Читать книгу Lügner küssen besser - Birgit Kluger - Страница 15
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ОглавлениеDienstag
Der Herrscher
Autorität. Jemand, der die Situation im Griff hat. Kann sich unmöglich auf mich beziehen.
"Was treibt der Mann den ganzen Tag?" Vanessa schaute auf ihre Armbanduhr und runzelte die Stirn. "Er kann unmöglich bis acht Uhr abends arbeiten."
"Warum nicht? Meine Schwester macht das jeden Tag."
"Vielleicht ist sie nicht deine Schwester. Möglicherweise hat man sie im Krankenhaus vertauscht."
"Wenn man ein Baby nach der Geburt vertauscht hat, dann mich. Ich bin das schwarze Schaf in der Familie."
"Hey, lass dich nicht unterkriegen."
"Ist schon gut. Das Wochenende war etwas stressig." Ich deutete auf die Wohnungstür, hinter der Lex' Appartement lag. "Ich glaube, wir sollten gehen. Es sei denn, du möchtest hier noch länger herumstehen." Ich streckte mich. Auf Vanessas Vorschlag hin hatten wir es immerhin zwei Stunden im Treppenhaus ausgehalten. Es regnete, wodurch unser Posten vom letzten Mal nicht für die Observation in Frage kam.
Ich hatte bereits gefühlte hundert Mal meinen Briefkasten aufgeschlossen und wichtig darin herumgewühlt, sobald sich die Eingangstür öffnete und einer der anderen Bewohner das Haus betrat.
"Mir reicht es für heute", sagte Vanessa und gähnte. "Außerdem kommt er garantiert erst, wenn ich weg bin. Es ärgert mich immer noch, ihn das letzte Mal so knapp verpasst zu haben."
"Das war Pech."
"Was lief an dem Abend eigentlich noch? Seid ihr etwas trinken gegangen oder habt ihr euch wenigstens unterhalten?"
"Wir haben 'Hallo' gesagt." Ich merkte, wie ich rot wurde. Wenn ich ehrlich war, ärgerte ich mich, Lex' Angebot nicht angenommen zu haben. Das bedeutete nicht, dass ich gleich mit ihm im Bett gelandet wäre.
"Raus damit. Irgendetwas ist passiert."
"Er hat mich auf einen Kaffee eingeladen, aber ich habe abgesagt", gab ich zu.
"Warum?"
"Weil ich gespürt habe, dass er mit mir ins Bett will", murmelte ich.
"Na und? Was ist falsch daran? Außerdem musst du nichts tun, was du nicht willst."
"Ich weiß, ich ärgere mich auch darüber."
"Vielleicht war das gar nicht so schlecht. Es ist besser, er merkt, dass du nicht so einfach zu haben bist."
"Ja, oder er redet nie wieder mit mir."
"Dann wollte er ohnehin nur Sex. Und du willst mehr, oder?"
"Ich weiß es nicht. Komm, lass uns nach oben gehen und einen Kaffee trinken. Das hier bringt sowieso nichts."
"Na gut, aber dann muss ich gehen. Ich will deine Chancen auf ein weiteres Treffen nicht ruinieren."
"Wie funktioniert das?", fragte Vanessa, als wir mit zwei Tassen Kaffee versorgt an meinem Küchentisch saßen. "Du hast gesagt, du spürst die Absicht hinter den Worten. Oder in Lex' Fall wusstest du, worauf er mit seiner Einladung wirklich hinauswollte."
"Es fühlt sich manchmal an, als würde ein sanfter Windstoß die Gefühle anderer Menschen zu mir wehen. Es gibt aber auch Momente, da weiß ich genau, was der andere will oder was er vor mir verbirgt, ohne zu wissen, woher diese Gewissheit kommt."
"Klingt spannend."
"Ja, aber es kann auch sehr nervend sein. Wenn ich mich an Orten mit vielen Menschen aufhalte, zum Beispiel in der U-Bahn oder auf einem Konzert, zieht es mir fast den Boden unter den Füßen weg, weil so vieles auf mich einstürmt. Wenn ich mich vorher nicht darauf einstelle und gedanklich schütze, wird es unangenehm."
"Cool!"
"Was ist daran cool?"
"Hey, du spürst, was andere fühlen. Du kannst mit deinen Karten in die Zukunft schauen. Wir normalen Menschen müssen uns so durchs Leben schlagen. Ich weiß nie, ob ein Mann nur Sex haben will oder der Reichtum meiner Eltern ihn lockt."
"Auch wieder wahr."
"Sag ich doch. Du hast es leicht."
"Nicht immer. Wenn meine eigenen Gefühle zu stark sind, verliere ich meine Fähigkeiten. Dann ist alles nur noch ein einziges Chaos."
"Dann empfindest du nichts für Lex?"
"Ich kenne ihn nicht richtig." Ich stand auf und werkelte in der Küche, um Vanessas prüfendem Blick zu entgehen.
"Du hast Angst, dich getäuscht zu haben", rief sie triumphierend.
Meine neue Freundin war intuitiver, als sie zugeben wollte.
"Ich bin mir ziemlich sicher, gespürt zu haben, was er wollte", erwiderte ich steif.
"Bist du nicht. Und jetzt ärgerst du dich darüber, ihm abgesagt zu haben."
"Willst du nicht an meiner Stelle die Karten legen?" Ich setzte mich wieder. "Du kannst das besser als ich."
"Kann ich nicht, aber du bist ein offenes Buch. Fang bloß nie mit Pokerspielen an."