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V. Pflichtwidriges Verhalten

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Nur ein grundsätzlich (d.h. unbeschadet einer ausnahmsweise gegebenen Rechtfertigung) rechtlich missbilligtes, damit pflichtwidriges, Verhalten ist tatbestandsmäßig. Ob ein Verhalten rechtlich missbilligt ist, hängt vor allem davon ab, ob (ex ante betrachtet) mit ihm ein Risiko der Verletzung geschützter Rechtsgüter verbunden ist, das das schützenswerte Interesse an der Vornahme der Handlung überwiegt. Im Rahmen dieser pflichtenkonstitutiven Interessenabwägung misst die Rechtsprechung zu Recht dem Schutz der Verbraucher vor Gesundheitsschädigungen hohe Bedeutsamkeit bei und stellt entsprechend strenge Anforderungen an die Hersteller.[20]

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Freilich lassen sich Gefährdungen von Produktverwendern nicht völlig ausschließen. Eine realistische Pflichtenbestimmung bedarf daher entsprechender Einschränkungen der den Hersteller treffenden Sorgfaltsanforderungen. Das gilt auch für die zeitliche Begrenzung der Herstellerpflichten, deren Problematik erst in jüngerer Zeit erkannt wurde.[21] Die wichtigsten Anknüpfungspunkte, die die Lehre vom objektiv sorgfaltswidrigen Verhalten für solche Einschränkungen bietet, sind die Orientierung der Pflichtenbestimmung am Maßstab eines besonnenen und gewissenhaften Verkehrsteilnehmers[22], an einschlägigen Sondernormen[23] wie insbesondere dem ProdSG, am Vertrauensgrundsatz, wonach sich grundsätzlich jeder auf pflichtgemäßes und besonnenes Verhalten der anderen einstellen darf,[24] und am Verantwortungsprinzip, nach dem man nicht für die selbstverantwortliche Eigengefährdung anderer einzustehen hat.[25] Das bietet wichtige Leitlinien für die Bestimmung der strafrechtlich relevanten Herstellerpflichten, lässt aber noch erhebliche Konkretisierungsspielräume offen.

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Praktisch bedeutsam ist deshalb die Frage, ob sich die strafrechtliche Pflichtenbestimmung an der umfangreichen Judikatur zur zivilrechtlichen Produkthaftung orientieren kann, die in einer langjährigen Praxis eine sehr weitgehende Konkretisierung der Herstellerpflichten bereits geleistet hat.[26] Diese Frage ist jedenfalls nicht uneingeschränkt zu bejahen.

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Zwar spricht „in der Tat … manches dafür, dass dieselben Pflichten, die für die zivilrechtliche Produkthaftung maßgebend sind, auch die Grundlage strafrechtlicher Verantwortlichkeit bilden“.[27] Unbestritten ist denn auch, dass die im Zivilrecht entwickelte, mittlerweile auch im ProdSG verankerte,[28] Unterscheidung zwischen Konstruktions-, Produktions-, Instruktions- und Produktbeobachtungspflichten des Herstellers auch strafrechtlich bedeutsam ist.[29] Weiterhin steht außer Streit, dass die strafrechtliche Pflichtenbestimmung jedenfalls nicht strenger sein darf als die der zivilrechtlichen Judikatur zu § 823 Abs. 1 BGB, die durch sehr weitgehende Anforderungen an die Hersteller charakterisiert ist. Schon aus diesem Grund ist die Judikatur zur zivilrechtlichen Produkthaftung auch strafrechtlich bedeutsam: Verneinen nämlich die Zivilgerichte eine Pflichtverletzung des Herstellers, so bildet das ein auch strafrechtlich beachtliches Präjudiz.[30]

