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Bewaffneter Angriff (Stephan Hobe)
II. Besondere Problemfelder
1.„Safe havens“ und terroristische Angriffe
Lit.:
P. Dreist, AWACS-Einsatz ohne Parlamentsbeschluss? Aktuelle Fragestellungen zur Zulässigkeit von Einsätzen bewaffneter Streitkräfte unter besonderer Berücksichtigung der NATO-AWACS-Einsätze in den USA 2001 und in der Türkei 2003, ZaöRV 64 (2004), 1001; O. Keber/P.N. Roguski, Ius ad bellum electronicum?, AVR 49 (2011), 399; N. Ochoa-Ruiz/E. Salamanca-Aguado, Exploring the Limits of International Law relating to the Use of Force in Self-defence, EJIL 16 (2005), 499; T. Plate, Völkerrechtliche Fragen bei Gefahrenabwehrmaßnahmen gegen Cyber-Angriffe, ZRP 2011, 200; T. Stein/T. Marauhn, Völkerrechtliche Aspekte von Informationsoperationen, ZaöRV 60 (2000), 1; W. Wengler, Die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs im Nicaragua-Fall, NJW 1986, 2994.
Die Ausübung des individuellen und kollektiven Selbstverteidigungsrechts (→ Selbstverteidigung) gem. Art. 51 UN-Ch. setzt eine Selbstverteidigungslage voraus. Hierfür bedarf es eines gegenwärtigen rechtswidrigen bewaffneten Angriffs, der einem anderen Staat zurechenbar ist.
I. Begriff
Dabei ist also zunächst der bewaffnete Angriff die zentrale Tatbestandsvoraussetzung. Wie der → Internationale Gerichtshof in seinem Urteil im Nicaragua-Fall im Jahre 1986 (ICJ Reports 1986, 14/103 f.) deutlich gemacht hat, zeichnet sich ein bewaffneter Angriff dadurch aus, dass er sowohl von seinem Ausmaß als auch von seinen Wirkungen her erhebliches Gewicht besitzt. Aus diesem Grund ist noch nicht jede Verletzung des → Gewaltverbots nach Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. als bewaffneter Angriff anzusehen. Denn Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. soll präventiv und umfassend die Anwendung von Gewalt vermeiden. Die Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Ch. stellt ihrerseits eine Anwendung von grundsätzlich zu vermeidender Gewalt dar, sodass die Voraussetzungen der Ausnahmebestimmung entsprechend eng gefasst werden müssen. Einigkeit besteht insofern, als dass der Angriff mittels Waffengewalt gegen einen anderen → Staat bzw. dessen Streitkräfte durchgeführt werden muss. Bei der Frage der Zurechnung deuten sich angesichts des internationalen Terrorismus Veränderungen an.
1. Bewaffnung
Erforderlich ist ein Vorgehen mit militärischen Mitteln. Klassischerweise wird hierunter die Verwendung von Streitkräften und ihren Waffengattungen zu verstehen sein. Sinn von Art. 51 UN-Ch. ist es, das Selbstverteidigungsrecht auf besonders gravierende Fälle zu beschränken. Wenn ein solcher Fall vorliegt, spielt es allerdings keine Rolle, mit welcher Art von Mitteln der Angriff durchgeführt wird. Daher dürften auch zivile Mittel, die zur Waffe pervertiert werden, dann einen bewaffneten Angriff auslösen, wenn sie in ihrer Wirkung militärischen Waffen gleichkommen. Das Lenken zweier ziviler Luftfahrtzeuge in ein Gebäude etwa erfüllt unproblematisch dieses Kriterium.
