Читать книгу Die Welt unter Strom - Arthur Firstenberg - Страница 19

Die Umbenennung

Оглавление

Im Dezember 1894 schrieb ein aufstrebender Wiener Psychiater eine Arbeit, deren Einfluss enorm war und deren Konsequenzen für nachfolgende Wissenschaftler tiefgreifend und bedauerlich waren. Seinetwegen wird die Neurasthenie, die immer noch die häufigste Krankheit unserer Zeit ist, als normales Element des menschlichen Zustands akzeptiert, für das keine äußere Ursache gesucht werden muss. Seinetwegen wird allgemein angenommen, dass Umweltkrankheiten, d. h. Krankheiten, die durch eine toxische Umgebung verursacht werden, nicht existieren. Ihre Symptome werden automatisch auf Gedankenstörungen und außer Kontrolle geratene Emotionen zurückgeführt. Seinetwegen verschreiben wir heute Millionen von Menschen Xanax, Prozac und Zoloft, anstatt ihre Umgebung zu reinigen. Vor über einem Jahrhundert, zu Beginn einer Ära, in der der Einsatz von Elektrizität nicht nur für die Kommunikation, sondern auch für Licht, Antrieb und Zugkraft mit Volldampf in Gang gesetzt wurde, benannte Sigmund Freud die Neurasthenie in „Angstneurose“ und ihre Krisen in „Angstattacken“ um. Heute nennen wir sie auch „Panikattacken“.

Die von Freud aufgeführten Symptome sind neben der Angst jedem Arzt, jedem „Angst“-Patienten und jeder Person mit Elektrosensibilität bekannt:

Reizbarkeit

Herzklopfen, Herzrhythmusstörungen und Brustschmerzen

Atemnot und Asthmaanfälle

Schwitzen

Zittern und Schüttelfrost

Heißhunger

Durchfall

Schwindelgefühl

Vasomotorische Störungen (Hitzewallungen, kalte Extremitäten usw.)

Taubheit und Kribbeln

Schlaflosigkeit

Übelkeit und Erbrechen

Häufiges Wasserlassen

Rheumatische Schmerzen

Schwäche

Erschöpfung

Freud beendete die Suche nach einer physischen Ursache für Neurasthenie, indem er sie als Geisteskrankheit klassifizierte. Und dann, indem er fast alle Fälle als „Angstneurose“ bezeichnete, unterzeichnete er das Todesurteil der Neurasthenie. Obwohl er vorschützte, Neurasthenie als eigenständige Neurose stehen zu lassen, beanspruchte er fast alle Symptome für seine Diagnose. Damit wurde sie in westlichen Ländern so gut wie vergessen. In einigen Kreisen blieb es als „chronisches Müdigkeitssyndrom“ bestehen – eine Krankheit ohne Ursache, die viele Ärzte für psychisch halten und die die meisten nicht ernst nehmen. In den Vereinigten Staaten wurde die Neurasthenie durch den allgemeinen Ausdruck „Nervenzusammenbruch“ ersetzt, wobei sich nur wenige Menschen an seinen Ursprung erinnern.

In der Internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD-10) gibt es einen eindeutigen Code für Neurasthenie, F48.0. In der in den Vereinigten Staaten verwendeten Version (ICD-10-CM) wurde F48.0 jedoch entfernt. In der amerikanischen Version wird die Neurasthenie nur in einer Reihe von „anderen nicht psychotischen psychischen Störungen“ erwähnt und so gut wie nie diagnostiziert. Selbst im Handbuch Diagnostic and Statistical Manual (DSM-V), dem offiziellen System für die Zuweisung von Codes für psychische Erkrankungen in amerikanischen Krankenhäusern, gibt es keinen Code für Neurasthenie.

Allerdings war dies nur in Nordamerika und Westeuropa ein Todesurteil. Die Hälfte der Welt verwendet immer noch Neurasthenie als Diagnose im Sinne von Beard. In ganz Asien, Osteuropa, Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken ist Neurasthenie heute die häufigste aller psychiatrischen Diagnosen sowie eine der am häufigsten diagnostizierten Krankheiten in der Allgemeinmedizin.17 Es wird oft als Zeichen chronischer Toxizität angesehen.18

In den 1920er-Jahren, zu der Zeit, als der Begriff im Westen aufgegeben wurde, wurde er in China erstmals verwendet.19 Der Grund: China hatte gerade mit der Industrialisierung begonnen. Die Epidemie, die in Europa und Amerika bereits im späten 19. Jahrhundert angefangen hatte, hatte China zu diesem Zeitpunkt noch nicht erreicht. In Russland, das zusammen mit dem Rest Europas den Prozess der Industrialisierung anstieß, wurde die Neurasthenie in den 1880er-Jahren zur Epidemie.20 Die russische Medizin und Psychologie des 19. Jahrhunderts wurden jedoch stark vom Neurophysiologen Iwan Setschenow beeinflusst, der hervorhob, dass externe Reize und Umweltfaktoren die Funktionsweise von Körper und Geist verändern. Aufgrund des Einflusses von Setschenow und danach durch seinen Schüler Iwan Pawlow, lehnten die Russen Freuds Neudefinition von Neurasthenie als Angstneurose ab. Im 20. Jahrhundert fanden russische Ärzte dann eine ganze Reihe von Umweltursachen für die Neurasthenie, darunter die Elektrizität sowie elektromagnetische Strahlung in ihren verschiedenen Formen. Und schon in den 1930er-Jahren – da sie danach suchten und andere nicht – wurde in Russland eine neue Erkrankung namens „Radiowellenkrankheit“ entdeckt, die heute in aktualisierten Begriffen in medizinischen Lehrbüchern der gesamten ehemaligen Sowjetunion enthalten ist. Bis heute wird sie in westlichen Ländern ignoriert. Ich werde in späteren Kapiteln darauf zurückkommen.

In den frühen Stadien decken sich die Symptome der Radiowellenkrankheit mit denen der Neurasthenie. Als Lebewesen besitzen wir nicht nur einen Geist und einen Körper, sondern auch Nerven, die beide verbinden. Unsere Nerven sind nicht nur Kanäle für die Ebbe und Flut des elektrischen Fluidums aus dem Universum, wie früher angenommen wurde. Sie sind auch nicht einfach nur ein ausgeklügelter Botendienst, der die Muskeln mit Chemikalien versorgt, wie derzeit angenommen wird. Vielmehr sind sie – wie wir sehen werden – beides. Als Botendienst kann das Nervensystem durch schädliche Chemikalien vergiftet werden. Als Netzwerk feiner Übertragungsdrähte kann es leicht durch eine große oder unbekannte elektrische Last beschädigt oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Das hat genau die Auswirkungen auf Körper und Geist, die wir heute als Angststörung kennen.

Die Welt unter Strom

Подняться наверх