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Andererseits dürfen die in der zivilrechtlichen Praxis anerkannten Herstellerpflichten jedoch „nicht unbesehen zur Bestimmung strafrechtlicher Verantwortlichkeit benutzt werden“.[31] Trotz mancher teleologischer Gemeinsamkeiten von zivil- und strafrechtlicher Produkthaftung gibt es materiale Gesichtspunkte, die für eine strenge Bestimmung der den Hersteller treffenden zivilrechtlichen Pflichten sprechen (soweit die Herstellerhaftung, wie bei § 823 Abs. 1 BGB, überhaupt eine Pflichtverletzung voraussetzt), auf das Strafrecht aber nicht übertragbar sind. So wird als (strafrechtlich ersichtlich unbeachtliches) Argument für eine weitgehende zivilrechtliche Herstellerhaftung angeführt, dass die Produzenten i.d.R. zur Schadenstragung wirtschaftlich fähig sind, sich gegen erhöhte Haftungsrisiken versichern und die damit verbundenen Kosten über die Preise auf die Verbraucher abwälzen können. Es erscheint daher durchaus sachlich begründet, dass die Judikatur die zivilrechtliche Produkthaftung (schon vor Einführung des PHG) in Richtung auf eine Gefährdungshaftung fortentwickelt hat.[32] Das hat zu Anforderungen an das Herstellerverhalten geführt, die aus strafrechtlicher Sicht zum Teil überspannt sind.[33] Soweit die zivilrechtliche Judikatur Handlungen des Herstellers als pflichtwidrig qualifiziert, bedarf diese Beurteilung im Rahmen der strafrechtlichen Produkthaftung daher einer gesonderten Überprüfung nach den allgemeinen Kriterien der strafrechtlichen Pflichtenbestimmung. Zivilrechtliche Entscheidungen zur Produkthaftung bilden insofern keine Präjudizien für das Strafrecht.[34]

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Dass ein Hersteller Pflichten verletzt hat, genügt dem strafrechtlichen Erfordernis der Pflichtwidrigkeit nur dort, wo er eine natürliche Person ist. Ist das nicht der Fall, schließt sich die Frage an, ob bestimmte Mitarbeiter des Herstellerunternehmens ihrerseits pflichtwidrig handelten.[35] Das setzt voraus, dass sie Pflichten verletzten, die gerade zu ihrem Verantwortungsbereich im Unternehmen gehörten.[36] Die strafrechtliche Pflichtenbestimmung folgt also der wirklichen arbeitsteiligen Organisation.[37] Jeder darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass außerhalb seines Geschäftsbereichs liegende Entscheidungen von den dafür zuständigen Personen rechtlich fehlerfrei getroffen werden, sofern er nicht seinerseits für die Auswahl oder Kontrolle dieser Personen zuständig ist und die daraus folgenden Auswahl- oder Kontrollpflichten verletzt hat. Dieser Grundsatz erleidet eine Ausnahme, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Vertrauen auf ein fehlerfreies Verhalten anderer nicht gerechtfertigt wäre. Diese Ausnahme spielt, ebenso wie der Vertrauensgrundsatz selbst, nicht nur unternehmensintern, sondern auch im Verhältnis des Herstellers zu Dritten, vor allem: Produktverwendern, eine wichtige Rolle.[38]

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Die konkretisierende Präzisierung dieser Grundsätze hängt entscheidend von der jeweiligen Unternehmensorganisation ab. Ihre Darstellung übersteigt schon wegen der Vielfalt der organisatorischen Möglichkeiten die Grenzen dieses Beitrages. Auch handelt es sich bei der internen Verantwortungsdifferenzierung im Rahmen von Unternehmen (allgemeiner: von Organisationen) nicht um eine spezifische Frage der strafrechtlichen Produkthaftung, sondern um eine allgemeine Problematik der Strafhaftung einzelner für ihr organisationsbezogenes Handeln, die etwa auch im Umweltstrafrecht auftritt.[39] Die Grundsätze der Pflichtenbestimmung bei unternehmensbezogenem Verhalten einzelner Unternehmensmitarbeiter lassen sich an der Lederspray-Entscheidung des BGH exemplarisch verdeutlichen. Die sehr differenzierte Begründung dieser Entscheidung betrifft zunächst das pflichtwidrige Verhalten der Hersteller-GmbH, sodann das einzelner Mitarbeiter des Herstellers (wobei sich die nachfolgende Darstellung auf die Geschäftsführer der GmbH beschränkt).

