Читать книгу Blut fließt auf der Wall Street - Annette Meyers - Страница 6
ОглавлениеWetzon folgte Smith’ ungenauen Angaben und spazierte durch die Barrow Street im West Village, überquerte die Hudson Street und ging in westlicher Richtung weiter auf die Greenwich Street zu. Sie kam an einem eingezäunten Park vorbei und sah nach den Hausnummern. Hier mußte es sein, weil vor einem Feuerhydranten auf der anderen Straßenseite eine schwarze Limousine parkte.
Genau in diesem Moment kam ein kleiner, vierschrötiger Mann mit kurzgeschorenem braunem Haar, in einem marineblauen Nadelstreifenanzug und mit einem Diplomatenkoffer in der Hand zwischen zwei efeubewachsenen Sandsteinhäusern heraus. Er tippelte auf spitzen, glänzenden schwarzen Schuhen über das hundertjährige Kopfsteinpflaster und stieg in die Limousine ein. Die Tür schloß sich mit einem satten Geräusch. Mit summendem Motor entfernte sich der Wagen mit den dunkel getönten Fenstern in Richtung Washington Street auf unbekannte Ziele zu. Es war etwas Unheimliches an …
Ein braunes Eichhörnchen sprang aus dem Blumenbeet um eine uralte Eiche, und Wetzon erschrak so sehr, daß sie beinahe gestolpert wäre.
»Das machen die hier immer. Warten ab, bis jemand vorbeikommt.« Der Mann trug enge Jeans, ein noch engeres, weit ausgeschnittenes T-Shirt und einen kleinen goldenen Ring am rechten Ohrläppchen; ein Schlüsselring baumelte an seinem Gürtel. Belustigt blickte er dem munteren Eichhörnchen hinterher.
Wetzon lachte. »New Yorker Eichhörnchen.« Zweifellos war sie nervös. Sie sah zu dem putzigen Tier hoch, das frech herunterkeckerte. Die Blätter des Baumes färbten sich schon rötlich golden. Wetzon hatte den Wechsel der Jahreszeiten in New York immer geliebt, aber dieses Mal stimmte das Herannahen des Herbstes sie traurig. Wo war der Mann im Straßenanzug hergekommen? Der Bürgersteig war uneben, wölbte sich leicht, weil eine Baumwurzel so kräftig gewachsen war und Raum unter dem Zement verlangte. Ein echter New Yorker Baum, dachte sie.
»Falls Sie Judith suchen«, sagte der Mann mit dem Ohrring, »es ist hinter dem nächsten Haus. Gehen Sie durch den Durchgang, dann sehen Sie es.«
Erschrocken spürte sie ihr Gesicht heiß werden. Sie hatte den Mann ganz vergessen. »Danke.« Sie wich seinem Blick aus. Es war zu peinlich. Warum hatte sie sich von Smith nur dazu überreden lassen? Da war es. Ein Durchgang, nicht breit genug für ein Auto, mit Platten gepflastert.
Keine Sonne fiel hier ein, außer um die Mittagszeit, und Mittag war inzwischen lange vorbei. Wetzon fröstelte in dem schwarzweiß karierten Kostüm und zog den Seidenschal mit dem Leopardenmuster fester um den Hals. Zum Glück hatte sie ihre Garderobe schon auf Herbst/Winter umgestellt.
In dem Durchgang roch es feucht und moosig. Ihre Absätze klangen besonders laut auf den Stein platten, als sie über den schmalen Gehweg eilte, dann betrat sie einen freien Platz, der in spätnachmittäglichem Sonnenlicht lag. Im Hof des Sandsteinhauses stand ein einfaches zweistöckiges Holzhaus im Schatten einer riesigen Ulme. Weiße Farbe blätterte an verwittertem Holz ab. Fensterrahmen und Tür waren einmal grün gewesen. Küchenkräuter wuchsen in kleinen gepflegten Gruppen von Maschendraht geschützt, und die Luft duftete nach Salbei und Thymian.
