeigte. Was dachte er sich? Sie käme ohne ihn nicht zurecht?

Sie drückte die Taste, die das Band löschte, schnickte die Schuhe ab und krümmte und streckte die Zehen. Sie öffnete ein Fenster und schloß die Jalousien, dann zog sie Rock, Jacke und Bluse aus und legte alles auf den Eßtisch. In Unterwäsche machte sie einige Aufwärmübungen an der Barre. Sie schloß mit einem tiefen Knicks, dankte dem eingebildeten Applaus und nahm imaginäre Blumensträuße entgegen.

Sie erhob sich und schaltete die Lampen in der Diele und im Eßzimmer aus, duschte und legte sich im Dunkeln aufs Bett, auf die nächtlichen Geräusche in ihrem Haus lauschend. Sie hörte die letzte Müllabfuhr, den Aufzug, ihren Nachbarn, der nach Hause kam. Ihren Kühlschrank, den Wind, der an den Holzjalousien am offenen Fenster rüttelte.

Sie war wie eine Walnußschale ohne Kern, weil sie sich an das Zusammensein mit Silvestri gewöhnt hatte. Sie war von ihm abhängig geworden, und es gefiel ihr überhaupt nicht, wie sie sich ohne ihn fühlte. Als fehle etwas, als sei sie unvollständig.

Aber du liebst ihn, Dummerchen, dachte sie, indem sie ein Zwiegespräch mit sich selbst begann.

Ja, aber wenn du jemand liebst, gibst du die Zügel aus der Hand.

Bist du so scharf darauf die Zügel in der Hand zu haben?

Nein. Ja. Vielleicht taugte alles nichts.

Wie würdest du dich dann fühlen, wenn du verheiratet wärst? Würde es irgend etwas verändern?

Mein Gott. Sie schlüpfte unter die Decken und zog sie über den Kopf. Vor Silvestri war alles so einfach gewesen; jetzt war es so kompliziert.

Sie schloß die Augen. Denk an was anderes. Denk über deine Vorahnung nach, Brian sei tot, sogar ermordet. Jeder, der sich an seinem ersten Tag nicht dort einfindet, wo er 225 Riesen abholen kann, muß tot sein.

Sie war hellwach. Das würde also wieder so eine Nacht werden. Sie setzte sich auf und machte Licht. Ihr kleiner digitaler Radiowecker stand auf 0:30. Was soll’s, es war Freitag nacht. Sie konnte morgen ausschlafen. Freitag nacht. Besondere Pläne hatte sie nicht. Das einzige auf ihrem Kalender war das Abendessen mit Carlos. Sie hatten sich in einem Tanzkurs kennengelernt, als sie damals nach New York gekommen war, und später tanzten sie in der Gruppe in einem Musical nach dem anderen, bis Wetzon, die sich nicht als alternde Gruppentänzerin vorstellen konnte, einen Schlußstrich zog und sich mit Xenia Smith zusammentat, um Makler für Wall Street aufzuspüren.

Carlos war über Princely Service, seine erfolgreiche Nebentätigkeit im Reinigungsgeschäft, wo er arbeitslose Tänzer beschäftigte, die in der ganzen Stadt Wohnungen putzten, als Choreograph an den Broadway zurückgekehrt. Und ihre Freundschaft hatte sich mit den Jahren nur vertieft.

Sie hatte gerade das dritte Kapitel von Jack Finneys herrlichem Buch Das andere Ufer der Zeit zu Ende gelesen, als ein großer nasser Fleck auf der Seite erschien, dann gleich darauf noch einer. Was zum Teufel …? Sie blickte zur Decke, und ein dicker Wassertropfen landete auf ihrer Nase. Dann begann immer mehr Wasser durch einen Riß in der Decke und durch den Deckenventilator zu sickern.

Sie sprang auf und schob das Bett hastig und mit solcher Wucht aus dem Weg, daß sie das Nähtischchen auf der anderen Seite umwarf. Und gerade rechtzeitig, denn ein großer Gipsbrocken schlug auf dem Teil des Fußbodens auf, wo das Bett gewesen war und wo sie gelegen hatte.

Schreiend vor Wut schob sie sich an dem Wasserfall vorbei zum Badezimmer. Aus mehreren Stellen der Decke ergoß sich Wasser. Sie schnappte den Bademantel von der Tür und das Make-up-Kästchen und rannte zu ihrer Sprechanlage, wo sie das Plastikkästchen auf den Boden neben die Füße stellte.

Sie drückte den Knopf des Haustelefons schnell zwei oder dreimal. Viermal. Keine Antwort. Denk nach, denk nach.

Das ältere Paar über ihr war in Florida, aber es hielt sich jemand in der Wohnung auf. Ein Enkelsohn oder so. Wetzon zog den Frotteemantel an, der auch nicht gerade trocken war, steckte die Füße in die Schuhe, die noch lagen, wo sie sie im Eßzimmer hingeschnickt hatte, und rannte die Hintertreppe hoch.

Hard Rock hämmerte einen gleichförmigen Takt durch die Tür. Sie hörte das Wasser laufen. Sie klingelte. Hörte nichts. Klingelte wieder, wütend, drei, vier, fünf, sechs, sieben – die Rockmusik brach ab. Sie begann, an die Tür zu hämmern. »Drehen Sie das verdammte Wasser zu!«

Hinter ihr ging eine Tür auf, und eine verschlafene Nachbarin streckte den Kopf heraus. »Was ist passiert?«

»Ich habe die Niagarafälle in meiner Wohnung, weil dieser Idiot anscheinend eingeschlafen ist, während die Badewanne überläuft.« Wetzon unterstrich jedes Wort mit einem Schlag gegen die geschlossene Tür.