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Zunächst stellte sich die Frage, ob und seit wann der Hersteller pflichtwidrig handelte. Da die betreffenden Ledersprays jahrelang unbeanstandet vertrieben worden waren, erfolgte ihre Auslieferung anfangs pflichtgemäß.[40] Das änderte sich erst, als innerhalb kurzer Zeit mehrere Meldungen über zum Teil schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen von Produktverwendern an den Hersteller gelangten. Obwohl die Schadensursächlichkeit der Sprays zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststand, lösten diese Meldungen die Pflicht des Herstellers aus, geeignete Maßnahmen zur Abwendung künftiger Schäden zu treffen. Die Voraussetzungen dieser Pflicht lassen sich folgendermaßen formulieren: Häufen sich Meldungen über gravierende Gesundheitsschädigungen, die unmittelbar nach bestimmungsgemäßer Verwendung von Produkten auftreten, und ist keine andere Erklärung für diese Schädigungen ersichtlich als der Kontakt der Geschädigten mit den Produkten, so ist der Hersteller verpflichtet, zur Abwendung weiterer Gefahren zweckentsprechend tätig zu werden, und das hieß im Lederspray-Fall, „dafür zu sorgen, dass Verbraucher der … Ledersprays vor Gesundheitsschäden bewahrt blieben, die ihnen bei bestimmungsgemäßer Benutzung dieser Artikel infolge deren Beschaffenheit zu entstehen drohten“.[41] Gegen diese Pflicht verstieß der Hersteller zum einen durch ein aktives Tun, nämlich dadurch, dass er weiterhin Ledersprays in den Verkehr brachte, zum anderen dadurch, dass er es unterließ, durch geeignete Maßnahmen, insbesondere einen Rückruf, dafür zu sorgen, dass bereits ausgelieferte Produkte nach Möglichkeit keine weiteren Gesundheitsverletzungen hervorriefen.

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Die dargestellte Bestimmung der Herstellerpflichten durch das Lederspray-Urteil ist umstritten.[42] Zutreffend ist sicherlich ihr Ausgangspunkt, dass den Hersteller eine Pflicht zur Schadensabwendung nicht erst trifft, wenn die Gefährlichkeit des Produkts feststeht, sondern schon dann, wenn ein (dem Hersteller erkennbarer) ernstzunehmender Gefahrverdacht existiert.[43] Fraglich ist jedoch, wann ein Gefahrverdacht ernst zu nehmen ist.[44] Dass irgendjemand die Gefährlichkeit eines Produkts behauptet, kann dazu ersichtlich nicht genügen, denn in diesem schwachen Sinn steht eine Vielzahl von Produkten, vom Nordseefisch über sämtliche Elektrogeräte bis hin zu Amalgam-Plomben „unter Verdacht“.[45] Auch die Regel, dass der Produkthersteller künftig spätestens nach dem zweiten Schadensfall einen Rückruf (oder andere geeignete Maßnahmen zur Schadensverhinderung) einleiten muss[46], wäre sicherlich zu pauschal und praktisch unhaltbar.[47] Allgemeine Kriterien dafür, wann ein Verdacht auf Produktgefährlichkeit ernst zu nehmen ist, dürften sich kaum ermitteln lassen.[48] Eine fallgruppenbezogene weitere Präzisierung ist demgegenüber durchaus möglich. So kam es im Lederspray-Fall (dem Hersteller durch von einander unabhängige Schadensmeldungen erkennbar) binnen weniger Monate zu einer ganzen Reihe von erheblichen und einander ähnlichen Gesundheitsbeeinträchtigungen in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Produktverwendung, für die es keine plausible Erklärungsalternative gab. Wenn die Rechtsprechung in derartigen Fällen einen ernstzunehmenden Gefahrverdacht bejaht, verdient das m.E. durchaus Zustimmung. Es bildet aber kein Präjudiz für andere Fallgruppen. Das gilt insbesondere für Fälle, in denen der wissenschaftlich noch ungeklärte Verdacht besteht, dass in hoher Dosierung schädliche Substanzen bei niedrig dosierter, aber länger andauernder Exposition zu Gesundheitsschäden führen (Holzschutzmittel, Amalgam, Elektrosmog u.Ä.). Der hier fehlende enge zeitliche Zusammenhang zwischen Produktverwendung und Gesundheitsbeeinträchtigung bringt eine Vielzahl von Erklärungsalternativen ins Spiel. Der indizielle Wert von „Schadensmeldungen“ wird dadurch so verringert, dass sie allein keinen ernstzunehmenden Gefahrverdacht begründen können.[49]

