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Nawalny vor Nawalny
ОглавлениеAlexej Nawalny wurde am 4. Juni 1976 in Butyn – einem Dorf im Westen Moskaus – geboren. Sein Vater war Offizier der sowjetischen Armee, seine Mutter arbeitete als Buchhalterin. In seiner Jugend folgte Nawalnys Familie dem Vater aufgrund seiner vielen Versetzungen von einer Stadt in die nächste.
In Nawalnys Familie genoss die UdSSR nicht gerade hohes Ansehen. Sein Vater hörte Voice of America. Seine Großmutter hasste Lenin von ganzem Herzen.[49] Die Familie bekam die größten Mängel des Systems hautnah zu spüren: Alexejs Vater stammte aus der Ukraine, und der junge Nawalny verbrachte die Sommerferien oft bei seiner Großmutter in einem Dorf bei Tschernobyl – bis die Region 1986 unbewohnbar wurde.[50]
Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, war Nawalny fünfzehn. Er verband nicht allzu viele gute Erinnerungen mit dem alten System: Wenn er über die UdSSR sprach, kam ihm vor allem das Schlangestehen für die elementarsten Konsumgüter in den Sinn. Er erinnerte sich an die Scheinheiligkeit der Kommunisten mit Parteibuch. Sie priesen die Sowjetunion am lautesten, waren gleichzeitig aber auch jene, die mit dem größten Neid in Richtung Westen blickten. Jenseits der Ideale herrschte in der Sowjetunion, die Nawalny kennengelernt hatte, nichts als Heuchelei – »alles Lug und Betrug«.[51]
Nawalny machte sich über den Kommunismus keine Illusionen. Er liebte Rockmusik und schaute bekannte Fernsehsendungen, die das Sowjetsystem kritisierten. »Als ich siebzehn war, glaubte ich, meine politischen Ansichten seien vollständig ausgebildet. Und ich teilte sie stolz der ganzen Welt mit.«[52] Nawalny war ein »Liberaler«.
Das Wort »liberal« hat in unterschiedlichen Kontexten sehr unterschiedliche Bedeutungen. Im Russland der neunziger Jahre bezeichnete es jene, die danach strebten, das Land nach westlichen Maßstäben in eine freie Marktwirtschaft und einen Rechtsstaat umzugestalten. Dieses gemeinsame Ziel einte liberale Kräfte ungeachtet anderer möglicher Meinungsverschiedenheiten. Darüber hinaus unterschied man sich dagegen sehr. Einige kritische Gruppen waren an der Macht, andere gehörten zur Opposition. Einige nannten sich »Liberale«, andere »Demokraten«. Einige waren Technokraten, andere Intellektuelle oder Graswurzelaktivisten. Einige traten für einen schrittweisen Übergang zum Kapitalismus ein, andere befürworteten eine radikale »Schocktherapie«. Einige waren überzeugte Demokraten, andere glaubten, Russland benötige eine starke Hand, um den Übergang zu einer liberalen Demokratie und zum Kapitalismus überhaupt zu bewerkstelligen.
In seiner Jugend befürwortete Nawalny die radikale Version des Liberalismus. Er unterstützte den ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin und dessen Reformen. Wie Nawalny selbst zugibt, stimmte er trotz des Leids, das sie den Schwächsten der Gesellschaft zufügten, laut für Jelzins wirtschaftliche Reformen. Dazu muss man erwähnen, dass er kaum Probleme mit den autoritären Tendenzen der Jelzin-Regierung hatte. Später sollte er diese Unterstützung bereuen – und zugeben, dass es Reformer wie er waren, die den Samen für Putins autoritäre Herrschaft säten.[53]
Nach Beendigung der Schule im Jahr 1993 schrieb sich Nawalny an der Russischen Universität der Völkerfreundschaft (RUDN) in Moskau ein, nachdem er die Zulassung an der renommiertesten russischen Hochschule, der Staatlichen Universität Moskau, knapp verfehlt hatte. Er studierte Jura und machte einen weiteren Abschluss in Finanz- und Börsenwesen. An der RUDN, so Nawalny, habe er begonnen, am Liberalismus zu zweifeln – und sei in Richtung Nationalismus umgeschwenkt.