Dann hörte sie einen Aufschrei und eilige Schritte. Das Geräusch des fließenden Wassers brach ab. An die Tür wagte er sich nicht.

»Sie können die bis aufs Hemd verklagen«, hörte Wetzon die Nachbarin neidisch sagen, als sie die Hintertreppe wieder hinunterlief.

Ihre Wohnung war eine einzige Schweinerei. Wasser war durch die Decke ins Eßzimmer gedrungen und hatte sogar eine große Ecke der Wohnzimmerdecke gekräuselt, von der nun der Putz wie Schnee abblätterte. Sie warf die Arme in die Luft und heulte auf.

Es klingelte, und sie riß wütend die Tür auf, vor der sie den Schuldigen vermutete. Es dauerte einen Moment, bis sie das zornige Gesicht von Roger Levine erkannte, dem Anwalt und Vorsitzenden des Hausverwaltungsgremiums, der direkt unter ihr wohnte. Er trug Jeans, ein Izodhemd und Weejuns ohne Socken.

»Sagen Sie kein Wort«, warnte sie, als er den Mund aufmachte. »Es ist dieser Idiot da oben. Kommen Sie herein und sehen Sie selbst.«

Ein wenig besänftigt folgte er ihr. Als er das Schlafzimmer sah, ordnete er an: »Ziehen Sie sämtliche Stecker raus, und machen Sie Polaroidfotos von allem. Bei mir kommt Wasser durch die Deckeninstallationen, aber das hier ist ja eine richtige Katastrophe.«

Sie gingen zusammen eine Treppe höher und schlugen gegen die Tür, bekamen jedoch keine Antwort. »Sehen Sie, was ich meine?« Wetzon schniefte in ein zerfetztes Papiertaschentuch.

Levine schlug ein letztes Mal an die Tür. Dann sagte er: »So eine Scheiße. Holen wir Albert herauf.«

Eine Stunde später saß Wetzon in Rogers Wohnung bei seiner Frau Holly, einer Drogenbeauftragten bei Smith Barney. Vor ihr stand eine nicht angerührte Tasse Kaffee. »Das tut mir alles furchtbar leid.«

»Vergessen Sie’s, Leslie. Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte Holly. Sie war im fünften Monat schwanger, und man bemerkte gerade erst die Schwellung unter dem Bindegürtel ihres Bademantels.

»Ja«, fügte Roger hinzu. »Bei uns ist es nicht so schlimm, aber bei Ihnen sieht es furchtbar aus.«

Tränen liefen über Wetzons Wangen und gruben eine nasse salzige Spur in den Schmutz.

»Oje, Roger«, murmelte Holly.

»Es stimmt aber, Holly. Ich gehe wieder nach oben und bringe die Sachen in Sicherheit. Und packe, was ich brauche, damit ich im Wohnzimmer wohnen kann, bis alles repariert ist.«

»Ich sage es nicht gern, Leslie«, sagte Roger, »aber ich meine, Sie sollten ausziehen, bis alles gerichtet ist. Die Decke könnte Ihnen auf den Kopf fallen. Es ist zu gefährlich.«

»Ach, ich bin sicher, daß ich …«

»Haben Sie jemand, wo Sie bleiben können?« fragte Holly.

»Ich denke schon.« Sie dachte, Smith? Carlos? Er wohnte in Arthurs Wohnung, hatte aber seine Wohnung im Village weitervermietet. Silvestris Wohnung in Chelsea stand vielleicht leer, aber war sie bewohnbar? Sie war nie dort gewesen. Er benutzte sie für seine Pokerabende. Laura Lee? Wetzon mochte gar nicht daran denken, in einer fremden Wohnung unterzukommen. Sie liebte ihre vier Wände.

Sie stieg die eine Treppe zu ihrer Wohnung wieder hinauf. Albert, der Hausmeister, war gerade im Gehen. »Was meinen Sie, Albert? Wann können Sie die Decke richten?«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist eine größere Sache, und es muß zuerst einmal austrocknen. Vielleicht drei, vier Wochen mindestens. Sie können nicht hierbleiben.«

»Ich kann mich doch im Wohnzimmer aufhalten.«

Er runzelte die Stirn. »Ich an Ihrer Stelle würde es nicht versuchen. Die Decke im Bad wird nicht halten… Sie könnten Schaden nehmen.«

Sie fing unwillkürlich an, leise zu jammern. Albert tätschelte ihr linkisch die Schulter, dann ließ er sie allein. Sie schloß die Tür und heulte los.

Reiß dich zusammen, Wetzon. Irgendwo hatte sie Plastikabdeckplanen, die sie gekauft hatte, als sie die Schlafzimmerdecke abgeklopft hatten, um den Ventilator zu installieren.

Sie zog das Bett ab und bedeckte die Matratze mit Plastik, dann richtete sie den alten Nähtisch mit der einzelnen Schublade auf, der auf Silvestris Bettseite stand. Gut, daß Silvestri nicht da war. Der halbe Inhalt lag auf dem Boden. Sie las einen Stapel nasse Papiere auf, Zeitungsausschnitte und ein aufgeweichtes Notizbuch. Zwei Taschenbücher zerfielen in ihren Händen. Eine durchnäßte Schachtel enthielt eine Krawattennadel und einen Schnappschuß von ihnen, aufgenommen im letzten Sommer auf dem Karussell im Central Park. Zwei Taschentücher, säuberlich gefaltet. Sie schniefte in eines.

Ein Lederetui war hinten in die Schublade gezwängt. Sie zog es heraus und öffnete den Reißverschluß. In einer mit schwarzem Samt ausgelegten Vertiefung lag eine kleine Pistole.

Blut fließt auf der Wall Street

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