Als Wetzon das heruntergekommene Gebäude sah, fragte sie sich, ob die Feuerwehr davon wußte. Es mußte bei einem Brand eine richtige Falle sein, da es ganz aus Holz gebaut war. Solche Nebengebäude sollte es angeblich überall in der Stadt geben, aber Wetzon hatte noch nie eines gesehen. Sie erschienen nicht unter Mieteinnahmen oder auf Steuerlisten. Sie existierten offiziell nicht. Und dennoch war sie sicher, daß die Stadtwerke Strom lieferten und die New Yorker Telefongesellschaft für Anschlüsse an ihr Netz sorgte.
Die Haustür wurde von einer kleinen, später angebauten viktorianischen Kuppel geschützt, deren Holzrippen vom Efeu überwuchert waren. Es gab eine moderne Metallklingel mit einer Gegensprechanlage, darüber klebte ein Zettel, auf dem mit Rotstift stand: »Bitte einmal läuten, dann den Namen nennen.«
Sie hielt inne, den Finger über der Klingel. Noch hatte sie Zeit, kehrtzumachen und wegzulaufen. Nein, sie hatte es Smith vor Monaten versprochen und sich immer wieder davor gedrückt. Und es war schließlich ein Geburtstagsgeschenk.
Smith hatte mitkommen wollen, zweifellos um sicher zu sein, daß sie wirklich hinginge. Wetzon hatte ihre ganze Überzeugungskraft aufbieten müssen, um sie sich vom Leib zu halten. Sie hatten verabredet, sich später um sieben Uhr im Quatorze in der 14. Street zum Essen zu treffen.
Ach, was soll’s, dachte sie und drückte auf die Klingel. Die Sprechanlage knackte. »Leslie Wetzon«, sprach sie forsch hinein. Sie legte die Hand auf den Türgriff und drückte, als sie den Summer hörte. Die Tür ging auf, und Wetzon trat in ein winziges, niedriges Wohnzimmer mit einem gesprungenen und zerkratzten marmornen Kaminsims über einer Feuerstelle. Ein gewaltiger Fernseher auf einem Gestell mit Rollen war der wichtigste Gegenstand im Zimmer, das ansonsten unpassend von Coran’s eingerichtet war.
Chiliduft wehte von der linken Seite herein, und sie hörte jemanden in der Küche reden. »Einen Augen blick, bitte«, rief eine Männerstimme. Ihr Magen knurrte.
Dann erschien ein Mann in den Dreißigern, der eine Schürze über kurzen Hosen und einem karierten Hemd trug. Sein dunkles, krauses Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er wischte die Hände an der Schürze ab.
»Entschuldigen Sie bitte, Ms. Wetzon, aber Judith meditiert noch.« Er sprach mit dem knappen, Silben verschluckenden New Yorker Straßentonfall. Er sah auf die Uhr. »Möchten Sie nicht Platz nehmen?« Er zeigte in das Fernsehzimmer. »Sie läßt uns wissen, wann sie fertig ist.«
Wie? überlegte Wetzon. Na klar, mentale Telepathie. Sie grinste, während sie die schmale Treppe mit dem abgetretenen Teppich betrachtete. Gummileisten waren auf die Teppichfetzen genagelt. Was zum Teufel hatte sie hier überhaupt zu suchen? Okay, sie wollte kein Spielverderber sein. Sie setzte sich auf den Zweisitzer vor dem Fernseher. Der Fußboden des Holzhauses war uneben, so daß auch das Sofa schief stand. Sie stellte die Füße fest auf den Boden und kam sich vor wie in einem jener Märchen, in denen gemeine Hexen auftauchen.
Irgendwo läutete ein Telefon, und sie hörte, wie sich der Anrufbeantworter einschaltete. Es war ein Panasonic wie ihrer; sie erkannte es an der Folge der leisen Knacktöne. Nein, doch nicht, dieser hier hatte einen hellen Klingelton am Ende der Melodie.
»Ms. Wetzon.«
Sie sah auf.