Liberale Parteien in Russland waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Niedergang begriffen. Und Nawalny schien es, als würde das »liberale Projekt« die Menschen nicht mehr ansprechen. Warum? Weil Liberale russischen Stils nach seinem Dafürhalten sogar noch sozialliberaler agierten als ihre europäischen Pendants – insbesondere in Fragen der Zuwanderung.[54]
Obwohl Nawalny eigene politische Ideen vertrat und die Nachrichten verfolgte, war er zu diesem Zeitpunkt kein Aktivist. An der Universität dachte er, das Wichtigste sei es, »eine Ausbildung zu bekommen, eine Arbeit zu finden und schnell reich zu werden«.[55] Er begann früh, noch während des Studiums, zu arbeiten. Seine erste Stelle hatte er bei der Aeroflot-Bank, dann wechselte er in eine Immobilienfirma.[56] »Die Arbeit dort hat mir gezeigt, wie die Sachen im Inneren erledigt werden, wie Vermittlungsunternehmen aufgebaut sind, wie Geld hin- und herbewegt wird«, erzählte er der Journalistin Julia Ioffe im Jahr 2011.[57]
Um die Jahrtausendwende gründete Nawalny mehrere Unternehmen. In »guten Monaten« verdiente er zwischen 4000 und 5000 US-Dollar.[58] Von solchen Einkünften konnten die meisten seiner Altersgenossen nur träumen. Ob Anwalt, Börsenmakler oder Geschäftsmann – Nawalny hat damals vieles gemacht.[59] Auch seine Eltern stiegen in die Klasse der neuen Mittelschicht der neunziger Jahre auf. Sie wurden Eigentümer einer Korbfabrik im Moskauer Umland.
Alexej Nawalny ist gebildet und belesen. Doch stammt er, wie der Schriftsteller Keith Gessen betont, »nicht aus der Intelligenzija«, also der Schicht der russischen Intellektuellen. Zum einen, weil in Russland Berufsoffiziere – wie Nawalnys Vater – nicht dazugehören. Zum anderen setzt sich Nawalny in seiner ganzen Art von anderen ab:
»Nawalny ist äußerst intelligent und sprachgewandt, er ist sogar ein sehr guter Autor. Doch er besitzt nicht diese besondere Form der Höflichkeit, Weitschweifigkeit und übermäßigen Besonnenheit [die man mit der Intelligenzija in Verbindung bringt] … Es gibt keine verborgenen Tiefen, keinen inneren Monolog, den Nawalny zu destillieren versucht, während er spricht. Er sagt, was er denkt, und er denkt nicht mehr als das, was er sagt.«[60]
Gleichzeitig scheint Nawalny von einem tiefen Gefühl moralischer Gewissheit durchdrungen. Viele seiner Slogans bezeugen dies. Der Untertitel seines Blogs lautete vorübergehend: »Die letzte Schlacht zwischen Gut und Neutralität«, und er beschließt seine YouTube-Videos üblicherweise mit »Abonnieren Sie unseren Kanal. Hier hören Sie die Wahrheit.« Nach seiner Vergiftung im Jahr 2020 wurde Nawalny gefragt: »Wo liegt die Macht?« – ein berühmter Spruch aus dem russischen Kultfilm Brat 2 von Alexej Balabanow. Und er antwortete, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, genauso wie der Held des Films: »Die Macht liegt natürlich in der Wahrheit. Entschuldigen Sie, dass das so trivial ist, doch die Macht liegt in der Wahrheit und im Selbstvertrauen.«[61]
Nawalny ist Politiker, und er hat mit den Jahren ein Image kultiviert, das an demokratische Politiker des Westens aus dem Mitte-Rechts-Lager erinnert.
Nawalny ist ein Familienmensch. Er ist orthodoxer Christ, geht allerdings nicht in die Kirche. Seit 2001 ist er mit Julia Nawalnaja (geborene Arosimowa) verheiratet. Sie hatten sich einige Jahre zuvor während eines Urlaubs in der Türkei kennengelernt. Julia Nawalnaja hat Internationale Wirtschaft studiert, allerdings nur kurze Zeit gearbeitet.Sie kümmert sich um den Haushalt und die beiden Kinder Daria (geboren 2000) und Zakhar (2008).[62] Sie spricht von sich als »Frau eines Politikers«. Eigene politische Ambitionen hat sie nie erkennen lassen.[63]
Trotz dieses traditionellen Familienbildes – und seines selbsterklärten Konservativismus – pflegt Nawalny einige fortschrittliche Ansichten, die vom Standpunkt der Mehrheit stark abweichen. So unterstützt er zum Beispiel die gleichgeschlechtliche Ehe, die in Russland von großen Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird.[64]
Alexej Nawalny gibt sich sachlich und geschäftsmäßig. Kremlfreundliche Boulevardblätter betonen gerne, dass er teure Markenkleidung trägt und Urlaub im Ausland macht. Doch viel mehr haben sie nie herausgefunden. Sein Lebensstil ist luxuriöser als der eines durchschnittlichen Russen – was ihm durchaus bewusst ist.[65] Doch liegt er weit unter dem Niveau vieler jener Regierungsbeamten, über die er seine Recherchen anstellt.
Nawalny ist schlagfertig, einnehmend und witzig. Er ist aber auch aufbrausend. Ziemlich oft grenzt seine Direktheit an Unverschämtheit. Er hatte zahlreiche öffentliche Auseinandersetzungen mit Journalisten, ehemaligen Verbündeten und Politikern. In der liberalen Moskauer Politik- und Medienwelt, aber auch weit darüber hinaus provoziert er geteilte Meinungen.