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Wo unsicher ist, ob gegenüber einem bestimmten Produkt bereits ein ernstzunehmender Gefahrverdacht besteht, stellt sich häufig die Frage, ob der Hersteller auf entsprechende Beurteilungen des Produkts durch die zuständigen staatlichen Behörden vertrauen darf. Solche Beurteilungen könnten etwa mit der behördlichen Zulassung verbunden sein, die für Kraftfahrzeuge oder Arzneimittel erforderlich ist.[50] Zu Recht geht man jedoch davon aus, dass es grundsätzlich Aufgabe des Herstellers ist, für die Unbedenklichkeit seiner Produkte zu sorgen, „unabhängig davon, was die zuständigen Behörden für geboten erachten“.[51] Vielfach ergibt sich dies schon daraus, dass behördliche Entscheidungen, wie etwa die Patentierung eines Produkts, gar nicht das behördliche Urteil ausdrücken, das Produkt sei unbedenklich.[52] Darüber hinaus legen behördliche Entscheidungen vielfach nur einen Mindeststandard der Produktsicherheit fest, dessen Unterschreitung jedenfalls unzulässig ist. Und schließlich kommt eine Entlastung des Herstellers durch behördliche Einschätzungen jedenfalls dort nicht in Betracht, wo er die Produktgefährlichkeit besser beurteilen kann als die Behörde.[53] Auch die behördliche Zulassung eines Produkts kann jedoch dazu führen, dass der Hersteller von dessen Unbedenklichkeit ausgehen und deshalb das Produkt vertreiben darf. Das zeigt etwa der „Fall Degussa“, in dem die Staatsanwaltschaft Frankfurt/M. gegen Vorstandsmitglieder der Degussa AG, eines Amalgamherstellers, wegen Körperverletzung ermittelte, was letztlich zu einer Verfahrenseinstellung unter der Auflage führte, dass die AG eine Stiftung zur weiteren Untersuchung der Gesundheitsschädlichkeit von Zahnfüllungen aus Amalgam finanzierte.[54] Der Vertrieb der Amalgamprodukte war hier nicht nur nach international konsolidiertem, wenn auch nicht unstrittigem, Urteil der Fachwissenschaftler unbedenklich, sondern auch durch eine Entscheidung der zuständigen Behörde gedeckt, die auf Grund einer materiellen Prüfung der Unbedenklichkeit den Vertrieb von zahnmedizinischen Amalgamprodukten gemäß §§ 21, 2 Abs. 1 Nr. 5, 25 AMG zuließ. Von einer solchen behördlichen Zulassung des Produktvertriebs muss der Hersteller jedenfalls im Grundsatz ausgehen dürfen, er handelt damit grundsätzlich nicht pflichtwidrig, wenn er sich im Rahmen einer solchen Zulassung hält.[55]

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Das pflichtwidrige Unterlassen schadensverhütender Maßnahmen kann eine Strafbarkeit von Mitarbeitern der Hersteller-GmbH nur begründen, wenn es sich bei der verletzten Pflicht um eine Garantenpflicht handelt. Der BGH nimmt das an[56], denn „wer gesundheitsgefährdende Bedarfsartikel in den Verkehr bringt“ sei als Garant „zur Schadensabwendung verpflichtet“.[57] Das Gericht gründet diese Garantenstellung darauf, dass die Herstellerfirma „die schadensursächlichen Artikel in den Verkehr gebracht“ habe[58], und damit auf den Gedanken der Ingerenz.[59] Das ist deshalb problematisch, weil nach h.L. nicht jedes gefahrschaffende, sondern nur ein pflichtwidriges Vorverhalten eine Garantenstellung des Ingerenten begründet.[60] Das Inverkehrbringen der Ledersprays war aber, soweit es vor den Schadensmeldungen erfolgte, nicht pflichtwidrig.[61]

