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KAPITEL 2 Gehörlose werden hören und Gelähmte werden gehen

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Ein birmanischer Elefant hat die gleichen Gene, egal ob er in einem Holzfällerlager schwere Arbeit leistet oder in freier Wildbahn lebt. Seine DNS gibt uns keine Auskunft über seine Lebensbedingungen. Ebenso sagen Elektronen nichts über die wohl interessantesten Aspekte der Elektrizität aus. Wir haben die Elektrizität – genauso wie Elefanten – dazu benutzt, unsere Lasten zu tragen und große Ladungen zu befördern. Und während wir Elefanten in Gefangenschaft hielten, haben wir auch ihr Verhalten und ihre Eigenschaften mehr oder weniger begriffen. Das darf uns aber nicht zu dem Glauben verleiten, dass wir deshalb das Leben ihrer Verwandten in freier Natur ebenso verstehen.

Was sind die Ursachen für Donner und Blitz, die dazu führen, dass Wolken elektrisiert werden und sich mit Heftigkeit auf die Erde entladen? Die Wissenschaft ist sich darüber immer noch nicht im Klaren. Warum hat die Erde eigentlich ein Magnetfeld? Was macht gekämmtes Haar kraus oder lässt Nylon haften und Luftballons an Wänden kleben? Gerade beim letzten Beispiel geht es um eines der häufigsten aller elektrischen Phänomene, das aber immer noch nicht vollends verstanden wird. Und wie arbeitet unser Gehirn, wie funktionieren unsere Nerven oder wie kommunizieren unsere Zellen? Wie ist das Wachstum unseres Körpers choreografiert? In dieser Hinsicht ist unser Wissen immer noch sehr begrenzt. Und die in diesem Buch aufgeworfene Frage – „Was sind die Auswirkungen von Elektrizität auf das Leben?“ – stellt die moderne Wissenschaft noch nicht einmal. Das einzige Anliegen der Wissenschaft ist es heute, die Exposition des Menschen unter einem Niveau zu halten, bei dem die Zellen buchstäblich gekocht werden. Über die Auswirkungen nicht tödlicher Elektrizität will die Mainstream-Wissenschaft nichts mehr wissen. Aber im achtzehnten Jahrhundert stellten Wissenschaftler nicht nur die Frage, sondern sie begannen auch, Antworten darauf zu liefern.

Frühe Reibungsmaschinen konnten auf etwa 10.000 Volt aufgeladen werden. Damit lässt sich ein heftiger Stromschlag auslösen, aber es ist nicht genug, um damals wie heute als gefährlich angesehen zu werden. Zum Vergleich: Eine Person kann beim Gehen über einen synthetischen Teppich 30.000 Volt in ihrem Körper ansammeln. Das Entladen schmerzt, führt aber nicht zum Tod.

Eine Leidener Flasche von einem halben Liter konnte einen heftigen Stromschlag von etwa 0,1 Joule Energie abgeben. Das ist aber immer noch in etwa hundertmal weniger als das, was als gefährlich gilt, und Tausende Male geringer als Stromschläge, die routinemäßig von Defibrillatoren abgegeben werden, um Menschen bei Herzstillstand wiederzubeleben. Laut der aktuellen Mainstream-Wissenschaft sollten die im 18. Jahrhundert verwendeten Funken, Stromschläge und winzigen Stromstärken keinerlei Auswirkungen auf die Gesundheit gehabt haben. Das war aber nicht der Fall.

Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Patient im Jahr 1750, der an Arthritis leidet. Ihr Elektropraktiker würde Sie auf einen Stuhl mit Glasbeinen setzen, der somit gut vom Boden isoliert ist. Sobald Sie an die Reibungsmaschine angeschlossen sind, soll sich das „elektrische Fluidum“ nämlich in Ihrem Körper sammeln, anstatt sie in die Erde abzuleiten. Je nach der Philosophie Ihres Elektropraktikers, der Schwere Ihrer Erkrankung und Ihrer eigenen Toleranz gegenüber Elektrizität gab es verschiedene Möglichkeiten, Sie zu „elektrisieren“. Das „elektrische Bad“ ist die sanfteste Option. Hier halten Sie einfach eine Stange in der Hand, die mit dem Hauptleiter verbunden ist. Dann wird die Maschine minuten- oder stundenlang kontinuierlich angekurbelt, um deren Ladung auf Ihren ganzen Körper zu übertragen und eine elektrische „Aura“ um Sie herum zu schaffen. Wenn dies sanft genug geschieht, fühlen Sie nichts. Geradeso wie eine Person, die schlurfend über einen Teppich läuft und dabei ganz unbewusst eine Ladung im Körper ansammelt.

Nachdem Sie auf diese Weise „gebadet“ wurden, wird die Maschine angehalten. Jetzt werden Sie möglicherweise mit dem „elektrischen Wind“ behandelt. Strom entlädt sich am leichtesten aus spitz zulaufenden Leitern. Daher wird ein geerdeter, spitzer Metall- oder Holzstab dicht an Ihr schmerzhaftes Knie geführt. Sie würden wieder kaum etwas verspüren – vielleicht einen kleinen Windhauch – wenn die in Ihrem Körper angesammelte Ladung langsam über Ihr Knie in den geerdeten Stab abfließt.

Für einen stärkeren Effekt könnte Ihr Elektropraktiker einen Stab mit einem abgerundeten Ende verwenden. Er bringt damit anstelle von kontinuierlichem Strom tatsächliche Funken aus Ihrem kranken Knie hervor. Und wenn Ihr Zustand schwerwiegend sein sollte – zum Beispiel, wenn Ihr Bein gelähmt ist – lädt er möglicherweise eine kleine Leidener Flasche auf und versetzt Ihrem Bein eine Reihe starker Stromschläge.

