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1 Wer ist Alexej Nawalny?

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»Haben Sie keine Angst?«

Alexej Nawalny wird mit dieser Frage konfrontiert, als er am Flughafen Berlin Brandenburg den Flug DP936 der Pobeda Airlines antritt. Es ist Sonntag, der 17. Januar 2021.[1]

Die Maschine ist voll mit Journalisten, die den vierundvierzigjährigen Antikorruptionsaktivisten und Oppositionspolitiker Nawalny auf seiner Reise nach Hause begleiten. Als er die Kabine mit seiner Frau, seiner Rechtsanwältin und seiner Pressesprecherin betritt, blickt er in ein Dutzend Smartphones, die hochgehalten werden, um diesen Augenblick zu dokumentieren. Die Welt schaut zu.

Nawalny ist fröhlich und optimistisch. Dabei hat er sehr wohl Grund, Angst zu haben. Die russischen Strafverfolgungsbehörden hatten ihn zuvor gewarnt, dass er bei seiner Rückkehr nach Russland verhaftet werden würde. Man beschuldigte ihn, gegen Bewährungsauflagen aus einem Verfahren wegen Unterschlagung verstoßen zu haben. Er muss mit mehreren Jahren Gefängnis rechnen.

Dass Nawalny überhaupt in der Lage gewesen war, die Maschine zu besteigen, glich einem Wunder. Das letzte Mal, als er auf eigenen Beinen an Bord eines Flugzeug ging, befand er sich im sibirischen Tomsk. Es war der 20. August 2020, und es sollte eigentlich ein Routineflug zurück nach Moskau werden. Er hatte in Tomsk an Recherchen zu den Geschäftspraktiken von Beamten und Gemeindepolitkern gearbeitet.[2] Zudem hatte er sich vor den regionalen und lokalen Wahlen am 13. September für Oppositionskräfte eingesetzt und hoffte, ihnen zu Siegen gegen Kandidaten zu verhelfen, die von den Behörden unterstützt wurden.

Doch während des Flugs ging plötzlich alles schief. Nawalny wurde krank. Er bekam unerträgliche Schmerzen. Einem Mitpassagier zufolge sagte Nawalny kein Wort – »er hat nur geschrien«.[3] Eine Flugbegleiterin fragte, ob medizinisches Fachpersonal an Bord sei. Daraufhin meldete sich eine Krankenschwester. Zusammen mit der Flugbesatzung leistete sie Erste Hilfe und versuchte, Nawalny bei Bewusstsein zu halten.

Der Pilot beschloss, in Omsk, etwa 750 Kilometer westlich von Tomsk, aber immer noch in Sibirien, notzulanden – obwohl am Flughafen eine mysteriöse Bombendrohung eingegangen war.[4] Nawalny wurde auf einer Trage aus dem Flugzeug gebracht und von einem Rettungswagen in ein Notfallkrankenhaus gefahren.

Seine Pressesprecherin Kira Jarmysch sagte, das Einzige, was Nawalny an diesem Tag gegessen oder getrunken habe, sei ein schwarzer Tee aus einem Plastikbecher gewesen, den er kurz vor dem Abflug auf dem Flughafen zu sich genommen habe – und dass dieser womöglich mit Gift präpariert gewesen sei.[5] Nawalny war bis dahin, so schien es, körperlich in bester Verfassung, ein Mann ohne bekannte Gesundheitsprobleme, der nicht rauchte und wenig trank.

Die Befürchtung, die die Pressesprecherin äußerte, war nicht aus der Luft gegriffen. Wer die Politik in Russland aufmerksam verfolgte, kannte derartige Fälle. In den vergangenen Jahren waren Persönlichkeiten, die sich kritisch dem Kreml gegenüber geäußert hatten, immer wieder auf mysteriöse Weise erkrankt. Der Verdacht, dass sie vergiftet worden waren, lag stets nahe.[6] Andererseits hatte Nawalny sich mit seinen Ermittlungen zu Korruptionsfällen innerhalb der russischen Elite viele, ganz unterschiedliche Feinde gemacht – Geschäftsleute, lokale Politiker, hohe Staatsbeamte.[7] Die Liste möglicher Verdächtiger war lang.

Bei seiner Ankunft im Krankenhaus wurde berichtet, Nawalny sei vorerst auf eine »akute psychodysleptische Vergiftung« diagnostiziert worden.[8] Er wurde an ein Beatmungsgerät angeschlossen, in ein künstliches Koma versetzt und erhielt Atropin.[9] Sein Zustand wurde als »ernst, aber stabil« beschrieben.[10] Es wurden normale medizinische Maßnahmen eingeleitet.