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Trotzdem ist der Auffassung des BGH im Ergebnis, d.h. in der Annahme einer Garantenstellung, zu folgen.[62] Dogmatisch wird sie meist auf den Gedanken der Ingerenz[63], der Überwachung[64]oder darauf gestützt, dass der Hersteller mit dem Inverkehrbringen der gefährlichen Produkte eine Gefahrenquelle geschaffen hat, für deren Beherrschung er zuständig ist.[65] Tatsächlich ergibt sie sich jedoch aus dem Zusammentreffen verschiedener Zurechnungsgründe. Insbesondere hat der Hersteller das Produkt in den Verkehr gebracht und so ein gewisses Vertrauen auf dessen Sicherheit geschaffen, so dass es fair ist, ihm eine besondere Verantwortung für die Produktsicherheit aufzuerlegen. Dies ist auch unter dem Aspekt eines effektiven Rechtsgüterschutzes geboten, da der Hersteller aus vielen Gründen am ehesten in der Lage ist, wirksame Vorkehrungen gegen vom Produkt ausgehende Gefahren zu treffen.[66] Aus dieser Begründung folgt, dass die von Schünemann vorgeschlagene Beschränkung einer Garantenstellung auf Hersteller von Markenprodukten[67] keine Zustimmung verdient.[68] Denn die genannten Sachgründe treffen auch auf Hersteller anderer Produkte zu (allenfalls mag bei ihnen der Vertrauensaspekt weniger ausgeprägt sein).

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Das führt zu der weiteren Frage, welche konkreten Verpflichtungen des Herstellers aus seiner Garantenstellung folgen. Insofern besteht eine Reihe von Möglichkeiten der Abwendung oder doch Minderung von Produktgefahren. Hinsichtlich noch nicht ausgelieferter Waren mag ein Vertriebsstopp erforderlich sein oder der Weitervertrieb mit verbesserten Warnhinweisen genügen. Bezüglich bereits in den Verkehr gebrachter Produkte kommen Warnungen einzelner Verbraucher bzw. der Allgemeinheit, Meldungen an die zuständige Behörde[69] oder auch ein Rückruf[70] in Betracht, d.h. darüber hinausgehende Beseitigungsmaßnahmen wie Reparatur, Austausch oder Rücknahme des Produkts.[71]

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In der Praxis spielen Produktrückrufe wie etwa die (für den Produktverwender) kostenlose Behebung von Sicherheitsmängeln an Kraftfahrzeugen eine große Rolle.[72] Nach h.M.[73] erfolgen sie nicht nur aus Kulanz, sondern entsprechen vielfach einer Rechtspflicht. In der Literatur wird demgegenüber eine Verpflichtung des Herstellers zum Rückruf ausgelieferter Produkte teilweise generell abgelehnt.[74] Zudem ist umstritten, ob sich der Judikatur der Straf- und Zivilgerichte eine Pflicht des Herstellers gefährlicher Produkte zu Rückrufmaßnahmen wie der (für den Verwender) kostenlosen Reparatur oder Nachrüstung entnehmen lässt[75]. Das wird zwar überwiegend angenommen, die Unsicherheit in dieser Frage wurde jedoch durch neuere zivilgerichtliche Entscheidungen verstärkt, die eine Pflicht des Herstellers gefährlicher Produkte zu deren Rückruf auf Herstellerkosten ausdrücklich verneinten.[76]

