Читать книгу Handbuch Wirtschaftsstrafrecht - Udo Wackernagel, Axel Nordemann, Jurgen Brauer - Страница 181
B. Grundzüge der strafrechtlichen Produkthaftung
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Unabhängig von der Frage des Schadensausgleichs stellt sich häufig die nach einer Strafhaftung für das Inverkehrbringen fehlerhafter Produkte. Mögliche Rechtsfolgen einer solchen Strafhaftung sind nach deutschem Recht[1] vor allem die Geld- und die Freiheitsstrafe (§§ 38 ff. StGB), das Berufsverbot (§ 70 StGB)[2]) und die Einziehung (§§ 73 ff. StGB) von Gegenständen.[3] Praktisch nicht weniger wichtig ist die Möglichkeit, die (endgültige, d.h. die weitere Verfolgung einer Tat als Vergehen ausschließende) Einstellung eines Strafverfahrens davon abhängig zu machen, dass der Beschuldigte bestimmte Leistungen, i.d.R. Geldzahlungen, erbringt (§ 153a StPO).
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Diese Rechtsfolgen können nur natürliche Personen treffen, eine eigene Strafhaftung von Organisationen (und damit auch: von Herstellerunternehmen) kennt das deutsche Strafrecht (noch) nicht.[4] Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied der strafrechtlichen zur zivilrechtlichen Produkthaftung, die in erster Linie den Hersteller, i.d.R. also das Herstellerunternehmen, selbst trifft (nur ausnahmsweise kommt daneben auch eine zivilrechtliche Produkthaftung leitender Angestellter des Herstellers in Betracht).[5] Den Hersteller trifft die strenge zivilrechtliche Produkthaftung freilich auch dann, wenn es sich bei ihm nicht um eine juristische, sondern um eine natürliche Person handelt, etwa den Inhaber eines Kleinbetriebs.[6] Aus der Sicht des Unternehmensmitarbeiters ist also die strafrechtliche Produkthaftung mit einem höheren persönlichen Risiko verbunden als die zivilrechtliche.[7] In materieller Hinsicht wird dieses Risiko aber dadurch verringert, dass häufig ein Unternehmen für die Kosten einer Strafverteidigung[8] bzw. für strafrechtlich begründete Zahlungsverpflichtungen von Unternehmensmitarbeitern aufkommen wird. Soweit es dabei um die Begleichung von Geldstrafen geht, war lange umstritten, ob darin eine Strafvereitelung gem. § 258 Abs. 2 StGB liegt. Der BGH hat diese Frage nunmehr praktisch verbindlich entschieden und angenommen, dass derjenige, der für einen anderen dessen Geldstrafe begleicht, straflos bleibt.[9] Aber selbst in derartigen Fällen bleibt eine Bestrafung für den einzelnen mit der diskriminierenden Wirkung der „öffentlichen Missbilligung“ verbunden, die für die Strafe charakteristisch ist[10], von den handgreiflichen Auswirkungen einer (sei es auch gem. § 56 StGB zur Bewährung ausgesetzten) Freiheitsstrafe ganz zu schweigen.
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Die Voraussetzungen einer strafrechtlichen Produkthaftung sind per saldo anspruchsvoller als die der zivilrechtlichen Produkthaftung, diese geht also weiter als jene. Zwingend ist dieses Verhältnis freilich nicht. So setzt eine Strafhaftung für versuchte Straftaten (etwa wegen versuchter einfacher oder gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223, 224, 22 StGB oder wegen Tötungsversuchs gem. §§ 211, 212, 22 StGB) die, für eine zivilrechtliche Deliktshaftung unerlässliche, Schädigung anderer Personen ebensowenig voraus wie die Strafbarkeit aus Gefährdungsdelikten, die vor allem im Nebenstrafrecht eine große Rolle spielen.[11] Praktisch gewichtiger sind jedoch die unterschiedlichen Anforderungen, die Zivil- und Strafrecht an die Individualisierung und den Nachweis eines pflichtwidrigen und schuldhaften Verhaltens stellen. So ist die zivilrechtliche Produkthaftung gem. § 823 Abs. 1 BGB praktisch, d.h. vorbehaltlich des kaum einmal zu führenden Gegenbeweises dafür, dass ein Verschulden des Herstellers ausgeschlossen ist, mit dem Nachweis begründet, dass etwa ein Personenschaden auf dem Konstruktions- oder Fabrikationsfehler eines Produkts beruht. Für eine Strafhaftung ist demgegenüber zusätzlich der Nachweis erforderlich, dass der Produktfehler auf die individuell zurechenbare Pflichtwidrigkeit einer bestimmten natürlichen Person zurückzuführen ist. Diese Differenz in den Haftungsvoraussetzungen erklärt jedenfalls zum Teil, dass die strafrechtliche hinter der zivilrechtlichen Produkthaftung an praktischer Bedeutsamkeit deutlich zurücksteht. Allerdings lässt sich die unterschiedliche praktische Relevanz von zivilrechtlicher und strafrechtlicher Produkthaftung nicht allein mit den differierenden Haftungsvoraussetzungen des materiellen Rechts sowie dem speziellen Beweisrecht der zivilrechtlichen Produkthaftung erklären.[12]