Elektrizität war in zwei Empfindungsrichtungen erhältlich: die positive oder „glasartige“ Elektrizität, die durch Reiben von Glas erzeugt wurde, und die negative oder „harzartige“ Elektrizität, die ursprünglich durch Reiben von Schwefel oder verschiedenen Harzen entstand. Ihr Elektropraktiker würde Sie höchstwahrscheinlich mit positiver Elektrizität behandeln, da diese Variante normalerweise auf der Oberfläche eines gesunden Körpers zu finden ist.

Das Ziel der Elektrotherapie war es, die Gesundheit zu stimulieren, indem das elektrische Gleichgewicht des Körpers ausgeglichen und wiederhergestellt wurde. Die Idee war sicherlich nicht neu. In einem anderen Teil der Welt wurde die Nutzung natürlicher Elektrizität über Jahrtausende hinweg beherrscht und verfeinert. Akupunkturnadeln leiten, wie wir in Kapitel 9 sehen werden, atmosphärische Elektrizität in den Körper. Hier bewegt sie sich auf genau kartierten Pfaden, um dann durch andere Nadeln, die den Kreislauf vervollständigen, in die Atmosphäre zurückzukehren. Im Vergleich mit anderen Regionen steckte die Elektrotherapie in Europa und Amerika noch in den Kinderschuhen, obwohl sie vom Konzept her ähnlich war. Die hierbei verwendeten Instrumente waren allerdings so subtil wie ein Vorschlaghammer.

In der europäischen Medizin gab es im 18. Jahrhundert viele solcher Vorschlaghämmer. Wenn Sie wegen Ihres Rheumas zu einem konventionellen Arzt gingen, konnten Sie damit rechnen, dass dieser Sie zur Ader ließ, zum Erbrechen brachte, Abführmittel verabreichte, bei Ihnen Blasen hervorbrachte und Ihnen sogar Quecksilber verabreichte. Es ist deshalb verständlich, dass der Besuch beim Elektropraktiker eine sehr attraktive Alternative darstellte. Und so blieb es auch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.

Nach mehr als einem halben Jahrhundert uneingeschränkter Beliebtheit fiel die Elektrotherapie um 1800 vorübergehend in Ungnade. Grund dafür war eine Reaktion auf bestimmte Kulte. Einer entwickelte sich in Europa um Anton Mesmer und seine sogenannte „magnetische“ Heilung, ein anderer in Amerika um Elisha Perkins und seine „elektrischen“ Traktoren. Das waren ungefähr acht Zentimeter lange Metallstifte, die man über einem kranken Körperteil hin und her bewegte. Weder Mesmer noch Perkins benutzten Magnete oder Elektrizität, aber trotzdem umgab beide Methoden ihretwegen eine Zeit lang ein schlechter Ruf. Gegen Mitte des Jahrhunderts wurde die Elektrizität dann wieder Mainstream, sodass in den 1880er-Jahren 10.000 amerikanische Ärzte ihre Patienten damit behandelten.

Im frühen 20. Jahrhundert fiel die Elektrotherapie dann endgültig in Ungunst. Vielleicht war sie einfach nicht mehr mit dem, was sich seinerzeit auf der Welt abspielte, vereinbar. Elektrizität war keine subtile Kraft mehr, die etwas mit dem Leben zu tun hatte. Sie wurde nunmehr zu einem Dynamo, der fähig war, Lokomotiven anzutreiben und Gefangene hinzurichten. Die Heilung von Patienten trat dabei völlig in den Hintergrund. Die Funken, die von einer Reibungsmaschine anderthalb Jahrhunderte vor der Verdrahtung der Welt abgegeben wurden, riefen jetzt ganz andere Assoziationen als Gesundheit, Medizin und Therapie hervor.

Es besteht kein Zweifel daran, dass mit der Elektrizität sowohl ernsthafte als auch weniger ernste Krankheiten geheilt wurden. Die Erfolgsberichte über fast zwei Jahrhunderte waren zwar manchmal übertrieben, aber sie sind zu zahlreich und oft sehr detailliert und gut belegt, um sie pauschal beiseitezulegen. Sogar im frühen 19. Jahrhundert, als Elektrizität keinen guten Ruf hatte, tauchten weiterhin Berichte auf, die nicht ignoriert werden konnten. Beispielsweise nahm die London Electrical Dispensary zwischen dem 29. September 1793 und dem 4. Juni 1819 insgesamt 8.686 Patienten zur Behandlung mit Elektrizität auf. Von diesen wurden zur Zeit der Entlassung 3.962 als „geheilt“ und weitere 3.308 als „gelindert“ eingestuft. Das entspricht einer Erfolgsquote von 84 Prozent.1

Obwohl das Hauptaugenmerk dieses Kapitels auf den Auswirkungen liegt, die nicht unbedingt vorteilhaft sind, ist es dennoch wichtig, dass wir uns daran erinnern, warum die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts genauso von der Elektrizität fasziniert war wie wir heute. Seit fast 300 Jahren neigen wir dazu, ihrem Nutzen nachzujagen und ihre schädlichen Nachteile vom Tisch zu wischen. Aber im 18. und 19. Jahrhundert war der tägliche Gebrauch von Elektrizität in der Medizin eine stetige Erinnerung daran, dass Elektrizität und Biologie eng miteinander verbunden waren. In unserer westlichen Welt steckt die Elektrizität als biologische Wissenschaft immer noch in den Kinderschuhen und ihre erfolgreichen Heilungen sind längst in Vergessenheit geraten. Lassen Sie mich nur eine davon in Erinnerung bringen.

Die Welt unter Strom

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