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In dieser Situation brachte die vielbeachtete Pflegebetten-Entscheidung des BGH eine erhebliche Klärung.[77] Der beklagte Hersteller hatte elektrisch verstellbare Pflegebetten produziert, die konstruktionsbedingt[78] erhebliche Sicherheitsmängel aufwiesen, insbesondere in Brand geraten und Benutzer einklemmen konnten. Die Klägerin, eine gesetzliche Pflegekasse, hatte seit 1995 derartige Betten von Sanitätshäusern gekauft und bei ihr versicherten Pflegebedürftigen für die ambulante häusliche Pflege zur Verfügung gestellt. Im Jahr 2001 wiesen die zuständigen Behörden auf die Sicherheitsmängel hin. Der Hersteller entwickelte daraufhin einen Nachrüstsatz, dessen Einbau pro Bett 350-400 DM kostete, und bot an, die betreffenden Pflegebetten nachzurüsten.[79] Fraglich war, ob er, wie die Klägerin geltend machte, zur Nachrüstung der Betten auf eigene Kosten verpflichtet war. Letzteres lehnt der BGH, in Einklang mit den Vorinstanzen, ab. Zwar sei der Hersteller verpflichtet, auch nach dem Inverkehrbringen des Produkts alles Zumutbare zu tun, um von dem Produkt ausgehende Gefahren abzuwenden, insbesondere durch Warnung vor etwaigen Produktgefahren (Rn. 11). Seine Sicherungspflichten nach Inverkehrbringen des Produkts seien auch „nicht notwendig auf die Warnung vor etwaigen Gefahren beschränkt“ (Rn. 11). Weiter reichen könnten sie etwa dann, wenn davon auszugehen ist, dass die bloße Warnung „den Benutzern des Produkts nicht ausreichend ermöglicht, die Gefahren einzuschätzen und ihr Verhalten darauf einzurichten“ (Rn. 11), ferner dann, wenn Grund zu der Annahme besteht, die Benutzer „würden sich – auch bewusst – über die Warnung hinwegsetzen und dadurch Dritte gefährden“ (Rn. 11)[80]. In solchen Fällen könne der Hersteller deliktsrechtlich verpflichtet sein, dafür zu sorgen, dass bereits ausgelieferte gefährliche Produkte „möglichst effektiv aus dem Verkehr gezogen … oder nicht mehr benutzt werden“ (Rn. 11). Eine weitergehende Pflicht des Herstellers, „das Sicherheitsrisiko durch Nachrüstung oder Reparatur auf seine Kosten zu beseitigen“, setze jedenfalls voraus, „dass eine solche Maßnahme im konkreten Fall erforderlich ist, um Produktgefahren, die durch § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsgütern der Benutzer oder unbeteiligter Dritter drohen, effektiv abzuwehren“ (Rn. 12). Das sei „unter den besonderen Umständen des Streitfalls“ nicht erforderlich gewesen, da die Klägerin ihrerseits „umfassend über die bestehenden Gefahren und über die Möglichkeiten ihrer Beseitigung informiert“, zu dieser Beseitigung auch verpflichtet war und zudem nicht besorgen ließ, sie würde ihren Verpflichtungen „nicht uneingeschränkt nachkommen“ (Rn. 16). Damit scheide eine Nachrüstungspflicht des Herstellers aus, da er deliktsrechtlich nur verpflichtet sei, „die von dem fehlerhaften Produkt ausgehenden Gefahren für die in § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechtsgüter so effektiv wie möglich und zumutbar“ auszuschalten (also zum Schutz des Integritätsinteresses), nicht aber dazu, „dem Erwerber oder Nutzer ein fehlerfreies, in jeder Hinsicht gebrauchstaugliches Produkt zur Verfügung zu stellen“ (also nicht zum Schutz des Äquivalenzinteresses; Rn. 19).

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Das Pflegebetten-Urteil wird als „herber Dämpfer“ für die „Anhänger deliktischer Rückrufpflichten“ eingestuft.[81] Es bildet jedoch keine „Kehrtwende“, sondern lediglich eine restriktive Präzisierung der Judikatur zu den Rückrufpflichten des Herstellers.[82] Der BGH stellt ausdrücklich klar, dass die deliktsrechtlichen Pflichten des Herstellers über eine bloße Warnung vor den Gefahren ausgelieferter Produkte hinausgehen können. Zu Recht betont er allerdings, dass diese Pflichten nicht dem Äquivalenzinteresse, sondern nur dem Integritätsinteresse dienen[83] und auf das zu dessen Schutz Erforderliche begrenzt sind. Im Pflegebettenfall war mehr als das vom Hersteller Geleistete, also die Warnung und die Entwicklung eines Nachrüstsatzes, nicht erforderlich, da die Pflegekasse ihrerseits verpflichtet war, die erforderlichen Gefahrabwendungsmaßnahmen durchzuführen, und auch davon ausgegangen werden konnte, dass sie dies tatsächlich tun würde. So wird es auch sonst häufig sein, wenn sich die ausgelieferten Produkte bei fachkundigen professionellen Abnehmern befinden.[84] Dem Pflegebetten-Urteil lässt sich dagegen, ebenso wie der vorangehenden neueren Rechtsprechung der Zivilgerichte, nicht entnehmen, „wie bei einer konkreten Gefahr für Leib und Leben von Endverbrauchern als Nutzer oder für den ‚innocent bystander‚ entschieden wird, der als Dritter die Ware nicht selbst gebraucht, sondern zufällig mit ihr in Berührung kommt, etwa als Passant, der wegen versagender Bremsen eines Autos verletzt wird“.[85] Für derartige Fälle[86] ist mit der schon bisher h.M. davon auszugehen, dass der Hersteller bereits ausgelieferter fehlerhafter Produkte nicht nur zu Warnungen, sondern auch zu darüber hinausgehenden Rückrufmaßnahmen verpflichtet ist, soweit nur diese den vom Produkt ausgehenden Gefahren für Leib und Leben der Verwender oder Dritter effektiv begegnen.[87]