»Judith empfängt Sie jetzt. Gehen Sie einfach die Treppe hoch. Es ist die Tür rechts.«
Wetzon wußte nicht, was sie erwartet hatte, vielleicht eine Zigeunerin mit bunten Tüchern und Perlen, doch Judith sah aus, als käme sie gerade aus der Sportabteilung von Bloomingdale’s. Das volle kastanienbraune Haar wurde mit einem schwarzen Band im Nacken zusammengehalten. Sie trug schwarze Leggings und ein weites weinrotes Seidenhemd. Und schwarze Reeboks, die aussahen, als gehörten sie zu einem Raumanzug. Nur die Ohrringe verwiesen auf andere Dimensionen, riesige blaue Metallmonde, die die Schultern streiften. Die Augen waren dunkel hinter einer leicht getönten Brille mit rotem Gestell.
»Schließen Sie die Tür, Leslie Wetzon.« Judith hatte eine heisere Stimme und den gleichen New Yorker Straßenakzent wie ihr Gefährte. Sie saß an einem wackligen Kartentisch, auf dem eine kleine Leinendecke lag. Ein großer achteckiger Spiegel lag flach auf der Tischplatte. »Bitte setzen Sie sich zu mir.« Sie trug einen geschliffenen Ring aus Rauchtopas und Smaragd an der rechten Hand, und am Handgelenk hatte sie so ein albernes Sklavenband von Cartier, das man nur mit einem Schraubenzieher ablegen kann.
»Geben Sie mir Ihre Hand«, sagte Judith.
Wetzon machte es sich auf dem freien Stuhl neben ihr bequem und streckte eine Hand aus. Judiths Hand war trocken und warm, Wetzons dagegen kalt. Judith schloß die Augen.
So was Lächerliches, dachte Wetzon. Warum klopfte dann ihr Herz? Ihre Hand kribbelte vor Wärme.
»Sie haben einen starken Willen, eine lange Lebenslinie«, murmelte Judith. »Sie sind Luft.« Sie schlug die Augen auf. »Wassermann.«
Tolle Leistung, dachte Wetzon. Smith hat dich mir im Januar geschenkt.
»In einem Ihrer früheren Leben waren Sie Primaballerina.«
Nicht schlecht geraten bei einer Frau, die ihr Haar in einem Ballerinaknoten oben auf dem Kopf trägt, dachte Wetzon.
»In diesem Leben … tanzen Sie nicht. Sie sind sehr erfolgreich. Geld. Ich sehe viel Geld. Freunde …« Sie unterbrach sich.
Ein plötzliches Hungergefühl lenkte Wetzon ab.
» … schwierige Beziehung. Streit … eine Trennung.«
»Smith und ich streiten uns ständig.«
»Hier geht es um einen Mann.«
Ein Mann? Meinte sie Silvestri?
»Aah …« Judiths Hand wurde eiskalt. Ihr Mund zuckte. »Blut!« Judith ließ Wetzans Hand los und rückte mit dem Stuhl vom Tisch weg.
Wetzon betrachtete ihre Hand. »Blut? Wo?« Da war kein Blut.
»Wo?« Judith hörte sich benommen an. Ihre Augenlider schlossen sich. »Es tut … es tut mir leid. Kommen Sie ein andermal wieder.«
Bescheuert, dachte Wetzon. Das Medium war in eine Art Erstarrung versunken. Wetzon stand auf, rückte den Riemen der Tasche über der Schulter zurecht, hob die Aktentasche vom Boden auf.
»Seien Sie vorsichtig«, murmelte Judith.
Mit der Hand auf dem Türgriff versuchte es Wetzon noch einmal. »Ich verstehe nicht. Tut mir leid. Wo sehen Sie Blut?«
Judith antwortete nicht.
Wetzon zog die Schultern hoch und ging aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Sie hörte Judith aus dem Zimmer kommen und spürte ihre Gegenwart oben am Ende der Treppe. Wetzon blieb stehen und wandte sich um.
»Auf der Straße«, sagte Judith. »Ich sehe Blut auf der Straße.«