Читать книгу Blut fließt auf der Wall Street - Annette Meyers - Страница 12
ОглавлениеBrian erschien heute morgen nicht bei seiner neuen Firma«, sagte Wetzon. Sie saß in einer Art Wartezimmer auf einem Plastikstuhl und trank aus einem Styroporbecher Orangensaft, den Jennie Vose aus ihrem privaten Kühlschrank geholt hatte. Ihre Hände zitterten, und ein wenig Orangensaft schwappte über den Rand des Behälters und tropfte durch ihre Finger.
»Was machen Sie eigentlich genau?« Martens schrieb alles in ein kleines schwarzes Notizbuch.
Ihr war, als hätte sie alles schon einmal erlebt. Silvestri hatte ihr die gleiche Frage gestellt, als sie sich vor vier Jahren kennengelernt hatten, nachdem Barry Stark ermordet worden war. »Ich spüre Arbeitskräfte auf, ich bin Headhunterin. Ich überrede Börsenmakler, von einer Firma zu einer anderen zu wechseln.«
»Sie haben ein Arbeitsvermittlungsbüro.«
»Nein. Anders als die Arbeitsvermittlungen brauchen wir keine Lizenz. Wir werden mit einem prozentualen Anteil an der Bruttoprovision des Maklers bezahlt. Brian war einer meiner Vermittelten. Oder wäre es vielmehr gewesen. Er hätte heute bei Loeb Dawkins anfangen sollen.«
Ferrante war weggefahren, um Rona Middleton zu erreichen. Sie war die nächste Verwandte. Sie lebten getrennt, waren jedoch nicht geschieden.
»Er hat sich nicht gemeldet?«
»Nein. Er ist einfach nicht erschienen. Gestern abend so um halb zehn habe ich noch mit ihm gesprochen. Es war alles ganz normal. Ich kann mir nicht vorstellen, was er im Conservatory Garden zu suchen hatte. Besonders an dem Tag, an dem er eine neue Stelle an treten sollte.«
»Hatte er eine Freundin drüben?«
Sie zuckte die Achseln. »Davon wüßte ich sowieso nichts.« Sie trank den Saft aus und warf den Becher in einen braunen Abfallbehälter in der Nähe. Gerade wie das fette Honorar, das sie jetzt nicht bekamen und nie bekommen würden, dachte sie. Smith würde toben.
»Könnten Sie uns nicht die mutmaßliche Todeszeit sagen, Doc?«
Jennie Vose runzelte die Stirn. »Nageln Sie mich nicht darauf fest. Ich würde sagen, vielleicht sieben, halb acht heute morgen.«
»Sehen Sie«, meinte Wetzon, »warum sollte er um diese Uhrzeit in einer abgelegenen Ecke des Central Park Spazierengehen?« Sie stand auf und streckte die Beine. Sie wurde langsam steif. »Und in guter Kleidung. Für mich ergibt das keinen Sinn. Brian war nicht dumm … aber er schleppte immer eine Menge Geld mit sich herum.« Sie erinnerte sich an ein Mittagessen mit ihm und danach den Gang zu Tiffany’s, wo er ganze Bündel Geld für ein Tennisarmband für Rona hingeblättert hatte. Ganz aus Diamanten. Im Einzelhandel. Spitzenpreis. Und sie hatte damals gedacht, daß weder sie noch einer ihrer Bekannten jemals Schmuck im Einzelhandel kauften. New Yorker machten das einfach nicht … nicht einmal zum Angeben.
Rona. Rona würde jetzt das Geschäft bekommen. Kunden fühlen sich bei Leuten, die sie kennen, besser aufgehoben. Sie würden alle zu ihr zurückkommen. Rona würde sich in ihrem ersten Jahr bei Rosenkind, Luwisher gut machen, und Smith und Wetzon würden davon profitieren, weil ihre Honorarvereinbarung mit Rosenkind auf Ronas zukünftiger Produktion basierte.