2. Angriffshandlungen
Der IGH wie auch die herrschende Meinung ziehen zur Konkretisierung dessen, was die Qualität des Angriffs ausmacht, regelmäßig die Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung (UN GA Res. 3314 (XXI) vom 14.12.1974) heran. Dabei ist freilich zu beachten, dass der dort benutzte Begriff der „Aggression“ nicht ganz deckungsgleich mit dem des „bewaffneten Angriffs“ in Art. 51 UN-Ch. ist. Indes bietet die Aggressionsdefinition starke Indizien für die Auslegung auch von Art. 51 UN-Ch. und ist vorbehaltlich einiger Modifikationen jüngst auch im IStGH-Statut zur Definition des Verbrechens der → Aggression aufgenommen worden. Insofern sind die in Art. 3 der Resolution genannten Angriffshandlungen signifikant: Invasion oder Besetzung durch fremde Streitkräfte, Beschießung oder Bombardierung fremden Gebiets, Blockade von Häfen und Küsten durch fremde Streitkräfte, direkter militärischer Angriff auf fremde Streitkräfte, Einsatz von Streifkräften, die sich zulässigerweise auf fremdem → Staatsgebiet befinden, unter Verstoß gegen Aufenthaltsbedingungen, Dulden einer Angriffshandlung fremder Streitkräfte von eigenem Territorium aus, Entsenden bewaffneter Banden, Freischärler und Söldner, wenn deren Handlungen mit den genannten Handlungen vergleichbar sind. Insbesondere kleinere Grenzgefechte dürften die Schwelle zum bewaffneten Angriff noch nicht überschreiten. Diskutabel scheint eine Einschränkung auch für die gezielte Befreiung eigener → Staatsangehöriger, möchte man eine solche Aktion ihrerseits nicht als gerechtfertigte Selbstverteidigung ansehen. Ferner entschied der IGH im Oil Platforms Case (ICJ Reports. 2003, 161/191 ff.), dass mehrere ungezielte Angriffe in Form von Seeminen und ungelenkten Raketen auf zivile Schiffe auch zusammengenommen noch keinen bewaffneten Angriff darstellten. Er deutete allerdings an, dass die (im Fall dem Iran nicht nachweisbare) Verminung eines Militärschiffes durchaus einen bewaffneten Angriff darstellen könnte (ICJ Reports. 2003, 161/195 f.).
II. Besondere Problemfelder
1. „Safe havens“ und terroristische Angriffe
Nach den Attentaten auf das World Trade Center am 11.9.2001 stellte sich unvermeidlich die Frage, wie mit Staaten zu verfahren ist, die internationalen Terroristen einen sicheren Rückzugsort („save haven“) bieten. Die schnelle Feststellung des UN-Sicherheitsrates, wonach die damals über Afghanistan herrschenden Taliban durch die Unterstützung der Al Quaida für deren bewaffneten Angriff auf die USA verantwortlich waren, kann insofern als richtungsweisend gelten. Der → Sicherheitsrat stellte fest, dass die Anschläge eine Bedrohung des Weltfriedens ausgelöst haben und verwies auf das Recht zur Selbstverteidigung (Res. 1368). Res. 1368 bildete aus Sicht der Alliierten die Grundlage für die „Operation Enduring Freedom“ in Afghanistan. Die Entsendung und Aufnahme von Terroristen können daher zu der Zurechnung eines bewaffneten Angriffs führen. Voraussetzung für eine Zurechnung des bewaffneten Angriffs der Terroristen ist aber, dass zwischen diesem und dem sie beherbergenden Staat eine dichte Verbindung besteht. Entsprechend zu den Feststellungen des IGH im Teheran-Hostage-Fall (ICJ Reports 1980, 106/35) könnte eine solche Verflechtung wohl auch dann angenommen werden, wenn sich ein Staat die Handlungen der Terroristen durch positive Äußerungen zu eigen macht. Diskutabel scheint zudem, einen bewaffneten Angriff dann anzunehmen, wenn etwa ein Staatsoberhaupt oder bedeutendes Regierungsmitglied mittels eines einem Fremdstaat zurechenbaren Anschlags angegriffen wird. Zu beachten ist in diesem Rahmen, dass die Zurechnungsschwelle bei Taten des internationalen Terrorismus aufgrund dessen weltweiter Ächtung und des daraus resultierenden Unterstützungsverbots niedriger anzusetzen ist als bei der Unterstützung bewaffneter Gruppen in einem anderen Staat.