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Welche Maßnahmen der Hersteller zur Gefahrabwendung ergreifen muss, hängt also auch nach der Pflegebetten-Entscheidung jedenfalls im „b2c“-Bereich von den Umständen des Einzelfalles, insbesondere von der Art des Produkts, der Wahrscheinlichkeit und Schwere der den Produktverwendern oder Dritten drohenden Gefahren sowie von der Effektivität und den Kosten der in Betracht kommenden Maßnahmen zur Gefahrabwendung bzw. -minderung ab.[88] Im Lederspray-Fall etwa waren angesichts der erkennbar gewordenen Gefahr massiver Gesundheitsschädigungen durch bestimmungsgemäße Verwendung des Sprays ein Vertriebsstopp, Warnungen und eine Rückrufaktion geboten, da weniger einschneidende Maßnahmen mit gleichermaßen risikomindernder Wirkung nicht ersichtlich waren.[89] Wirtschaftliche Interessen des Herstellers mussten hinter denen der Verbraucher am Schutz ihrer Gesundheit zurücktreten (so BGHSt 37, 106, 122 unter Hinweis darauf, dass etwa anderes gelten könnte, „wenn den Verbrauchern bei Unterbleiben des Rückrufs nur geringfügige Nachteile drohen, der Rückruf jedoch für das Unternehmen mit schwerwiegenden, möglicherweise existenzgefährdenden Folgen verbunden wäre“).

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Bei der Ausgestaltung der gebotenen Maßnahmen im Einzelnen wird man dem Hersteller einen gewissen Konkretisierungsspielraum einräumen müssen.[90] So war etwa nach Auffassung des LG Frankfurt/M. der Holzschutzmittel-Hersteller verpflichtet, „großformatige Anzeigen in regionalen und überregionalen Tageszeitungen sowie in Fachzeitschriften“ zu schalten, um vor der Gefährlichkeit des Produkts zu warnen.[91] Auch diese bereits recht konkrete Pflichtenbestimmung lässt jedoch viele Einzelfragen offen (wie groß muss die Anzeige sein, in wie vielen und in welchen Zeitschriften ist sie zu veröffentlichen, an welchen Tagen und wie oft ist sie zu publizieren, wie muss sie inhaltlich und formal gestaltet sein?), die sich von Rechts wegen schlechterdings nicht allgemein verbindlich beantworten lassen (aber doch vom Hersteller irgendwie beantwortet werden müssen).

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Dass der Hersteller gefährlicher Produkte eine Garantenpflicht verletzt, begründet die strafrechtlich maßgebliche Garantenpflichtwidrigkeit seines Verhaltens nur, wenn er eine natürliche Person ist. Handelt es sich, wie regelmäßig, um ein Herstellerunternehmen, bedarf die (Garanten)Pflichtwidrigkeit des Verhaltens einzelner Unternehmensmitarbeiter zusätzlicher Begründung. So ergab sich im Ledersprayfall die Verpflichtung der einzelnen GmbH-Geschäftsführer „aus ihrer Stellung als Geschäftsführer der Herstellerfirma“[92], die Pflichten des Herstellers wurden also den firmenintern für ihre Erfüllung zuständigen Personen wegen dieser Zuständigkeit zugerechnet.[93] Dabei bleibt ihre Konkretisierung und ihre Bestimmung als Garantenpflicht erhalten, ohne dass es, auch im Rahmen einer Ingerenzlösung, darauf ankäme, ob die Geschäftsführer diese Funktion auch schon im Zeitpunkt des gefahrbegründenden Vorverhaltens innehatten oder nicht.[94]

