Читать книгу Blut fließt auf der Wall Street - Annette Meyers - Страница 17
ОглавлениеIhre Wahrnehmung beim Aufwachen gehörte einer anderen Dimension an, und während sie noch dalag, empfand sie nichts als Frieden. Die Schlafzimmerfenster (es waren insgesamt sechs) blickten nach Süden und Westen, es war also noch zu früh für direktes Sonnenlicht. Die Landschaft erschien ihr wie ein geheimnisvoller Garten.
Sie lockerte sich an der Barre und duschte ausgiebig. Im Kühlschrank fand sie ein Päckchen Kaffeebohnen, auf dem mit Bleistift ›koffeinfrei‹ stand. Auf einem Bord eine Kaffeemühle, Filtertüten. Carlos hatte eine Kaffeemaschine, und bald tropfte köstlich duftender Kaffee in die dickbauchige Kanne. Wetzon fühlte sich weit weg von allem, was passiert war, beinahe als wohnte sie in einem Hotel. Und es beunruhigte sie nicht einmal, daß sie die Times vom Sonntag noch nicht gelesen hatte.
Es war nach zehn, als sie wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückkehrte und ihr einfiel, Rona anzurufen.
»Können Sie mich heute nachmittag auf einen Drink treffen?« Rona hörte sich energisch und kühl an. »Genaugenommen möchte ich Sie beide sehen.«
»Beide? Sie meinen Smith auch?«
»Ja. Ich habe die Übertragungspapiere zur Unterschrift bereit.«
Übertragungspapiere? Wovon redete sie? »Rona, entschuldigen Sie, ich bin ein bißchen durcheinander. Was für Übertragungspapiere?«
»Ich brauche Ihre Unterschrift und die Ihres Mannes, weil es ein gemeinsames Konto ist.« Ronas Stimme klang nervös.
Hm? Wetzon brauchte nur eine Sekunde. »Sie sind nicht allein.«
»Ganz recht.«
Wetzon biß sich auf die Lippe. »Smith ist auf dem Land. Ich weiß nicht, ob sie heute abend oder morgen früh zurückkommt. Und wenn wir es auf morgen verschieben?«
»Nein!« rief Rona entschieden.
»Na gut. Um vier? Ich sehe zu, ob ich Smith herbekommen kann.«
»Prima. Das Mark.«
Wetzon tippte Smith’ Nummer und machte sich auf eine Tirade gefaßt. Smith enttäuschte sie nicht.
»Du gehst entschieden zu weit, Wetzon. Man sorgt sich wirklich um dich, weißt du? Dir ist das egal. Du denkst nur an dich.«
»Entschuldige. Ich nehme an, es ist deine Wohnung, die unter Wasser steht.«
Es herrschte Stille. »Siehst du. So machst du es immer. Du biegst alles so hin, daß es dir in den Kram paßt.«
Wetzon legte einfach auf.
Das Telefon läutete.
»Hallo.«
»Wir wurden unterbrochen, Zuckerstück. Dein Telefon muß vollgelaufen sein.«
»Wir wurden nicht …« Ach, Scheiße, dachte sie. Es war, als versuchte sie, ein Gespräch mit einer Schüssel Chili zu führen.
»Bist du in deiner Wohnung, Schatz?«
»Nein, Smith. Du kannst es mir glauben. Ich hatte eine größere Überschwemmung. Meine Wohnung ist unbewohnbar.«
»Oh, du armes Kind«, säuselte Smith.
»Nein, laß das, Smith, weil es mich sonst zerreißt, und ich hasse es, mich selbst zu bemitleiden.« Sie fuhr sehr entschieden fort: »Das ist ein kleiner Sprung in einem ansonsten vollkommenen Leben. Ich bin in Carlos’ Wohnung im Village. Ich lasse die Anrufe umleiten.«
»Carlos! Du wohnst bei ihm anstatt bei mir?«
»Hör bitte damit auf.« Die Fehde zwischen Smith und Carlos war unerbittlich, alle Griffe erlaubt. Er bezeichnete sie als Barrakuda, sie schimpfte ihn degeneriert. Carlos schob Smith die Schuld zu, daß Wetzon dem Theater abtrünnig geworden war, und spürte, daß sich Smith egoistisch und eigennützig verhielt, während Smith Schwule haßte, Wetzons Zuneigung zu Carlos verübelte und ständig versuchte, sie zu untergraben. Was wahrhaftig ein unerfüllbarer Traum war. Doch das hinderte weder Carlos noch Smith daran, gegenseitig Hiebe auszuteilen, während Wetzon sich bemühte, den Frieden zu wahren.
Seit Carlos ein erfolgreicher Choreograph und eine Berühmtheit geworden war, hatte Smith ihre Beschimpfungen ein wenig gemäßigt, wann immer sein Name fiel. Jetzt nannte sie ihn »jene schwule Person«.