Und wie stehst du dazu, du Krämerseele? fragte sie sich. Sie konnte Smith nicht alles in die Schuhe schieben. Leslie Wetzon verdiente ebenfalls gern. Daran bestand kein Zweifel.
Dr. Vose entschuldigte sich, und Wetzon setzte sich und sah Martens an.
»Möchten Sie Kaffee?« fragte Martens so halbherzig, daß sie lachen mußte.
»Nein, danke.« Der Hunger war zu einem dumpfen Schmerz geworden. In ihrem Kopf hämmerte es. »Ich bin noch nie im Conservatory Garden gewesen«, sagte sie.
»Schönes Fleckchen. Friedlich.« Martens stand auf und begann, auf und ab zu gehen. Er war zapplig, ein langer, eckiger Afroamerikaner, dessen Körperhaltung und Anmut an einen Masai-Krieger in westlicher Tracht erinnerten.
»Ist Martens ein französischer Name?«
»Ja. Ist lange her. Meine Großeltern kamen von Martinique.« Er blieb vor ihr stehen. »Sie sagten, er hätte heute eine neue Stelle antreten sollen?«
»Ja, und er hätte einen großen Vorausscheck über 225 000 Dollar kassiert, sobald er angefangen hätte.«
Martens pfiff durch die Zähne. »War das ein Geheimnis?«
»Nein. Alle Beteiligten wußten davon. Genaugenommen weiß jeder in Wall Street, wie die Vereinbarungen aussehen.«
»Aber er kassierte nicht, weil er nicht anfing.«
»Soviel ich weiß. Ich habe noch von keinem Fall gehört, in dem jemand eine Summe bekam, bevor er anfing.«
Das Zimmer hatte kein Fenster, und Wetzon bekam allmählich Beklemmungen.
Irgendwo ganz in der Nähe, vielleicht im Büro nebenan, läutete ein Telefon. Sie zählte zwanzig, bis endlich jemand abhob.
»Entschuldigen Sie.« Eine junge Frau im Labormantel, das Haar geflochten in einem Krönchen mitten auf dem Kopf, stand in der Tür. Ihre Brille klebte auf der Nasenspitze. »Detective Martens? Ms. Wetzon?«
Martens blieb stehen. »Ja bitte?«
»Sie werden beide unten gewünscht.« Sie nickte ihnen zerstreut zu und verschwand.
Wetzon folgte Martens in die Halle, wo Rona Middleton sie mit einem hysterischen Schrei begrüßte und sich in Wetzons Arme warf, ein höchst schwieriges Kunststück, weil Rona eine kräftige Frau und gut und gern einen Kopf größer war als Wetzon, eher so groß wie Smith. Rona war Sportlerin, eine begeisterte Tennisspielerin und fanatische Joggerin. Wenn sie nicht täglich fünf Meilen um das Reservoir lief, konnte sie sich nicht ausstehen, behauptete sie. Sie trug ihr Haar in einem Herrenschnitt, im Nacken kurz, mit einem Schopf blonder Locken von den Ohren bis zum Scheitel, keine besonders schmeichelhafte Frisur bei dem langen hageren Gesicht.
»Ich kann ohne Sie nicht hinuntergehen.« Rona drückte Wetzons Hand so fest, daß Wetzon zusammenzuckte. »Sie müssen mitkommen.«
Wetzons Magen schlug einen Purzelbaum. Sie konnte nicht.
Ferrantes Blick drückte aus, Bringen wir’s hinter uns.
Also noch einmal die Treppe runter. Atme durch den Mund. Die Erinnerung an den Geruch genügte, daß es Wetzon würgte. Sie hielt Ronas eiskalte Hand, während das Tuch noch einmal weggezogen wurde und Brian in seinem langen Schlaf dalag.
»Es ist Brian. Mein Mann Brian Middleton«, sagte Rona ruhig. Sie zog die Hand aus Wetzons Hand. »Der Scheißkerl hat endlich bekommen, was er verdient.«