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KAPITEL 9 Die elektrische Hülle der Erde A

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Alle Dinge durch unsterbliche Kraft,

Nah oder fern,

Sind versteckt

Miteinander verbunden,

So dass du keine Blume berühren kannst,

ohne dass ein Stern es spürt

Francis Thompson,

in The Mistress of Vision

Wenn ich eine Blume betrachte, sehe ich sie ganz anders als eine Honigbiene, die von ihr angelockt wird, um Nektar zu sammeln. Die Biene sieht wunderschöne ultraviolette Muster, die für mich unsichtbar sind; sie hingegen erkennt die Farbe Rot nicht. Eine rote Mohnblume ist für sie ultraviolett. Die Fingerkrautblüte ist für mich ein pures Gelb, für die Biene ist sie jedoch lila, mit einem gelben Blütenkelch, der sie zu ihrem Nektar lockt. Die meisten weißen Blüten sind in ihren Augen blaugrün.

Wenn ich in den Nachthimmel schaue, erscheinen die Sterne als glitzerndes Licht, das durch die Erdatmosphäre funkelt. Ansonsten herrscht überall – mit Ausnahme des Monds und einiger Planeten – totale Dunkelheit und Schwärze. Das ist allerdings nur eine Illusion. Wenn wir alle Farben der Welt wahrnehmen könnten, einschließlich des Ultravioletts wie die Honigbienen und des Infrarots wie die Schlangen, und auch die Niederfrequenzen wie die Welse und Salamander, die Radiowellen, die Röntgenstrahlen, die Gammastrahlen, die langsamen galaktischen Pulsationen – wenn wir alles wahrnehmen könnten, wie es tatsächlich in seinen unzähligen Formen und Schattierungen, in all seiner blendenden Pracht ist – dann sähen wir bei Tag und bei Nacht überall Form und Bewegung anstelle von Schwärze.

Fast die gesamte Materie im Universum ist elektrisch geladen, ein endloses Meer ionisierter Teilchen. Aufgrund des unberechenbaren und lebensechten Verhaltens dieser elektrifizierten Materie werden sie – wie der Inhalt lebender Zellen – Plasma genannt. Die Sterne, die wir sehen, bestehen aus Elektronen, Protonen, blanken Atomkernen und anderen geladenen Teilchen, die in ständiger Bewegung sind. Der Raum zwischen den Sternen und Galaxien ist keineswegs leer. Ganz im Gegenteil, in ihm schwirrt es regelrecht mit elektrisch geladenen subatomaren Teilchen, die in riesigen wirbelnden elektromagnetischen Feldern schwimmen und von diesen Feldern nahezu auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden. Plasma ist ein so guter Stromleiter, weitaus besser als alle Metalle, dass Plasmafilamente – unsichtbare Drähte, die Milliarden von Lichtjahren lang sind – elektromagnetische Energie in gigantischen Schaltkreisen von einem Teil des Universums zum anderen transportieren und den Himmel formen. Unter dem Einfluss elektromagnetischer Kräfte über Milliarden von Jahren sammeln sich kosmische Strudel entlang dieser Filamente wie Perlen an einer Schnur an und entwickeln sich dann zu Galaxien, die unseren Nachthimmel schmücken. Darüber hinaus teilen dünne Hüllen aus elektrischem Strom – Doppelschichten genannt – wie die Membrane der biologischen Zellen den intergalaktischen Weltraum in riesige Felder auf, von denen jedes unterschiedliche physikalische, chemische, elektrische und magnetische Eigenschaften haben kann. Einige mutmaßen sogar, dass eine Doppelschicht auf der einen Seite aus Materie und auf der anderen Seite aus Antimaterie besteht. Enorme elektrische Felder verhindern, dass sich die verschiedenen Regionen des Weltalls vermischen, genauso wie die Unversehrtheit unserer eigenen Zellen durch die elektrischen Felder der Membrane, die sie umgeben, erhalten bleibt.

Die Milchstraße, in der wir leben, eine mittelgroße Spiralgalaxie mit einem Durchmesser von 100.000 Lichtjahren, dreht sich alle 250 Millionen Erdjahre um ihr Zentrum und erzeugt um sich herum ein Magnetfeld von galaktischer Größe. Man hat 500 Lichtjahre lange Plasmafilamente fotografiert, die zusätzliche Magnetfelder erzeugen, die aus unserem galaktischen Zentrum heraus schweifen.