Carlos war ebenfalls eitel und ichbezogen, doch zu denen, die er wirklich gern hatte, war er liebevoll, großzügig und aufmerksam. Er war Wetzons bester Freund.
»Ist es Jake Donahue?«
»Wovon redest du, Smith?«
»Deine Verabredung zum Essen heute abend.«
Wetzon stöhnte. »Hörst du wohl auf? Ich rufe an, weil Rona uns heute nachmittag auf einen Drink sehen möchte. Sie drängte, daß wir beide kommen sollten.«
»Rona Middleton? Weshalb?«
»Meinst du nicht, ich würde es dir sagen, wenn ich es wüßte? Ich weiß es aber nicht. Es war jemand bei ihr, deshalb redete sie, als wäre ich eine Kundin. Sie hinterließ mir gestern abend eine Nachricht, es habe sich etwas Wichtiges ergeben.« Als Smith nichts sagte, fuhr Wetzon fort: »Ich habe vier Uhr im Mark ausgemacht und ihr gesagt, ich sei nicht sicher, ob ich dich erreichen könnte. Wenn du also nicht möchtest…«
»Natürlich werde ich da sein.« Smith war mit einem Mal so liebenswürdig, daß Wetzon sich fragte, was los war.
»Ist mit dir und Twoey alles in Ordnung?«
»Bestens.« Sie sagte es schnell, spuckte es geradezu aus. »Nur kommt Janet heute mittag aus Paris zurück, und Twoey muß zum Kennedy rausfahren, um sie abzuholen.« Sie bemühte sich nicht, sich die Verstimmung nicht anmerken zu lassen. »Er ißt heute mit ihr zu Abend.«
Janet Barnes war Twoeys Mutter, eine herrische, immer noch schöne rothaarige Witwe. Letztes Jahr, als sie Twoey kennengelernt hatte, hatte Wetzon Smith gewarnt, daß seine Mutter ihn am Gängelband habe, doch Smith hatte die Warnung vom Tisch gewischt. Sie erklärte, sie könne mit Janet umgehen. Wegen Twoey hatte Smith Jake Donahue den Laufpaß gegeben.
»Ohne dich?«
»Weil ich es so wollte.«
Wetzon war sich nicht so sicher. »Ich kann dich im Mark treffen.«
»Ich bin mit dem Wagen hier«, sagte Smith. »Bist du im Village? Ich hole dich ab.«
»Ich fahre zu mir hoch, um zu sehen, ob ich noch etwas retten kann. Du kannst mich dort abholen, wenn du willst.«
»Ich hoffe, diese Sache mit Rona ist nichts, was uns etwas kostet.« Smith hörte sich besorgt an.
»Dich und mich zusammen.«
»Ist es jemand, den ich kenne?«
»Wirst du wohl aufhören?« Wetzon lachte. »Du benimmst dich wie ein kleines Kind.« Smith würde nicht lockerlassen, bis sie von Alton Pinkus wußte, doch Wetzon hatte nicht die Absicht, es ihr zu erzählen. Wenigstens noch nicht.
Sie legte auf und ging mit den Buchbesprechungen in der Times und noch einer Tasse Kaffee wieder ins Bett, doch sie kam nicht über die erste Seite hinaus, weil Carlos anrief, um zu hören, ob alles in Ordnung war. Da war es bereits Mittag, und sie durfte keine Zeit mehr vergeuden.
Der große Koffer mußte ausgepackt, ihre Unterwäsche und die Trainingssachen in die leeren Schreibtischschubladen gelegt werden. Als sie unten in den Koffer langte, fand sie das schwarze Lederetui, das die Pistole enthielt. Wetzon setzte sich aufs Bett und starrte es eine Weile an. Dann legte sie es in die Schublade unter die Strumpfhosen. Wie sie Silvestri kannte, war die Pistole nicht geladen. Nichts Beunruhigendes. Außerdem wußte sie sowieso nicht, wie man das nachprüfte.
Sie zog die schwarze lederne Hose und das rote Seidenhemd an, trug ein wenig grauen Lidschatten auf, etwas Rouge auf die Wangen. Einen farblosen Lippenglanz. Bürstete den Zopf auf und drehte ihr Haar zum Ballerinaknoten mitten auf dem Kopf.
Das Telefon läutete. Sollte sie es dem Automaten überlassen? Am besten.
Hallo, kam eine gedehnte Stimme. Ich muß die falsche Nummer erwischt haben.