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Freilich spielen Fälle einer strafrechtlichen Produkthaftung auch in der Praxis der deutschen Strafgerichtsbarkeit durchaus eine Rolle,[13] ebenso wie in der Strafrechtspraxis anderer Industrieländer.[14] Das gilt zum einen für die Judikatur zum Nebenstrafrecht, etwa zum LFGB oder AMG.[15] Zum anderen wird eine strafrechtliche Produkthaftung auch nach Normen aus dem Kernbereich des Strafrechts von der Rechtsprechung bereits seit längerem praktiziert.[16]
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So gab es in den fünfziger Jahren mehrere Verurteilungen von Herstellern unsicherer Elektrostecker wegen fahrlässiger Tötung der beim Gebrauch dieser Produkte ums Leben gekommenen Verwender.[17] Das Contergan-Verfahren wurde 1971 vom Landgericht Aachen eingestellt, das die Voraussetzungen von § 153 StPO (geringe Schuld und fehlendes öffentliches Interesse an Strafverfolgung) bejahte, nachdem sich Herstellerfirma und Staat[18] zur Zahlung von Entschädigungen in Millionenhöhe verpflichtet hatten.[19] Im Jahr 1979 verurteilte das LG München II den Angestellten einer Firma, deren fehlerhaft hergestellte Stahlgürtelreifen zu tödlichen Unfällen geführt hatten.[20] Ebenfalls um gefährliche Autoreifen ging es in einem Verfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen einen Kfz-Zubehör-Händler, in dem 1980 das OLG Karlsruhe entschied.[21] Im Jahr 2006 verurteilte das AG Limburg zwei Konstrukteure eines Kreiselmähers wegen fahrlässiger Tötung zu Geldstrafen. Der Kreiselmäher hatte sich wegen einer fehlenden Sicherung von der Zugmaschine gelöst und zwei Kinder getötet.[22]
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Auch der Vertrieb gesundheitsgefährdender Lebensmittel hat zur Anwendung von Tatbeständen des StGB geführt. So bestätigte 1994 das OLG Stuttgart die Verurteilung des Herstellers von mit Salmonellen verseuchtem Speiseeis u.a. wegen fahrlässiger Körperverletzung von Konsumenten.[23] Im Jahr 1987 verurteilte das LG Mainz wegen vorsätzlicher Körperverletzung zwei Geschäftsführer einer Lebensmittelgroßhandelsfirma, die verdorbenen Mandelbienenstich (Tiefkühlware) an eine Klinik geliefert hatte, dessen Verzehr bei einer ganzen Reihe von Patienten zu teilweise erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigungen führte. Der BGH bestätigte 1988 diese Verurteilung[24] in einer Entscheidung, die trotz ihrer sachlichen Bedeutsamkeit nur vergleichsweise geringe Resonanz fand.[25] Im Jahr 2007 verurteilte das LG Essen einen Fleischermeister wegen des Inverkehrbringens von „Gammelfleisch“ nach lebensmittelstrafrechtlichen Tatbeständen und wegen versuchten gewerbsmäßigen Betrugs.[26]
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Die wichtigste Entscheidung zur strafrechtlichen Produkthaftung, das Lederspray-Urteil des BGH[27], hatte gleichfalls Revisionen gegen ein Urteil des LG Mainz zum Gegenstand. Es ging dabei um die teilweise erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigungen von Verwendern bestimmter Lederpflegemittel. Diese Mittel waren, auch nachdem sich Indizien für ihre Gefährlichkeit mehrten, weiter vertrieben bzw. nicht vom Markt genommen worden. Darauf stützte das LG Mainz die Verurteilung leitender Mitarbeiter der Herstellerunternehmen wegen fahrlässiger und vorsätzlicher Körperverletzung zu Geld- und Freiheitsstrafen. Der BGH bestätigte diese Verurteilungen im Wesentlichen und nahm das zum Anlass, in einer Leitentscheidung zentrale Fragen der strafrechtlichen Produkthaftung zu beantworten.