Doch dann nahmen die Dinge eine seltsame Wendung.

Das Krankenhaus füllte sich mit Polizeibeamten, von denen einige Zivil trugen.[11] Und sie begannen laut Jarmysch, Nawalnys persönliches Eigentum zu konfiszieren.[12]

Als das Flugzeug, in dem sich Nawalny befunden hatte, schließlich Moskau erreichte, wurde es von Polizeikräften erwartet, die an Bord der Maschine gingen. Sie forderten die Passagiere, die Nawalny am nächsten gesessen hatten, auf, an Bord zu bleiben. Einem Passagier kam dies reichlich seltsam vor: »Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht die Rede von einem möglichen Verbrechen, aber die Sicherheitsbeamten schienen ganz eindeutig davon auszugehen, dass doch etwas Kriminelles vorgefallen war.«[13]

In Omsk hatte Nawalnys Frau Julia Schwierigkeiten, zu ihrem Mann vorgelassen zu werden. Die Krankenhausleitung ließ verlauten, er habe ihrem Besuch nicht explizit zugestimmt.[14] Und die Ärzte wurden Nawalnys Team gegenüber, das ihn zur Behandlung nach Deutschland ausfliegen wollte, immer reservierter und schwiegen über seinen Gesundheitszustand. Am 21. August landete ein Flugzeug in Omsk, das bereit war, Nawalny in die Berliner Charité zu überführen.

Auch Nawalnys enger Vertrauter Iwan Schdanow und Julia Nawalnaja berichteten von einem seltsamen Vorfall. Sie behaupteten, während ihres Gesprächs mit dem Chefarzt des Krankenhauses habe eine Polizistin gesagt, eine Substanz, die sowohl für Nawalny als auch Menschen in seiner Umgebung gefährlich sei, sei an ihm gefunden worden.[15] Doch habe sie sich geweigert, den Namen der Substanz zu nennen, dies sei ein »Ermittlungsgeheimnis«.[16]

Am selben Tag veröffentlichte eine russische Zeitung eine sensationelle Geschichte. Sie zitierte anonyme Quellen und behauptete, Ordnungskräfte seien Nawalny nach Tomsk gefolgt. War er vergiftet worden? Die Quellen berichteten, dass »keine unnötigen oder verdächtigen Kontakte, die mit der Vergiftung in Verbindung gebracht werden könnten«, gesehen worden seien.[17] Viele sahen in der Geschichte ein gezielt gestreutes Gerücht des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, der sich von dem Vorfall distanzieren wollte.[18]

Derweil revidierten die Ärzte in Omsk ihre ursprüngliche Diagnose.[19] Sie erklärten nun, Nawalny leide unter den Folgen einer ernsten metabolischen Störung, nicht an den Folgen einer Vergiftung. Der Chefarzt des Krankenhauses sagte, dies »könnte verursacht worden sein durch einen extremen Abfall des Blutzuckerspiegels im Flugzeug, auf den der Verlust des Bewusstseins folgte«.[20] Die Ärzte behaupteten nun außerdem, die Substanz, von der Proben in Nawalnys Händen und Haaren gefunden worden waren, sei ein weitverbreitetes Industrieprodukt und könne zum Beispiel von einem Plastikbecher stammen.[21] Und doch waren sie nun der Meinung, Nawalnys Zustand sei »instabil« und es sei nicht ratsam, ihn nach Deutschland zu fliegen.

Für Nawalnys persönliche Ärztin war das Motiv klar: »Sie warten drei Tage, bis keine Spuren von Gift mehr in seinem Körper sind.«[22] Julia Nawalnaja bat Wladimir Putin persönlich um Erlaubnis, ihren Ehemann nach Berlin ausfliegen zu lassen.[23]

Nach anfänglichen Widerständen wurde deutschen Ärzten der Zugang zu Nawalny erlaubt. Sie sagten, er sei in einem transportfähigen Zustand und könne nach Berlin geflogen werden. Auch russische Ärzte erklärten nun ihr Einverständnis und behaupteten, Nawalnys Zustand habe sich stabilisiert. Das Flugzeug mit Nawalny an Bord hob am 22. August vom Flughafen Omsk ab.