Unsere Sonne, ebenfalls aus Plasma, schickt in stetigem Fluss eine Flut von Elektronen, Protonen und Heliumionen aus, die als Sonnenwind bezeichnet wird. Mit einer Geschwindigkeit von fast 500 Kilometern pro Sekunde streift dieser über die Erde und alle Planeten, ehe er in das Plasma zwischen den Sternen diffundiert.

Der eiserne Kern der Erde dreht sich in den elektrischen Feldern des Sonnensystems und der Galaxie um ihre Achse und erzeugt bei dieser Rotation ihr eigenes Magnetfeld, das die geladenen Teilchen des Sonnenwinds einfängt und ablenkt. Sie umhüllen die Erde mit einer Schicht aus Plasma, die als Magnetosphäre bezeichnet wird. Diese dehnt sich auf der Nachtseite des Planeten zu einem kometenartigen Schweif aus, der Hunderte von Millionen Kilometer lang ist. Einige der Partikel des Sonnenwinds sammeln sich in Schichten, dem sogenannten Van-Allen-Strahlungsgürtel. Dieser ist die Grenze der schützenden Plasmasphäre und in ihm zirkulieren die Sonnenwindpartikel in einer Entfernung von 900 bis 56.000 Kilometern über unseren Köpfen. Sie werden entlang der magnetischen Kraftlinien in Richtung der Pole getrieben, wo die Elektronen in der oberen Atmosphäre mit Sauerstoff- und Stickstoffatomen kollidieren. Diese fluoreszieren und erzeugen so das Nord- und Südlicht, die Aurorae Borealis und Australis, die in den langen Winternächten der hohen Breiten am Himmel tanzen.

Die Sonne bombardiert unseren Planeten auch mit ultraviolettem Licht und Röntgenstrahlen. Sie prallen in 80 bis 400 Kilometer Höhe über uns mit der Luft zusammen, ionisieren sie und setzen die Elektronen frei, die elektrische Ströme in der oberen Atmosphäre transportieren. Diese erdeigene Plasmaschicht wird als Ionosphäre bezeichnet.

Die Erde wird auch mit geladenen Teilchen aus allen Richtungen überschüttet, der sogenannten kosmischen Strahlung. Hierbei handelt es sich um Atomkerne und subatomare Teilchen, die sich nahezu mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Aus dem Erdinneren kommen Strahlungen, die von Uran und anderen radioaktiven Elementen emittiert werden. Die kosmische Strahlung aus dem Weltall und die Strahlungen aus Gestein und Boden liefern die kleinen Ionen, welche die elektrischen Ströme transportieren, die uns in der unteren Atmosphäre umgeben.

Das ist die elektromagnetische Umgebung, in der wir entstanden sind. Der Austausch von Elektrizität zwischen den Schichten erfolgt ständig und hat das Leben auf der Erde überhaupt erst möglich gemacht.

Wir alle leben in einem ziemlich konstanten vertikalen elektrischen Feld von durchschnittlich 130 Volt pro Meter. Bei schönem Wetter ist der Boden unter uns negativ und die Ionosphäre über uns positiv geladen. Die Potenzialdifferenz zwischen Boden und Himmel beträgt etwa 300.000 Volt. Die spektakulärste Erinnerung daran, dass die Elektrizität ständig in uns und um uns ist, ist natürlich der Blitz. Er gleicht außerdem einem Boten, der uns Nachrichten von Sonne und Sternen liefert. Die Elektrizität fließt durch den Himmel weit über uns, entlädt sich explosionsartig in Gewittern nach unten, rast durch den Boden unter uns und fließt dann bei schönem Wetter – getragen von kleinen Ionen – sanft durch die Luft zurück. All das wiederholt sich fortdauernd, und so belebt die Elektrizität die gesamte Erde. Etwa 100 Blitze, von denen jeder eine Billion Watt Energie liefert, treffen die Erde jede Sekunde. Während eines Gewitters kann die elektrische Spannung in der Luft um uns 4.000 Volt pro Meter und mehr erreichen.