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Große öffentliche Beachtung hat das Holzschutzmittelverfahren gefunden.[28] In diesem Verfahren ermittelte seit 1985 die Staatsanwaltschaft beim LG Frankfurt/M. mit großem Zeit- und Kostenaufwand gegen Angestellte von Holzschutzmittelherstellern wegen des Verdachts, dass die bestimmungsgemäße Verwendung solcher Mittel zum Innenanstrich in Wohnräumen bei deren Bewohnern zu schweren Gesundheitsschäden geführt hatte. Auf die Anklageerhebung hin lehnte das LG Frankfurt/M. mit Beschluss vom 27.7.1990 die Eröffnung des Hauptverfahrens ab.[29] Nachdem das OLG Frankfurt/M. auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft das Hauptverfahren eröffnet hatte (Beschluss vom 19.12.1991 [1 Ws 206/90]), verurteilte das LG Frankfurt/M. die Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung zu Freiheitsstrafen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.[30] Der hiergegen gerichteten Revision der Angeklagten gab der BGH mit Urteil vom 2.8.1995 statt.[31] Nach der Zurückverweisung an das LG Frankfurt/M. geführte „Vergleichsverhandlungen“ (vgl. dazu Handelsblatt, 29.10.1996, S. 13; FAZ, 7.11.1996, S. 17) führten schließlich zu einer Verfahrenseinstellung gem. § 153a StPO, die insbesondere mit der außergewöhnlichen langen Prozessdauer begründet wurde.[32]
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Im Hobby-Chemiekasten-Fall legte die Anklage den Angeschuldigten zur Last, für den Tod eines kleinen Mädchens verantwortlich zu sein, das nach dem Verzehr von Nickelsulfat-Kristallen starb, die sein 11-jähriger Bruder mit Hilfe eines von der Firma der Angeschuldigten vertriebenen Chemiekastens hergestellt hatte. Das OLG Stuttgart lehnte 1988 die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, weil das Inverkehrbringen des produzierten Chemiekastens, mit Hinweis auf die Toxizität des Nickelsulfats, nicht gegen Pflichten des Herstellers verstoßen habe.[33] Erhebliche öffentliche Resonanz haben die Ermittlungsverfahren gegen Verantwortliche der Degussa AG wegen des Vertriebs von zahntechnischen Amalgamprodukten (unten Rn. 36) sowie gegen Mitarbeiter der Bayer AG im Lipobay-Fall[34] gefunden. Auch das Zugunglück von Eschede, bei dem im Juni 1998 101 Menschen ums Leben kamen und 105 Fahrgäste teilweise schwere Verletzungen erlitten, führte zu einer Anklage (gegen Mitarbeiter der Deutschen Bahn AG und des Herstellers), da es nach Auffassung der Staatsanwaltschaft auf einer fehlerhaften Radkonstruktion des entgleisten ICE beruhte. Das Verfahren endete (im Jahr 2003) mit einer Einstellung gemäß § 153a Abs. 2 StPO.[35] Ebenfalls eingestellt wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Nitrofen-Skandals aus dem Jahr 2002.[36] Im Humana-Fall wurden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bielefeld dadurch ausgelöst, dass im Jahr 2003 in Israel mehrere Kleinkinder starben, weitere zum Teil schwer erkrankten, weil sie von der dortigen Firma Remedia vertriebene Babynahrung zu sich genommen hatten. Ursächlich dafür war, dass das in dieser Nahrung enthaltene Sojamilchpulver einen zu geringen Anteil des für Kleinkinder lebenswichtigen Vitamin B1 enthielt. Dieses Milchpulver hatte 2003 die deutsche Firma Humana geliefert, in deren Abteilung Produktentwicklung es „zu einem folgenschweren Fehler durch den Verzicht auf Vitamin B1 in der zugesetzten Vitaminmischung“ gekommen war.[37] Obwohl nach den Ermittlungen der dringende Verdacht bestand, dass sich vier leitende Mitarbeiter von Humana wegen fahrlässiger Tötung bzw. Körperverletzung strafbar gemacht hatten, erfolgte im Jahr 2008 eine Verfahrenseinstellung gem. § 153a StPO, nachdem die Beschuldigten Geldauflagen zwischen 6.000 und 20.000 € erfüllt hatten.[38] In Israel wurde demgegenüber ein Mitarbeiter von Remedia wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.[39]