Wetzon griff schnell zum Hörer. »Bleib dran, Laura Lee.«
Ihre Freundin Laura Lee Day war vor einem Jahrzehnt nach New York gekommen, um Konzertgeigerin zu werden, und hatte, da sie selbst für sich sorgen mußte, eine Stelle als Mäklerin bei Merrill Lynch angenommen. Wetzon hatte eine Menge Börsenmakler kennengelernt, die Musiker waren oder gewesen waren. Es war eine eigenartige Verbindung: Musik und Finanzen. Als Wetzon als vertrauliche Empfehlung Laura Lees Namen bekam, rief sie auf Verdacht an, und sie wurden miteinander bekannt und schließlich Freundinnen. Wetzon hatte Laura Lee zu Oppenheimer gebracht, wo sie eine Spitzenkraft als Finanzberaterin war. Sie beriet auch Wetzon in Geldsachen.
Durch ihr Faible für klassische Musik empfahl Laura Lee sich erfolgreichen Personen aus dem Kunstbereich und hatte einen breiten, wenn auch anspruchsvollen Kundenstamm aufgebaut. Wie es bei Finanzmanagern häufig vorkam, war sie für viele ihrer Kunden mehr als eine Finanzberaterin geworden. Sie erfüllte die unterschiedlichen Rollen der Mutter, Schwester, Freundin und sogar Therapeutin. Sie war Patin bei Kindern ihrer Kunden und Friedensstifterin zwischen Kunden, die in Scheidung lebten. Das alles ging nicht spurlos an ihr vorüber, doch Laura Lee hatte meistens gute Laune; nur selten ließ sie sich von etwas unterkriegen. Der Börsenkrach von 1987 hatte sie und alle, die mit dem Markt zu tun hatten, so aus der Bahn geworfen, daß es danach, sagte sie, nur noch aufwärts gehen konnte.
»Wer ist der Charmeur auf deinem Anrufbeantworter? Was hast du mir verschwiegen, Schatz?«
»Nichts, nur daß mich letzte Nacht eine Überschwemmung aus meiner Wohnung vertrieben hat und ich solange in Carlos’ Dachwohnung im Village wohne«, antwortete Wetzon. »Und sag bitte nicht, ich hätte dich anrufen können.« Sie hörte die Abwehrhaltung aus der eigenen Stimme heraus und hätte sich ohrfeigen mögen. So verhielt sich Smith immer ihr gegenüber.
»Es liegt mir fern, dich zu kritisieren, Schatz, aber du benimmst dich ungewohnt schlecht gelaunt. Demnach muß es wirklich schlimm gewesen sein.«
»Kann man wohl sagen. Der Idiot über mit schlief ein und ließ die Badewanne überlaufen. Ich hatte die Niagarafälle bei mir. Ich muß jemand finden, der einen Kostenvoranschlag macht. Ach, Scheiße, Laura Lee.«
»Reiß dich zusammen, Schatz, das wird schon wieder. Denk an den Spaß, den dir das Wiedereinrichten machen wird, und ich rufe an, um dir mitzuteilen, daß deine Konten dieses Jahr um zweiunddreißig Prozent gewachsen sind, du kannst also Geld ausgeben …«
»Und wenn schon, Laura Lee? Und wenn schon?«
»Schatz, ich möchte dich was fragen. Bist du bei der Überschwemmung verletzt worden?«
»Nein, aber …«
»Leidest du an einer lebensgefährlichen Krankheit?«
»Nein.«
»Muß ich noch mehr sagen?«
Wetzon wischte sich über die Augen und seufzte. »Du hast natürlich recht. Du hast recht. Ich habe nur zwei wirklich schlimme Tage hinter mir, die damit begannen, daß mein nächster großer Kandidat sich am selben Morgen, an dem er bei Loeb Dawkins anfangen sollte, ermorden ließ.«
»Du meine Güte, Brian Middleton. Er war bei dir?«
»Du kanntest Brian, Laura Lee?«
»Ich bin ihm einmal begegnet. Vor kurzem erst. Und um die Wahrheit zu sagen, Schatz, ich war nicht gerade beeindruckt. Ich möchte wirklich nicht schlecht von einem Toten sprechen, aber er war ein fieser Typ. Er hat sich hier vorgestellt, durch einen anderen Headhunter. Und du weißt ja, wie gern sie mit mir armem Ding vor diesen Kandidaten angeben. Jedenfalls brachten sie ihn zu mir, um guten Tag zu sagen.«
»Moment mal. Hast du gesagt, er arbeitete mit einem anderen Headhunter? Mit wem?« Warum schockierte sie das immer wieder? Nimm es, wie es ist, sagte sie sich. Sie arbeiteten eben mit anderen Headhuntern. Nimm’s nicht persönlich. Aber sie schaffte es nicht.
»Wie heißt er noch … du weißt schon, Harold Soundso. Der für Tom Keegen arbeitet und früher bei euch war.«