2. Cyber Attacks
Schließlich wird heute intensiv diskutiert, ob sog. cyber attacks, also computergestützte Angriffe, auch einen bewaffneten Angriff darstellen können. Solche Angriffe dürften in Zukunft zunehmen, da sie im Vergleich zu kriegerischen Angriffen wenig Aufwand erfordern, aber erheblichen Schaden anrichten können. Als Beispiel mag das Computervirus „Stuxnet“ dienen, welches 2010 erfolgreich iranische Nuklearanlangen sabotierte. Die Schwelle zum bewaffneten Angriff ist bei einem solchen Vorgehen wohl überschritten, wenn in einem Vergleich zu einem Angriff mit konventionellen Waffen eine solche Handlung hinsichtlich der Auswirkungen als bewaffneter Angriff anzusehen wäre. Dies dürfte der Fall sein, wenn wichtige zivile oder militärische Infrastruktur erheblich betroffen ist, etwa die militärische Computersteuerung oder die Versorgung mit Elektrizität lahmgelegt wird. Rein netzintern bleibende Aktionen, wie etwa das sog. hacking, werden in aller Regel nicht als bewaffneter Angriff anzusehen sein.
3. Unterstützungshandlungen
Zudem können Formen indirekter Aggression, also die Unterstützung bewaffneter Angriffe durch Andere in einem fremdem Staat, dann einen bewaffneten Angriff darstellen, wenn dies nach Ausmaß und Wirkung einem direkten Angriff gleichkommt. Die Unterstützungshandlung muss damit eine höhere Schwelle überschreiten als die Zurechnung von Gewalt im Sinne von Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. Es geht regelmäßig um das Entsenden bewaffneter Banden oder Gruppen bzw. Söldner, die im Staatsauftrag Gewaltakte gegen andere Staaten oberhalb einer gewissen Erheblichkeitsschwelle durchführen (IGH, ICJ Reports 1986, 14/103 f.). Nicht ausreichend seien – so der IGH – jeweils die bloße Finanzierung und Ausrüstung der Rebellen bzw. entsprechender bewaffneter Banden. Vielmehr müssten diese als „verlängerter Arm“ des Staates in Erscheinung treten.
Der Staat im Hintergrund muss also eine Form von Tatherrschaft über die Aktionen der privaten Täter (sog. effective control) innehaben, was der IGH im Nicaragua-Fall für das Handeln der Kontrarebellen unter Anwendung dieses Kriteriums in Bezug auf die Vereinigten Staaten von Amerika ablehnte. Es sei für eine effective control nämlich erforderlich, dass die unterstützende Partei als ein Organ des Unterstützerstaates erscheine, etwa in der Form, dass eine vollständige Abhängigkeit bestehe. Für die Erfüllung dieses Kriteriums genügt es nicht, dass wesentliche Aktivitäten der Unterstützten ohne die Hilfestellung nicht möglich wären. Eine solche Kontrolle kann deswegen insbesondere dann abzulehnen sein, wenn die Beendigung der Unterstützung nicht zu einem Ende der Aktivitäten der unterstützten Gruppe führt. Natürlich kann eine Unterstützung unterhalb dieser Schwelle eine Verletzung des → Interventionsverbots darstellen. Der vom ICTY in der Rs. Tadic angewandte overall control-Test, dessen Voraussetzungen weniger streng sind, als die des effective control-Tests, dürfte auf die Zurechnung im Rahmen des Art. 51 UN-Ch. nicht angewandt werden können. Wie der IGH in dem Fall → Völkermord in Bosnien (ICJ Reports 1996, 595) verdeutlicht hat, ist dieser Test wegen seiner erheblichen Breite auf Fragen der Staatenverantwortlichkeit nicht übertragbar.
III. Fazit
Ein bewaffneter Angriff bedeutet die gegen einen anderen Staat oder dessen Streitkräfte gerichtete Handlung, die mit militärischen zumindest gleichkommenden Mitteln durchgeführt wird und von erheblichem Ausmaß bzw. mit Wirkungen von erheblichem Gewicht ist.