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Zu strafrechtlichen Verurteilungen kam es wegen der Verabreichung von infektiösen Blutkonserven bzw. verunreinigtem Blutplasma. So verurteilte das LG Göttingen einen Arzt, der im Auftrag eines Blutplasma-Vertreibers Blutproben auf Viren untersuchen sollte, wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) zu einer langjährigen Freiheitsstrafe. Er hatte zahlreiche Blutspenden überhaupt nicht untersucht und als unbedenklich freigegeben. Eine Patientin, der HIV-infiziertes Blutplasma verabreicht wurde, verstarb daraufhin an AIDS.[40] Das LG Kassel verurteilte die angeklagten Mediziner und Geschäftsführer eines Bluthandelsunternehmens wegen fahrlässiger Körperverletzung. Nachdem bei einem Blutspender eine Ansteckung mit dem Hepatitis-C-Virus festgestellt worden war, hatten die Angeklagten zu Kontrollzwecken eingelagerte Blutproben nicht nachuntersucht und Kliniken, an die Blutplasma des Spenders geliefert worden war, nicht von dessen Infektion informiert. Infolgedessen wurden vier Patienten mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert.[41] In einem Verfahren vor dem LG Koblenz, über das verbreitet berichtet wurde (vgl. SPIEGEL 36/1994, S. 81), ergingen hohe Haftstrafen wegen Straftaten nach § 95 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 AMG (fahrlässiges Inverkehrbringen bedenklicher Arzneimittel). Die Angeklagten hatten bei der Untersuchung von Blutproben auf Viruserkrankungen eine sog. Pooltestung vorgenommen, d.h. mehrere Proben zusammengeschüttet und anschließend getestet. Dadurch versagte der Test auf HIV, so dass HIV-infiziertes Blutplasma an Kliniken ausgeliefert und dort Patienten verabreicht wurde. Eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung unterblieb aus Beweisgründen.[42]
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Schließlich sprach der BGH die stellvertretende Leiterin eines Universitätsinstituts für Blutgerinnungswesen und Transfusionsmedizin vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei (während die Verurteilung des Institutsleiters wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung, so weit ersichtlich, rechtskräftig wurde). Durch unsachgemäßen Umgang mit Blutkonserven waren diese so verunreinigt worden, dass fünf Empfänger tödliche Blutvergiftungen erlitten. Der Angeklagten war zum Vorwurf gemacht worden, dass sie es unterlassen hatte, Untersuchungen der Konserven nach den ersten Transfusionszwischenfällen durchzuführen und übergeordnete Stellen zu informieren. Der BGH verneinte eine Garantenstellung der Angeklagten und bezweifelte die Kausalität ihres Unterlassens für die eingetretenen Todesfolgen.[43] Strafverfahren wegen HIV-Infektionen durch unzureichend getestetes oder nicht hitzebehandeltes Blutplasma und dessen Weiterverarbeitung, etwa zu sog. Faktor-VIII-Blutpräparaten, gab es u.a. auch in Frankreich (Strafverfahren gegen drei ehemalige Minister nach dem „Aidsskandal“[44]), der Schweiz (siehe NZZ vom 30.3.2000, S. 15) und Japan.[45]
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Zusammenfassend lässt sich mit Blick auf die skizzierte Rechtsprechung sagen, dass in der Praxis die strafrechtliche Produkthaftung mittlerweile etabliert ist. Darüber hinaus hat vor allem das Lederspray-Urteil zu einer Fülle von Stellungnahmen der Literatur geführt und der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion über die Produkthaftung großen Auftrieb gegeben. Zu einem Konsens hat diese Diskussion erwartungsgemäß nicht geführt. Das gilt neben einer Reihe einzelner Probleme auch für die Grundfrage, ob überhaupt die Herausbildung der „modernen“ strafrechtlichen Produkthaftung gerechtfertigt ist oder nicht.[46] Diese Frage wird weiterhin aktuell bleiben. Die zunehmende Automatisierung dürfte ihre praktische Dringlichkeit noch verstärken. So tritt bei Verkehrsunfällen, in die mehr oder weniger autonom fahrende Autos verwickelt sind, die Frage nach der Verantwortlichkeit des Fahrers hinter die nach der Haftung des Automobil- oder Softwareherstellers zurück.[47] Entsprechendes gilt, wenn demnächst Roboter eingesetzt werden, um „ein komplettes Dinner zu veranstalten – vom Einkauf über die Zubereitung bis zur passenden Weinauswahl“.[48]