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KAPITEL 4 Die falsche Abzweigung

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Die europäische Wissenschaft sah sich während der 1790er-Jahre mit einer Identitätskrise konfrontiert. Seit Jahrhunderten spekulierten Philosophen über die Natur von vier mysteriösen Substanzen, die die Welt belebten: Licht, Elektrizität, Magnetismus und Wärme. Es wurde allgemein angenommen, dass die vier Fluida irgendwie miteinander in Bezug standen, aber es war die Elektrizität, die am offensichtlichsten mit dem Leben verbunden war. Nur die Elektrizität brachte Bewegung in Nerven und Muskeln und ließ das Herz pulsieren. Die Elektrizität donnerte vom Himmel und sorgte dafür, dass Winde wirbelten, Wolken sich auftürmten und Regen auf die Erde prasselte. Das Leben an sich war Bewegung und die Elektrizität setzte alles in Gang.

Die Elektrizität war „ein elektrischer und dehnbarer Geist“, durch den „alle Empfindungen erregt werden. Die animalischen Körperglieder bewegen sich nämlich auf Befehl des Willens durch die Schwingungen dieses Geistes. Diese Schwingungen lösen sich gegenseitig entlang der festen Neurofilamente aus und verteilen sich von den äußeren Sinnesorganen zum Gehirn und vom Gehirn in die Muskeln.“1 So Isaac Newton im Jahr 1713. Und im nächsten Jahrhundert waren nur wenige anderer Meinung.

Die Elektrizität war

„ein Element, das für uns inniger ist als die Luft, die wir atmen.“

Abbé Nollet, 1746 2

„das Prinzip der animalischen Funktionen, das Instrument des Willens und das Vehikel der Empfindungen.“

Marcelin Ducarla-Bonifas, französischer Physiker, 17793

„das Feuer, das alle Körper brauchen und das ihnen Leben gibt … das sowohl an bekannte Materie gebunden als auch von ihr getrennt ist.“

Voltaire, 17724

„eines der Prinzipien der Vegetation; sie befruchtet unsere Felder, unsere Reben, unsere Obstgärten und bringt Fruchtbarkeit in die Tiefen der Gewässer.“

Dr. Jean-Paul Marat, 17825

„die Seele des Universums“, die „das Leben in der ganzen Natur erzeugt und erhält, sowohl bei Tieren als auch bei Pflanzen.“

John Wesley, Gründer der Methodistenkirche, 17606

Dann kam Luigi Galvanis atemberaubende Bekanntmachung, dass das bloße Berühren eines Eisendrahtes mit einem Messinghaken dazu führte, dass sich das Bein eines Frosches zusammenzog. Galvani, ein bis dahin eher unauffälliger Professor für Geburtshilfe am Institut der Wissenschaften von Bologna, war der Meinung, dass sich hier ein interessantes physiologisches Phänomen zeigte: Jede Muskelfaser musste wohl selbst so etwas wie eine organische Leidener Flasche sein und Elektrizität besitzen. Der in seinen Experimenten erzeugte metallische Stromkreislauf, so argumentierte er, setzte diese „animalische Elektrizität“, die vom Gehirn erzeugt und in den Muskeln gespeichert wurde, nur noch frei. Die Funktion der Nerven bestand folglich darin, diese gespeicherte Elektrizität zu entladen. Die unterschiedlichen Metalle, die in direktem Kontakt mit dem Muskel standen, ahmten dabei auf irgendeine Weise die natürliche Funktion der eigenen Nerven des Tieres nach.

Aber Galvanis Landsmann Alessandro Volta vertrat eine entgegengesetzte und zu dieser Zeit ketzerische Meinung. Der elektrische Strom ging seiner Meinung nach nicht vom Tier aus, sondern von den unterschiedlichen Metallen selbst. Die Zuckungen waren laut Volta ausschließlich auf den äußeren Reiz zurückzuführen. Darüber hinaus, verkündete er, existiere die „animalische Elektrizität“ nicht einmal. Den Beweis hierfür erbrachte er mit seiner bedeutsamen Demonstration, dass der elektrische Strom durch den Kontakt verschiedener Metalle allein erzeugt werden konnte – ohne das Mitwirken eines Tieres.