Als ich mich vor 25 Jahren zum ersten Mal für den globalen Stromkreis zu interessieren begann, zeichnete ich die folgende Skizze, um ihn besser verstehen zu können.


Die Skizze verdeutlicht, dass lebende Organismen ein Teil des globalen Kreislaufs sind. Jeder von uns erzeugt seine eigenen elektrischen Felder, die uns wie die Atmosphäre vertikal polarisieren, wobei unsere Füße und Hände in Bezug auf die Wirbelsäule und den Kopf negativ sind. Unsere negativ geladenen Füße laufen auf dem negativen Boden, während unsere positiv geladenen Köpfe in den positiven Himmel deuten. Die komplexen Stromkreise, die sanft durch unseren Körper fließen, werden durch Erde und Himmel vervollständigt. Auf diese sehr konkrete Weise sind Erde und Sonne, das Große Yin und das Große Yang – wie im Klassiker des Gelben Kaisers zur Inneren Medizin beschrieben – Energiequellen für das Leben.

Es wird allgemein nicht genügend gewürdigt, dass auch der umgekehrte Fall zutrifft: Das Leben braucht nicht nur die Erde, sondern die Erde braucht auch das Leben. Die Atmosphäre zum Beispiel existiert nur, weil grüne Organismen seit Milliarden von Jahren wachsen: Die gesamte Sauerstoff- und höchstwahrscheinlich auch Stickstofferzeugung erfolgt durch Pflanzen. Dennoch versäumen wir es, unser hochempfindliches Luftkissen wie ein unersetzliches Kleinod zu behandeln, das bei Weitem kostbarer ist als der seltenste Diamant. Für jedes Atom fossiler Energien – wie Kohle und Erdöl – das wir verbrennen, für jedes Kohlendioxid-Molekül, das wir daraus produzieren, zerstören wir permanent ein Sauerstoffmolekül. Das Verbrennen fossiler Brennstoffe, d. h. frühzeitlicher Pflanzen, die einst der Zukunft Leben einhauchten, ist regelrecht zum Ruin der Schöpfung geworden.

Das Leben ist aber auch für die Elektrizität unentbehrlich. Lebende Bäume ragen aus dem negativ geladenen Boden ungefähr 30 Meter in die Luft. Die meisten Regentropfen – außer bei Gewittern – laden die Erde positiv auf. Dabei ziehen die Bäume den Regen förmlich aus den Wolken heraus. Aus diesem Grund trägt das Fällen von Bäumen elektrisch zu einem Niederschlagsverlust in Gebieten bei, in denen früher Wälder standen.

„Was die Menschheit betrifft“, sagte Loren Eiseley, „diese unzähligen kleinen, freistehenden Teiche mit ihrem eigenen schwärmenden Korpuskularleben – was sind sie schon, nur ein stilles Gewässer, ja, nur die Möglichkeit, Wasser außerhalb der Reichweite von Flüssen fließen zu lassen.“1 Die Wüsten werden nicht nur von uns Menschen, sondern vor allem durch den Baumbestand bewässert. Bäume erhöhen die Verdunstung und senken die Temperaturen, und die Lebensströme, die durch ihren Saft fließen, existieren in einem zusammenhängenden Kontinuum mit Himmel und Regen.

Wir sind alle Teil einer Erde, die lebt, denn sie ist ein Element des lebendigen Sonnensystems und des lebendigen Universums. Das Schauspiel der Elektrizität in der Galaxie, die magnetischen Rhythmen der Planeten, der elfjährige Zyklus der Sonnenflecken, die Schwankungen des Sonnenwinds, das Donnern und Blitzen auf der Erde, die biologischen Strömungen in unserem Körper – all dies hängt voneinander ab. Wir sind wie winzige Zellen im Körper des Universums. Ereignisse auf der anderen Seite der Galaxie beeinflussen auch alles Leben hier auf der Erde. Und vielleicht darf man sogar auch sagen, dass jede dramatische Veränderung des Lebens auf der Erde – wenn auch kleine, aber dennoch spürbare – Auswirkungen auf Sonne und Sterne hat.

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