Zwei Tage, nachdem er in Berlin angekommen war, erklärten deutsche Ärzte, Nawalny sei mit einem Cholinesterase-Hemmer – einem Wirkstoff, der das Nervensystem angreift – vergiftet worden.[24] Dieser könnte von einem gewöhnlichen Schädlingsbekämpfungsmittel stammen – oder von einem waffentauglichen Nervenkampfstoff. Eine Nachricht, die den Verdacht erhöhte, dass der russische Staat in die Sache verwickelt sein könnte.[25]

Russische Funktionäre wehrten die zunehmend gegen sie gerichteten Vorwürfe ab. »Warum sollten wir so etwas tun? Und noch dazu auf so stümperhafte, unentschlossene Weise?«, tweetete am 24. August einer von Russlands Top-Diplomaten bei den Vereinten Nationen.[26] Anfang September behauptete der Sprecher der Staatsduma – des Unterhauses des russischen Parlaments –, die Reaktion des Westens auf die »angebliche« Vergiftung sei eine »geplante Aktion gegen Russland, um neue Sanktionen zu verhängen und die Entwicklung unseres Landes zu bremsen«.[27]

Zugleich schienen es die Polizeibehörden in Russland nicht eilig zu haben, den Vorfall zu untersuchen. Die regionale Verkehrspolizei – weit entfernt, den Eliteeinheiten der Vollzugsbehörden anzugehören – führte eine »Voruntersuchung« durch.[28] Das Hotel in Tomsk, in dem Nawalny sich aufgehalten hatte, wurde von der Polizei und FSB-Offizieren untersucht, doch die lokale Presse meldete, dieser Vorgang habe lediglich »ein paar Tage« gedauert. In den Augen von Nawalnys Mitstreitern, die von der Polizei befragt wurden, lief alles auf Untätigkeit, oder schlimmer, auf Vertuschung hinaus.[29]

Am 2. September versicherte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Nawalny sei »zweifelsfrei« mit einem Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden – ein Befund, der später von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen bestätigt wurde.[30] Dieselbe Art von Nervenkampfstoff war im März 2018 im englischen Salisbury gegen Sergej und Julia Skripal eingesetzt worden – ein Anschlag, von dem die britische Regierung sagte, er sei »mit allergrößter Wahrscheinlichkeit« von Präsident Putin veranlasst worden.[31]

Wie bei diesem früheren Vergiftungsvorfall fiel die internationale Reaktion zum Fall Nawalny zunehmend heftig und dem russischen Staat gegenüber kritisch aus. Merkel behauptete, die Vergiftung werfe »sehr schwerwiegende Fragen auf, die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss«.[32] Die russischen Behörden gaben zur Antwort, dass die angeblichen Beweise für eine Vergiftung in Deutschland gefunden worden seien – und dass es deshalb an den deutschen Behörden sei, mit Russland zusammenzuarbeiten und weiteres Beweismaterial zu liefern.[33]

Daneben tauchten in staatstreuen russischen Medien mehrere Darstellungen auf, in denen die internationalen Anschuldigungen bestritten wurden. Einige bezweifelten, dass überhaupt eine Vergiftung stattgefunden habe. Zwei russische Journalisten schrieben sogar ein ganzes Buch, um diese These zu belegen.[34] Andere behaupteten, Nawalny sei zwar vielleicht vergiftet worden, doch sei hierfür nicht Nowitschok eingesetzt worden. Dies behauptete der Chemiker Leonid Rink, der selbst am Nowitschok-Programm mitgearbeitet und in den neunziger Jahren nach eigenen Angaben Dosen der Substanz an kriminelle Vereinigungen verkauft hatte.[35] Nawalny könne gar nicht mit dem Nervenkampfstoff vergiftet worden sein, denn in diesem Fall, argumentierte Rink, wäre er tot.[36] Dagegen urteilte ein anderer Chemiker, der ebenfalls an der Entwicklung von Nowitschok beteiligt gewesen war, die Symptome Nawalnys würden mit den vom Nervenkampfstoff ausgelösten Vergiftungserscheinungen übereinstimmen.[37]

Eine weitere Theorie besagte, dass Nowitschok zwar benutzt worden sein könne, es aber keinesfalls in Russland verabreicht worden sei, sondern in Deutschland. Diese Version wurde von Andrej Lugowoj verbreitet – einem Mitglied des russischen Parlaments und Hauptverdächtiger im Fall des Mordes an dem ehemaligen FSB-Agenten Alexander Litwinenko, der im Jahr 2006 in London mit radioaktivem Polonium vergiftet worden war.[38]

Am 7. September erwachte Nawalny aus dem Koma und erholte sich erstaunlich schnell. Er wurde am 23. September aus dem Krankenhaus entlassen und hielt sich danach zur Erholung im Schwarzwald auf.[39]

Monate vergingen. Während Nawalny allmählich wieder zu Kräften kam, waren anderswo Menschen damit beschäftigt, Nachforschungen zu seiner Vergiftung anzustellen. Wie wurde sie durchgeführt und von wem?