Die beiden Kontrahenten repräsentierten offensichtlich zwei verschiedene Weltanschauungen: Der als Arzt ausgebildete Galvani verankerte seine Erklärungen in der Biologie. Seiner Meinung nach waren die Metalle mit einem lebenden Organismus verbunden. Volta, der autodidaktische Physiker, sah genau das Gegenteil: Der Frosch war lediglich eine Erweiterung des unbelebten metallischen Stromkreislaufs. Für Volta war der Kontakt eines Leiters mit einem anderen ausschlaggebend, und zwar sogar für die Elektrizität, die sich im Tier zeigte: Muskeln und Nerven waren praktisch nur feuchte Leiter und somit lediglich eine andere Art elektrischer Batterie.

Ihr Streit war nicht nur ein Beispiel für einen Konflikt zwischen Wissenschaftlern oder zwischen Theorien. Hier prallten die Jahrhunderte aufeinander, der Mechanismus auf der einen Seite und der menschliche Geist auf der anderen Seite gerieten in Konflikt miteinander – ein existenzieller Kampf, der Ende der 1790er-Jahre das Grundgerüst der westlichen Zivilisation ins Wanken brachte. Kurz darauf sollten sich Handweber gegen mechanische Webstühle auflehnen, aber ihr Aufstand war zum Scheitern verurteilt. In der Wissenschaft wie im Alltag verdrängten und verschleierten materielle Interessen immer mehr die realen Lebensbedingungen der Menschen.

Natürlich gewann Volta den Kampf. Seine Erfindung der elektrischen Batterie gab der industriellen Revolution einen enormen Auftrieb. Sein Beharren darauf, dass Elektrizität nichts mit einem belebten Körper an sich zu tun hatte, trug auch dazu bei, dass Elektrizität fortan in eine andere Richtung gelenkt wurde. Diese Fehlentscheidung ermöglichte es der Gesellschaft, Elektrizität auf industrieller Ebene zu nutzen – die Welt zu verdrahten, wie Nollet es sich vorgestellt hatte –, ohne sich über die Auswirkungen eines solchen Unterfangens auf Biologie und Leben, Gedanken zu machen. Und das war auch der Freifahrtschein, um das gesammelte Wissen der Elektropraktiker des 18. Jahrhunderts zu ignorieren.

Schließlich erschienen die italienischen Physiker Leopoldo Nobili und Carlo Matteucci und auch ein deutscher Physiologe namens Emil du Bois-Reymond auf der Bildfläche. Wenn wir dem, was wir in den Lehrbüchern lesen, Vertrauen schenken können, dann haben diese drei bewiesen, dass die Elektrizität doch etwas mit dem Leben zu tun hatte und dass Nerven und Muskeln nicht nur feuchte Leiter waren. Aber das mechanistische Dogma war bereits fest verankert und widerstand allen Versuchen, die Verbindung zwischen Leben und Elektrizität wieder gebührend herzustellen. Der Vitalismus wurde dauerhaft in den Bereich der Religion, in das Reich des Unwesentlichen, verbannt und für immer von der Domäne der ernsthaften, aufklärenden Wissenschaft ausgeschlossen. Experimentell nachweisen ließ sich die Kraft, die hinter allem Leben steckt, jedenfalls nicht – sofern es sie überhaupt gab. Keineswegs konnte es sich dabei um dieselbe Substanz handeln, die Elektromotoren drehte, Glühbirnen erleuchten ließ und Tausende von Kilometern auf Kupferdrähten zurücklegte. Ja, man hatte endlich die Elektrizität in den Nerven und Muskeln entdeckt. Aber ihre Aktion war nur ein Signal des transmembranen Transports der Natrium- und Kaliumionen und der Neurotransmitter über den synaptischen Spalt. Die Chemie stand jetzt hoch im Kurs – sie war der fruchtbare, scheinbar endlose wissenschaftliche Boden, der die gesamte Biologie, die gesamte Physiologie nährte. Dass es Kräfte geben könnte, die aus der Ferne auf das Leben einwirkten, dies wurde dabei völlig beiseitegeschoben.

Eine andere, noch bedeutendere Veränderung, geschah nach 1800: Nach und nach vergaßen die Menschen sogar, sich über die eigentliche Natur der Elektrizität Gedanken zu machen. Man begann nunmehr mit der Errichtung eines permanenten elektrischen Bauwerks, dessen Einflüsse überall schleichend Fuß fassten, ohne dass man die Konsequenzen bemerkte oder darüber nachdachte. Anders ausgedrückt: Obwohl diese Konsequenzen bis ins kleinste Detail aufgezeichnet wurden, fehlte das Verständnis für das, was da eigentlich gebaut wurde.

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