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Zwar hatten die Geschäftsführer der Hersteller-GmbH unterschiedliche Geschäftsbereiche[95], aber jeder einzelne von ihnen war verantwortlich, wenn „– wie etwa in Krisen- oder Ausnahmesituationen – aus besonderem Anlass das Unternehmen als Ganzes betroffen“ war.[96] Folglich trafen die Pflichten des Unternehmens zum Vertriebsstopp und zum Rückruf die Geschäftsleitung, also die Geschäftsführer in ihrer Gesamtheit. Die Pflichten der einzelnen Geschäftsführer sind freilich noch weiter zu individualisieren und einzugrenzen. Zur Vornahme der dem Hersteller gebotenen Handlungen (bzw. Unterlassungen) waren die Einzelnen gesellschaftsintern gar nicht befugt.[97] Demnach beschränkte sich die Verpflichtung jedes Einzelnen darauf, „unter vollem Einsatz seiner Mitwirkungsrechte das ihm Mögliche und Zumutbare zu tun“, um den rechtlich gebotenen „Beschluss der Gesamtgeschäftsführung . . . zustande zu bringen“.[98] Dass die angeklagten Geschäftsführer diese Pflicht durch ihre Zustimmung zu dem Beschluss der Geschäftsleitung verletzt hatten, begründete ihr tatbestandsmäßiges Verhalten sowohl unter dem Gesichtspunkt der Begehung als auch unter dem der Unterlassung. Eine Verletzung der genannten Pflicht kann auch in einer Stimmenthaltung[99] oder darin liegen, dass ein nicht an der Abstimmung teilnehmendes Mitglied der Geschäftsleitung deren Entscheidung nicht nachträglich widerspricht.[100] Wer gegen den pflichtwidrigen Beschluss votiert, hat demgegenüber alles getan, was bei der Abstimmung von ihm verlangt werden kann.[101]

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Umstritten ist, ob in derartigen Fällen eine (Garanten)Pflicht des Überstimmten zu weiteren Gefahrabwendungsmaßnahmen besteht.[102] Jedenfalls dürfte eine derartige Verpflichtung nur „ganz ausnahmsweise“ in Betracht kommen[103], so etwa als Pflicht zur Unterrichtung des Aufsichtsrats, wo „eindeutig falsche Kollegialentscheidungen“ schwere Gesundheitsschädigungen oder gar den Tod von Verbrauchern befürchten lassen[104]. Liegt ein solcher Ausnahmefall vor, kommt zudem nur eine Verantwortung für das Unterlassen gebotener Maßnahmen in Frage.[105] Des Näheren ist zu unterscheiden.[106] Soweit eine gesellschaftsrechtliche Verpflichtung zu unternehmensinternen Maßnahmen besteht, handelt es sich um eine Garantenpflicht.[107] Weitergehende Verpflichtungen zu unternehmensexternen Maßnahmen, etwa zu einer Warnung der Öffentlichkeit auf eigene Faust oder zu einer Strafanzeige gegen andere Mitglieder der Geschäftsführung, gehören dagegen nicht mehr zum „Einsatz der Mitwirkungsrechte“, zu denen der Einzelne aufgrund seiner Stellung im Unternehmen verpflichtet ist. Sie sind deshalb keine Garantenpflichten[108], sondern können allenfalls zur Strafbarkeit aus echten Unterlassungsdelikten wie §§ 138, 323c StGB führen.[109]

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Über den Bereich der strafrechtlichen Produkthaftung hinaus ist bedeutsam, dass der BGH im Jahr 2011 erstmals eine Garantenpflicht des Geschäftsherrn zur Verhinderung betriebsbezogener Straftaten von Unternehmensmitarbeitern ausdrücklich anerkannt hat.[110] Diese Garantenpflicht wird regelmäßig aufgeteilt und auf eine Mehrzahl zuständiger Unternehmensangehöriger übertragen.[111] Diese Anerkennung einer übertragbaren strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung verdient Zustimmung.[112] Sie wird zukünftig auch bei der unternehmensinternen Pflichtbestimmung in produkthaftungsrechtlichen Fällen zu beachten sein.

Handbuch Wirtschaftsstrafrecht

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