Am 14. Dezember veröffentlichte das Recherchenetzwerk Bellingcat die Ergebnisse seiner Ermittlungen, die es mit einem russischen Partner, der Online-Zeitung The Insider, sowie der Unterstützung von CNN und dem Spiegel durchgeführt hatte.[40] Nawalny sei von einem FSB-Mordkommando vergiftet worden – einer »geheimen Einheit, die auf giftige Substanzen spezialisiert ist«, und Nawalny seit Jahren beschattet und womöglich bereits zuvor zu vergiften versucht habe.

Gestützt auf Telefonaufnahmen und Passagierlisten konnte die Recherche die Bewegungen dieser FSB-Agenten nachverfolgen. Sie waren den Aufenthaltsorten von Nawalny oft verdächtig nahe gekommen.

Bis hierher waren die Ereignisse schon ungewöhnlich genug, doch nun wurden sie surreal. Am 21. Dezember veröffentlichte Nawalny das Video eines Telefonats, das er bereits kurz vor Veröffentlichung der Bellingcat-Recherche geführt hatte.[41] Darin sprach Nawalny mit jemandem, der den Rechercheergebnissen zufolge am Mordversuch beteiligt gewesen war – Konstantin Kudrjawzew. Nawalny gab sich am Telefon als ein Mitarbeiter des früheren FSB-Chefs aus, und Kudrjawzew fiel darauf herein und ließ sich Details der Operation entlocken. »Die Unterhosen … an der Innenseite … im Schritt« – dort sei das Nowitschok aufgetragen worden, sagte Kudrjawzew.[42]

Jetzt richteten sich noch mehr Stimmen empört gegen den Kreml. Als Antwort darauf scherzte Putin am 17. Dezember: Hätte der FSB Nawalny tatsächlich töten wollen, »hätten sie ihren Job auch erledigt«.[43] Während dies für manche nicht nach einer vollständigen Zurückweisung der Vorwürfe klang, bestritten russische Behörden ihre Beteiligung vehement. Doch schienen sie auch nicht allzu interessiert daran herauszufinden, wer stattdessen für die Tat verantwortlich war. Es wurde kein Strafverfahren eröffnet.

Einem seiner langjährigen Mitarbeiter zufolge war Nawalny »zunehmend davon überzeugt, dass Putin an der Vergiftungsaktion beteiligt sei« und folglich »zunehmend daran interessiert, ihn bloßzustellen«.[44] Dies wollte er tun, indem er den Vorwürfen nachging, die im Raum standen, wonach Putin korrupt sei und über heimliche Reichtümer verfüge. Dies war ein klarer Kurswechsel vonseiten Nawalnys: Einem engen Partner zufolge habe er zuvor wiederholt behauptet, »wenn wir über Putin schreiben, wird dies unsere letzte Recherchearbeit sein« – damit würde er eine rote Linie überschreiten und den Zorn des Präsidenten auf sich ziehen.[45]

Nawalny verkündete seinen Plan, nach Russland zu fliegen, am 13. Januar 2021.[46] Er sagte, er habe nie daran gezweifelt, dass er zurückkehren würde. Er habe nicht selbst entschieden, Russland zu verlassen, sondern sei nach einem Mordanschlag in Deutschland gelandet. Er kehre nicht aus dem Exil zurück, sondern beende lediglich seine unterbrochene Reise zurück nach Moskau, die er damals am 20. August 2020 in Tomsk angetreten habe.

Nachdem er sich am 17. Januar seinen Weg durch die Journalistenmenge im Flugzeug der Pobeda (was im Übrigen »Sieg« bedeutet) Airlines gebahnt hat, nimmt Nawalny neben seiner Frau Platz. Während die Maschine in Richtung Moskau fliegt, sehen sie sich gemeinsam die amerikanische Zeichentrickserie Rick and Morty an. Der Kontrast zum allgemeinen Ernst der Lage hätte nicht größer sein können.

Nawalny

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